Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen

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Inge, April und Mai

Am dreißigsten März habe ich Inge Kaliska geküßt, ihre Lippen schmeckten nach einem fremden Salz. Ich hatte sie am Ende eines Ringkampfes auf den Parkweg gelegt, hockte über ihr, beugte mich nach vorn und dachte, ich müßte sie festhalten, aber sie wehrte sich nicht. Dann standen wir auf, sie klopfte den Sand von ihrem laubfroschgrünen Mantel und kicherte und streifte Gerdchen Pachähl mit einem Blick, meinen Freund Gerdchen, der sie vor mir hatte küssen wollen. Ich legte den Arm um sie und führte sie weg, und daß sie sich ein bißchen ziehen ließ und über die Schulter zurücksah und noch immer kicherte, hatte nichts zu bedeuten. Hinter uns kreischte Uschi Nitzelbach, weil sie wieder mit dem Kopf auf die Bank gestellt wurde, die Beine hoch, die Beine fest geschlossen. Mit glucksender Stimme teilte sie mit, daß sie unter dem Rock, der ihr über die Augen fiel, nichts sehen könne. Wir aber gingen davon, aneinandergedrückt in ungleichem Schritt, mein rechter Schenkel an Inge Kaliskas linkem. Schließlich blieben wir stehen, und ich drehte sie an der Schulter zu mir herum. Sie wandte die Augen nicht ab, aus denen ein Lächeln langsam verschwand; wir waren uns fremd und vertraut. Unser zweiter Kuß war zart, und unsere Nasen störten sich nicht, wie ich befürchtet hatte. Unser zweiter Kuß dauerte unglaublich lange, und in seinem Verlauf öffnete Inge Kaliska die Lippen, erst wenig und dann immer weiter, unsere Zungen berührten sich, unsere Zähne stießen aneinander, und ich dachte überwältigt: So also wird es gemacht. Das war anders, als die Kinoküsse aussahen, und eine meiner Ahnungen war schlagend bestätigt: Im Film ist das wahre Leben nicht zu sehen, jedenfalls nicht in Filmen unter achtzehn.

Aber noch erstaunlicher war vielleicht, daß sie, als wir über die leere, verdunkelte Bismarckstraße gingen, nach meiner Hand griff, nicht ich nach ihrer, nein. So gingen wir den ganzen Weg bis in die Laubenkolonie »Süßer Grund«, wir schwiegen, weil unsere Finger miteinander redeten. Nur einmal, als wir am Markt um die Litfaßsäule herum wollten – ich zog nach links und sie nach rechts –, ließen wir uns los. Am Bretterzaun des Fußballplatzes blieben wir stehen; denn bis vor ihre Tür wollte sie mich nicht mitnehmen. An ihrem Mantel steckte ein schwalbenförmiges Leuchtabzeichen, ihr Kleid hatte einen geschlossenen weißen Kragen, sie trug eine Haarklemme über der Stirn. Das alles erschien mir sehr schön. Ich fragte: »Wollen wir zusammen gehen?« Sie schwieg, und ich spürte verwundert, daß ich ein Herz hatte, als ich weiterfragte: »Oder willst du lieber mit Gerdchen gehen? Oder mit Äffchen Lehmann?«

»Hör mal, der ...«, sagte sie. Ich wollte sie wieder küssen, aber sie drehte das Gesicht weg. Dann sagte sie: »Das Entscheidende ist, glaube ich, daß man sich treu ist.«

»Klar«, sagte ich ergriffen, ohne zu zögern, »das ist natürlich das Entscheidende.«

Auf der anderen Seite der ungepflasterten Straße rief eine Männerstimme den Namen Inge. Der Mond schien, doch der Bretterzaun warf einen Schatten. Wir waren still, bis die Stimme noch einmal gerufen hatte und ein eigentümlich tappender Schritt sich entfernte.

»Er hat ein Bein verloren«, sagte Inge Kaliska. »In Jugoslawien.«

»Ach so«, sagte ich.

Weiter war nichts. Wir gaben uns förmlich die Hand. Sie ging und sah sich nicht um. Ich stand noch eine Weile da und stellte mir vor, wie sie in die Stube treten würde. Die Stube, nahm ich an, war klein, eine trauliche Lampe hing über dem Tisch, die Mutter und der einbeinige Vater saßen beim Abendbrot, und ich konnte nicht anders, ich hielt sie für freundliche Leute.

Endlich trabte ich los, quer durch die Lauben, in einer von ihnen, Karsteiner Weg 4, hatte mein Mitschüler Buzahn gewohnt. Wie ich so lief, linker Fuß, rechter Fuß, tanzte sein Gesicht vor mir, sommersprossig, mit einem grünen und einem braunen Auge. Wirklich, er hatte verschiedenfarbige Augen und war der einzige Mensch in der Art, den ich je gesehen habe. Er hatte auch ein Buch über Jiu-Jitsu, und wenn er einem den Arm auf den Rücken drehen wollte, konnte man wenig dagegen machen. In einer Augustnacht mitten im Krieg fielen vier Bomben in unsere Gegend, in ziemlich gerader Reihe, und die letzte fiel genau in den Splittergraben der Kolonie »Süßer Grund«, um den ich Buzahn immer beneidet hatte, weil er militärischer aussah als unser langweiliger Luftschutzkeller. Ich war gerade zu Besuch bei meiner Tante Johanna in Pommern, und als ich wiederkam, war Buzahn nicht mehr da, sondern lag mit neun anderen Leuten auf dem Friedhof unter einer Holztafel, auf der auch die Namen seiner Mutter und seiner Schwester standen. Da lag er, und da vergaßen wir ihn. Jetzt schien es mir unendlich lange her zu sein, daß es ihn und seine merkwürdigen Augen gegeben hatte.

Jetzt sammelten selbst Sechsjährige keine Bombensplitter mehr. Wir spielten nicht mehr Soldat, sondern Grammophon. Daß die Welt kopfstand, war eine alte Sache. Aber daß wir Uschi Nitzelbach auf den Kopf stellten, war ein Ereignis von neuer, einschneidender Bedeutung. Das heißt, ich selbst hatte auch das schon hinter mir. Ich wußte jetzt, daß ich auf eine tiefere Art und vermutlich für immer Inge Kaliska liebte, deren Lippen fremd und salzig schmeckten. Während ich nach Hause rannte, durch die hohen Tonbogen des Voralarms, selbst noch, als ich durch die kürzeren Wellen des Vollalarms hinab in unseren Keller tauchte, vor die vorwurfsvollen Augen meiner Mutter, schmeckte ich es nach.

Früher mußte ich rein, wenn die Laternen angingen. Jetzt erst, wenn die Leuchtbomben fielen, strahlend, langsam und lautlos, an einer zerfransenden Schnur aus hellem Rauch. Ich kam aus dem Park, der schmal zwischen Hinterhäusern lag, ein Buddelplatz, ein Rechteck Rasen, ein paar Pappeln und Gesträuch. Oder ich kam aus dem Kino »Central«, das nach Bohnerwachs roch. Sechsmal sah ich, wie ein preußischer Major, der die Gnade seines Königs verloren hatte, den Tod nicht achtend, einen Stollen unter die Österreicher trieb, doch immer, wenn die schwarzbärtigen Kroaten und Panduren hochgeblasen werden sollten, wodurch der König erkannt hätte, was er in dem Major für einen Mann hatte, immer, wenn es gerade soweit war, fiel in der Vorführkabine vernehmlich eine eiserne Klappe, die Leinwand verdunkelte sich, der Ton verendete jaulend, ein Seufzen der Enttäuschung ging durch das halbleere Kino, die Holzsitze klappten einer nach dem anderen hoch, und von draußen hörte man den auf- und abschwellenden Chor der Sirenen.

Später, nachdem sie ein langes, gleichmäßiges Geheul ausgestoßen hatten, und irgendwo sah man den Widerschein von Bränden, fanden sich die Leute, die was auf sich hielten, wieder im Park ein. Wenn seine Mutter in der Teerfabrik Spätschicht hatte, auch mein Freund Gerdchen. Auch Uschi Nitzelbach, wenn die Berichte stimmten. Was dann geschah, während alle Zigaretten rauchten, und Äffchen Lehmann sogar Zigarren, und während Äffchen Lehmanns Grammophon »Hallo, Mc-Brown, was macht Ihr Harem?« spielte, was dann zwischen Büschen und Bänken geschah, stellte, wenn die Berichte wiederum stimmten, die Veranstaltungen des frühen Abends, die sich vor allem auf Uschi Nitzelbachs Kopfstand stützten, bei weitem in den Schatten.

Leider fehlte ich dabei. Meine sanfte, stille Mutter war in diesem Punkt von eiserner Härte. Sie brachte eine Menge Dinge vor, die von ihrem Unverständnis zeugten, und regte mich zusätzlich an, mir vorzustellen, was mein ferner Vater zu mir sagen würde.

Ich kroch gekränkt ins Bett und stellte mir lieber etwas anderes vor. Manchmal dachte ich an meine schöne Tante Johanna, die ich nackt gesehen hatte, in den Ferien bei ihr, Sonntag früh in der Küche. Da stand sie und trank Wasser aus der Schöpfkelle. Sie behielt die Ruhe, sah mich seltsam an und sagte: »Dummer Bengel, was machst du hier?« Und ich kehrte verstört um und verschwand wieder in meiner Kammer. Meine Tante war Verkäuferin und mit einem berittenen Artilleristen verheiratet, der auf dem Hochzeitsbild einen langen Säbel trug. Jetzt hatten wir lange nichts mehr von ihr gehört, und meine Mutter hatte Tränen in den Augen, wenn sie von ihr sprach, denn in Pommern waren schon die Russen.

Manchmal dachte ich auch an Heini Panzlaus Schwester, die eine Zeitlang mein Einschlafen in die Länge zog, und ich glaube, nicht nur meins. Denn Heini hatte uns versprochen, daß sie uns etwas zeigen würde, das die meisten von uns, obgleich wir das nicht so ausdrückten, in dem Frühling damals dringlicher sehen wollten als beispielsweise den Führer.

Natürlich wollten wir erst nicht glauben, daß sie es wirklich tun würde, weil sie schon sechzehn war und sich mit uns nicht abgab. Aber Heini erklärte großzügig: »Sie macht es. Wenn ich es ihr sage, macht sie es.«

Eine Woche oder länger versammelten wir uns, wenn es dunkel wurde, auf Heinis Hof und warteten.

»Macht sie es heute?« fragten wir.

»Bestimmt, heut macht sie es.«

»Geh rein und hol sie.«

»Sie kommt auch so.«

»Geh lieber rein.«

Er kam wieder und sagte: »Sie ißt noch.« Wir warteten weiter.

»Wo bleibt sie denn?«

»Sie wird schon kommen.«

»Geh noch mal rein.«

Er kam abermals wieder. »Jetzt badet sie.«

»Und dann kommt sie raus?«

»Möglich«, sagte Heini unbestimmt.

»Was heißt denn möglich? Hast du ihr überhaupt gesagt, worum es sich handelt?«

»Na klar habe ich das«, schrie Heini beleidigt, aber er wurde von Tag zu Tag kleinlauter, und am Ende erwies er sich als völliger Versager. Doch zum Glück wurde ich mächtig abgelenkt von dem Problem mit Panzlaus Schwester. Ich hatte Inge Kaliska geküßt, und alles war anders.

Ich machte im Bett die Augen zu und sah mich an ihrer Seite die Bismarckstraße entlangschlendern; wer mich traf, hatte Staunen und Neid im Blick. Ich malte mir aus, wie wir im Kino Platz nahmen, letzte Reihe, wenn das Licht ausging, legte ich den Arm um Inge Kaliskas Schulter. Im Freibad »Neptun« lagen wir auf dem Bild, das ich von uns entwarf, auf einer Decke und spielten nicht Einkriegezeck, sondern sonnten uns träge wie die Großen. Selbst der hausgemachte Kartoffelsalat im Marmeladenglas, den meine sorgende Mutter unter dem Motto »Kartoffelsalat bleibt kühl« meinem bisherigen Badeleben unerbittlich beigeordnet hatte, erschien mir, künftig mit Inge Kaliska genossen, durchaus bekömmlich. So plante ich unser Zusammenleben bis Juni oder Juli voraus und kam fast davon ab, an Großdeutschland zu denken, um das es in diesem April schlecht stand, schlechter als je. Aber indem ich wuchs, im Ganzen und in Teilen, und überall erstaunlich in die Länge, entwuchs ich unmerklich der Schicksalsgemeinschaft der Germanen, der ich mich kindlich hingegeben hatte, ausgerüstet mit einem Schuhkarton Elastolin-Soldaten, umsponnen von der Nibelungen Not und dem Geruch von Uhu-Alleskleber, mit dessen Hilfe ich Papierflugzeuge baute.

 

Unmerklich sage ich, weil ich nicht weiß, ob mein Abschied den Frühling lang dauerte oder nur den feuchten, schummrigen Abend lang, an dem ich Inge Kaliska küßte.

Ich weiß nicht einmal, ob es ein Abschied war oder nur eine ziemliche Ratlosigkeit, in die der Studienrat Sehl vergebens hineinsprach, als er uns seine Eindrücke vom ersten Krieg vermittelte, in dem er in Flandern gefochten hatte. Zweimal die Woche saßen wir zu fünft in der Klasse, kümmerlicher Rest der nach Böhmen verlagerten Schule, und holten uns Hausaufgaben ab. Gegen die fünffache Übermacht unserer Unlust eroberte Sehl an Cäsars Seite Gallien, das in seiner Gesamtheit in drei Teile zerfiel, und hielt auch den Londoner Victoria- Bahnhof besetzt, auf dem wir mit dem Zug von Dover kommend eintrafen, um uns in der Landessprache nach verschiedenen Sachen zu erkundigen.

Doch dringlicherer Lehrstoff stand im Lokalanzeiger. Blinder Mut schade nur, sagte uns Sehl dazu einleitend, aber eine gesunde Tapferkeit sei gerade jetzt vonnöten. Er war ein früher rundlicher, jetzt magerer Mann, in zu weit gewordenen Hosen sprach er über unseren eng gewordenen Verteidigungsraum. Er hielt die Zeitung ausgestreckt vor sich und las die Gebrauchsanweisung für die Panzerfaust vor. Aus eigenem taktischem Verständnis setzte er einen Kernsatz hinzu: »Aufgemerkt! Immer hinter die Barrikade stellen! Niemals vor die Barrikade! Und den Blick immer zum Feind!«

Und während er uns belehrte, roch sein übersäuerter Magen enorm und nicht nur feindwärts vor ihm her.

Die Befestigung, die er in unserem Fall meinte, aus zersägten Eisenbahnschienen, Brettern und Schutt, sperrte die Straße vor unserem Vorortbahnhof, nur in der Mitte war noch eine schmale Durchfahrt. Ich stand künftig häufig dort, aber weder davor noch dahinter und nicht, um Dr. Sehls Grundregel des Barrikadenkampfes zu üben, sondern um auf Inge Kaliska zu warten, die in Neukölln bei einem Optiker lernte.

Der Studienrat Sehl, der im Nahkampf kraft seines Atems kaum überwindbar gewesen wäre, ließ uns in dem April, in dem wir fünf in seine Klasse versprengt waren, korrekt nach Lehrplan einen Aufsatz schreiben, der hieß: »Welche Waffengattung ist mir die liebste?« Wir hatten uns diesem Thema in jedem Kriegsjahr gewidmet. Anfangs nannte ich die Reiter wegen des Mannes meiner Tante Johanna, dann war ich für lange Zeit zu den Fliegern gewechselt, bis sie allmählich vom Himmel verschwanden, jedenfalls die deutschen. Aber jetzt weigerte ich mich, meine inzwischen auf die Seefahrt gerichteten Sympathien in Sehls Rundfrage zu offenbaren, die mir anrüchig erschien, weil man in klaren Nächten von der Oder her schon die Kanonen hörte. Stattdessen nannte ich infolge meiner Liebe zu Mauleseln und Edelweiß heuchlerisch die Gebirgsjäger, und Dr. Sehl erläuterte mir ergänzend, daß Gebirgsjäger vorwiegend im Gebirge eingesetzt würden, wenn auch nicht immer. Und daß er nicht dahinterkam, wie wenig mich die Gebirgsjäger kümmerten, verwunderte mich nicht so wie die Entdeckung, daß man sich mit den bewährten vaterländischen Redewendungen, die in meinem Aufsatz vorkamen, einen Spaß machen konnte. Vielleicht wäre ich darüber nicht so glatt hinweggekommen, wenn ich nicht Inge Kaliska geküßt hätte, am dreißigsten März, und ihre Lippen schmeckten fremd und salzig.

Den Tag danach schwänzte Gerdchen Pachähl die Berufsschule. Mit langen Beinen lagen wir in seinen elterlichen Sesseln. Seine Mutter arbeitete in der Teerfabrik im Büro. Wir löffelten aus Tassen eine Soße aus Mehl, Wasser und Zucker, den wir aus einer Tüte nahmen, die im Kleiderschrank versteckt war.

»Hast du sie angefaßt?« fragte er.

»Na ja.«

»Und wie?«

»Na wie schon«, sagte ich unsicher.

»Ich meine richtig.«

»Natürlich richtig.«

Er blickte unbefriedigt, und wir gaben uns wie Männer, die Bescheid wissen, und redeten über Einmanntorpedos, bis Äffchen Lehmann kam, der einen Siegelring hatte und einen mit Wasser gekämmten Mittelscheitel und der überhaupt ein Frauentyp war, nur seine Ohren standen mörderisch ab.

»Erzähl mal«, sagte er mit seiner heiseren Stimmbruchstimme.

»Was soll ich denn erzählen?«

»Das ist ein dummer Hund«, sagte Äffchen Lehmann entrüstet.

»Ich werde es schon noch erzählen.«

»Und wann?«

»Irgendwann.«

»Weil du keine Ahnung hast.«

»Vielleicht hast du keine Ahnung.«

Äffchen Lehmann lachte eitel und holte eine blanke kleine Blechschachtel aus der Tasche, die leicht wog, ich wußte es, und wiederum schwer. Der Ort nämlich, an dem man sie erwerben konnte, innerhalb des Bahnhofs, roch nach salziger Männlichkeit. An gekachelter Wand hing ein Automat mit einer Aufschrift, deren Sinn mir nicht völlig aufging. Ein Halbbogen über Geldschlitz, Zugknopf und Schachtelausstoßloch ermahnte jeglichen Mann, seine Gesundheit zu schützen. Äffchen Lehmann warf mir die Schachtel über den Tisch hinweg zu, und ich fing sie auf. Er sagte: »Ich habe noch zwei.« Ich ärgerte mich, daß er so angab.

»Wetten, er braucht so was nicht«, sagte er zu Gerdchen Pachähl. Und ich sagte: »Das werdet ihr schon sehen.«

Am dreißigsten März hatte ich Inge Kaliska geküßt, erstmals, nun küßte ich sie öfter. Wenn ich sie von der Bahn abholte, wenn es nicht regnete, gingen wir zur Kanalböschung, wo wir ungesehen im Gras sitzen konnten, das feucht war und nach Frühling roch. Neunmal waren wir da, ich weiß es genau. Wir hatten ein Zeremoniell. Sie setzte sich und schlang die Arme um die angezogenen Knie, dabei hielt sie ihre Tasche in den Händen, eine Schultasche mit abgeschnittenen Riemen und einem neuen Griff. Ihre Haltung war reserviert und wirkte auf mich entmutigend. Ich setzte mich zu ihr und verschränkte die Arme auf ähnliche Weise. Wir blickten über den Kanal auf das Gelände der Eternitfabrik. Ich sagte etwas Belangloses, worauf sie eine belanglose Antwort gab, und diese Art von Sprechen ohne Sinn kam mir unglaublich erwachsen vor. Dann lehnte ich mich zurück und stützte mich auf die Ellenbogen und deutete so an, daß man sich auch hinlegen könne, Platz genug wäre da. Inge Kaliska blieb sitzen. Ich bewegte unruhig die Beine. Sie sah mich nicht an. Ich richtete mich auf und nahm ihr sanft die Tasche weg, die sie mir leicht, wenn auch jedesmal neu erstaunt, überließ. Jetzt kehrte sie mir auch das Gesicht zu. Ihre Augen waren immer prüfend. Weil ich ihrem Blick nicht standhielt, rieb ich mein Gesicht an ihrer Schulter. Ich traute mich nicht, sie gleich auf den Mund zu küssen und begann ziemlich vorsichtig am Hals. Nach einer Weile drehte sie sich heftig zu mir, schlang die Arme um mich, jetzt fielen wir doch nach hinten, hielten uns fest, ließen unsere Münder lange nicht voneinander, kamen gemeinsam außer Atem, und in der Hosentasche drückte mich Äffchen Lehmanns Schachtel. Über Rücken und Hüfte abwärts schummelte ich meine Hand zu Inge Kaliskas Rocksaum und tastete mich an der Naht ihrer hautwarmen Seidenstrümpfe aufwärts, bis sie mich erschrocken festhielt. »Ich liebe dich«, sagte ich zitternd. Der ungewohnte Satz ging leicht heraus, Inge Kaliska lächelte mit geschlossenen Augen, ich strich ihr über das Haar mit der Klemme, sie richtete sich auf und sagte: »Los, ich muß gehen.« Wir standen auf, sie sagte: »Mann, bin ich dreckig«, ich klopfte ihr den Mantel ab und hob ihre Tasche auf, der Nebel stieg aus dem Kanal, der Aprilhimmel wurde im Osten matt und im Westen rosa, und wir gingen, langsam, langsam, auf der Böschung entlang, über die Wiese, über die Straßenbahnschienen, bis zu den Lauben.

Beim neunten Mal, als wir in der Nähe von Inge Kaliskas Zaun noch ein bißchen herumstanden, kam uns, tapp, tapp, die Straße entlang, ihr Vater in den Rücken. Er bemerkte mich. Mein Blick mag verlegen gewesen sein, aber er war freundlich. Sein Auge dagegen ging gleichgültig über mich hinweg. Er humpelte, ledern knarrend, vorbei und forderte seine Tochter auf, von der Straße zu kommen, dem Wort Straße gab er einen abfälligen Klang. Inge Kaliska folgte ihm rasch. Wegen meiner Liebe zu ihr fragte ich mich betroffen, ob an mir irgendwas nachteilig wirken konnte. Mir fiel nichts ein, weil ich haargenau so aussah wie andere auch, haargenau ist das richtige Wort, denn lang, von Gerdchen Pachähl zurückhaltend gestutzt, fiel mein Haar auf meinen Zellstoffkragen, den ich hochgeschlagen trug, wie auch das Wetter war. Kein Mensch traute mehr den Friseuren, sie schnitten einem die Haare, als ob der Krieg noch an der Wolga stattfand. Man bestellte Fasson, und wenn man wieder an die Sonne trat, leuchtete die Kopfhaut soldatisch weiß über den schamroten Ohren. Mein Haar also fiel lang nach hinten, und mein Gesicht drückte nichts Besonderes aus, wenn ich auch manchmal vor dem Spiegel eine mokante Stirnfalte übte.

Doch Inge Kaliska mußte jetzt vom Bahnhof immer gleich nach Hause. Das Abendrot hinter der Eternitfabrik leuchtete uns nicht länger in der Mulde, die wir schon in das Gras gelegen hatten. Nur einmal noch, an einem Sonntagnachmittag, gingen wir da vorbei, Inge Kaliska aber hatte einen besonderen Rock an, aus vier Sorten Wolle, und wollte sich nicht hinsetzen. Möglich, dachte ich damals, daß ich einfach nicht der Typ dieses einbeinigen Vaters war, nicht der, den er sich als Umgang für seine Tochter wünschte. Andererseits fand ich es ziemlich kleinlich, daß er in so unsicheren Zeiten auf eine ganz bestimmte Sorte Umgang für seine Tochter aus war. Ich entzog ihm allmählich meine Sympathie. Dennoch hätte ich gern von ihm erfahren, warum wir den Krieg im letzten Moment noch gewinnen würden. Inge Kaliska sagte, daß er es genau wüßte. Aber Einzelheiten teilte er, weil es geheim war, nicht mit. Ich zweifelte, und Inge Kaliska war böse: Ihr Vater war Oberfeldwebel gewesen. »Na und«, sagte ich höhnisch und fühlte mich nicht gut, weil ich damit den Mann meiner Tante Johanna verriet, den Mann mit dem Säbel auf dem Hochzeitsbild, der nur Feldwebel war.

Eigentlich wollte ich nur irgendwie überlegen tun, weil ich fürchtete, ich könnte Inge Kaliska langweilen. Wir standen an ihrer Gartentür, die abgeriegelt war, sie drinnen, ich draußen. Wir schoben den Riegel hin und her, ich machte ihn auf, sie machte ihn zu. Manchmal sprachen wir zehn Minuten lang kein Wort. Ich grübelte krampfhaft, damit mir ein bedeutender Gedanke käme. Es lag, glaube ich, daran, daß ich nicht wußte, was Mädchen überhaupt interessierte. Und nur, weil mir nichts anderes einfiel, zweifelte ich laut an der Geheimwaffe oder ärgerte Inge Kaliska damit, daß sie nicht raus durfte.

»Was soll ich denn draußen?« sagte sie und zog die Mundwinkel nach unten. »Mit dir rumstehen? Oder mit Äffchen Lehmann?«

»Wieso denn mit dem?« fragte ich argwöhnisch.

Im Hintergrund huschte die Mutter um das Haus, und ich sah zwei alte Leute, die Großeltern. Den Vater nicht, was mir recht war. Um diese Stunde hörte er Radio und trug die Frontlinien auf einer Karte ein. Ich aber preßte meine Lippen auf Inge Kaliskas Mund und paßte auf, wer von uns zuerst die Augen zumachte: ehrlich, das war sie. Den Kopf mußte sie geradehalten, damit man vom Haus her nichts sah. Bis zur Brust trennten uns grüne Staketen, die wir mit den Händen umgriffen. Auf dem Rückweg übte ich Dauerlauf. Manchmal heulten die Sirenen. Ich stellte mir vor, daß Inge Kaliskas Haus getroffen würde und brannte, und sah mich mit Umsicht beim Löschen, und die Familie dankte mir, auch dieser einbeinige Vater. Aber das Haus fing nicht annähernd so Feuer wie ich, und so mußte ich mich darauf beschränken, Inge Kaliska einen Weißkohlkopf zu schenken, den ich mit Bubi Trebes vom Markt gestohlen hatte, als Mutprobe. Ich wartete am Bahnhof damit, sie nahm ihn verwundert. Ich glaube aber, daß ihre Leute ihn gefressen haben, ohne daß von mir geredet wurde.

 

Etwas Komisches geschah, seltsam und unglaubhaft, wenn ich bedenke, wie sehr ich Inge Kaliska liebte. Vor dem Einschlafen, wenn ich an ihr Gesicht dachte oder wie sie über die Straße kam, mit ziemlich langen Schritten, die Füße etwas nach außen, fühlte ich ein Prickeln am Körper, es half nur, wenn ich mit den Beinen strampelte. Ich konnte nicht verstehen, daß andere mit anderen Mädchen herumliefen, die völlig anders aussahen. Und doch geschah etwas Seltsames: An manchen Tagen vergaß ich Inge Kaliska. Ich meine nicht, daß ich gerade mal nicht an sie dachte. Ich vergaß sie. Sie verschwand aus meinen Sinnen, und mit ihr schwand jedes Interesse an der Sorte Mensch, die auf die andere Toilette ging. Eine helle Kindersonne schien. Ich spielte mit Bubi Trebes Fußball. In den Zickzackgräben auf der anderen Seite des Kanals bewarfen wir uns mit Grasplatten. Wir ließen zwei nichtgezündete Brandbomben von der Brücke auf die Kanalufersteine fallen, und als sie mit grünlicher Glut zu zischen begannen, rannten wir weg. Ich nehme an, daß ich damals, mittags im April, wenn ich an Inge Kaliska nicht dachte, einfach ein Jahr zurückgerutscht bin, so auf zwölfeinhalb oder noch weiter. Bubi Trebes war mein Tagesfreund, und Gerdchen Pachähl war mein Abendfreund.

Die Grenze zwischen Tag und Abend zog sich durch Prochnows mit Pappfenstern vernagelte Kneipe. Da gab es einen belgischen Kellner mit Koteletten. Wir sagten du zu ihm und hauptsächlich seinetwegen hockten wir da an vielen Nachmittagen und aßen Wassersuppe, den Teller für eine Mark. Gerdchen Pachähl kam aus Schöneweide von der Arbeit, mit Aktentasche und Stullenbüchse seines Vaters, und hatte gehört, daß es am Moritzplatz die Clique Edelweiß gäbe. In diesem Umstand, über den wir Näheres nicht erfuhren, steckte ein gewaltiger Zauber, ebenso wie in McBrowns Harem, der auf Äffchen Lehmanns Schallplatte vorkam, vielleicht, weil es Nachrichten waren aus einer nichtkriegerischen Welt. Was den Krieg betraf, so konnten wir uns nie endgültig einigen, ob die Wunderwaffe noch kommen würde oder nicht. Aber unseren Gesprächen darüber fehlte die Leidenschaft, die den Fähnleinführer Kruse noch erfüllte, der mit wichtiger Miene eine umgeschnallte Pistole spazierentrug. Doch möglicherweise mangelte es auch ihm an Zuversicht, denn als Gerdchen Pachähl »Pflaumenkruse« hinter ihm herrief, weil sein Vater auf dem Markt einen Obststand hatte, sah er sich trotz seiner Handfeuerwaffe nicht um.

Ein ärmlicher Volkssturm marschierte zum Sportplatz, Zivilhosen, Militärkoppel, drei Panzerfäuste zum Üben, Bubi Trebes, den Fußball unter dem Arm, zog ab nach Hause. Gerdchen Pachähl ging in den Park zu Grammophonmusik und der gemeinsamen Uschi Nitzelbach. Ich ertrug seinen neidischen Spott darüber, daß ich mich wegen eines Mädchens, das hinter dem Zaun stand, von ihm trennte. Um diese Stunde stiegen in England die Flugzeuge vom Typ Moskito auf, aber ich schickte ihnen keinen Gedanken entgegen. An den Mauern klebten bedrohliche Plakate, schlitzäugige Gesichter mit fremdartigen Kappen, hinter ihnen flammte der Horizont. Es roch nach feuchter Erde, nach Rauch von weit her, nach frühen Blüten. Niemals, solange ich atmete, hatte es so gerochen. So roch es jeden Abend, den halben April.

Mittags flogen manchmal mattsilberne Bomber über uns weg. Wir verkrochen uns, spürten von der Stadt her das Beben des Bodens und kamen wieder heraus. Mit sachlicher Neugier, mit dem Auge des Sportzuschauers sah ich den Jäger wie ein schnelleres Insekt. Sehr nah pochten Maschinenwaffen, ein Flügel taumelte erdwärts, vier Fallschirme trieben. Später liefen wir hin, Bubi Trebes und ich, um den toten Flieger zu sehen, den sie auf einer Schubkarre brachten. Ein Polizist zog die Decke von ihm, durchsuchte die Brusttaschen und sagte, es sei ein Kanadier. Leute standen herum. Ich starrte lange in das fremde, friedliche Gesicht, als könnte dort eine Antwort sein auf die Frage, die ich nicht genau wußte.

Das war erst der zweite Tote, vor dem ich so dicht stand, daß ich ihn hätte anfassen können. Der erste war Dieter Schünemanns kleiner Bruder. Das hatte nichts mit dem Krieg zu tun oder nur insofern, als es an dem Tag, an dem er ertrank, ukrainische Wassermelonen auf dem Markt gab, süße Früchte des Vormarsches, mit hellrotem Fleisch und klebrigem Saft. Und als er gefunden worden war, im flachen Wasser, wo man zuletzt suchte, und man ihn auf den Kopf stellte, da kam dieser Melonenbrei aus ihm heraus, und jemand sagte: »Vielleicht hat er zuviel davon gefressen.« Und ich weinte mit, als ich sah, wie Dieter Schünemann weinte, das Gesicht im Sand versteckt, bis ihn der Bademeister nach Hause brachte.

Mein dritter Toter lag neben den Straßenbahnschienen. Ich ging auf Zehenspitzen um ihn herum. Er lag auf dem Bauch, um die Schulter den Riemen einer Tasche, die nicht mehr da war, sein Gesicht war heil und schlecht rasiert, und seine offenen Augen blickten nachdenklich in den nahen Sand.

Aber da hatte ich schon das letzte Wort mit Gerdchen Pachähl gesprochen, ich wußte es nur noch nicht. Unter den Kastanien in unserer Straße hielt eine SS-Kolonne, Letten mit bayrischen Offizieren. Sie tauschten Nudeln gegen Brennholz, bedrückt aussehende Männer, ehe sie ihre Suppe warm hatten, fuhren sie weiter. Am Markt vorbei, stadteinwärts tobten Autos, Pferdewagen, Leute zu Fuß, die Uniformen, die Haut, die Blicke, alles grau in grau. Über den Lärm von Rädern, Hufen, Motoren und Stimmen spannte sich unablässig ein schweres, nicht mehr fernes Dröhnen.

Japsend rannte ich in die Lauben und tat, was ich nie gewagt hatte: Ich klingelte. Niemand zeigte sich. Ich klingelte wieder, und Inge Kaliska kam heraus, Trainingshosen unter dem Mantel, einen Schal um den Hals, angezogen wie für eine Winterreise, kam den akkuraten Plattenweg entlang bis in den Duft des blühenden Forsythienstrauches am Zaun.

»Was willst du denn?« fragte sie verstört.

»Ich wollte nur noch mal vorbeikommen.«

»Mußt du denn nicht zu Hause sein?«

»Doch.«

Ich streichelte ihre Hand, die auf dem Zaun lag, streichelte sie am hellen Tag, kein Vater ließ sich sehen, und ich empfand eine unbestimmte Genugtuung: Für seine Frontlinien brauchte er nur noch den Stadtplan.

»Wenn was passiert, kannst du zu uns kommen«, sagte ich.

»Ja.«

»Du weißt wo?«

»Ja.«

»Hast du Angst?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich weiß auch nicht«, sagte ich.

Wir stupsten unsere Gesichter aneinander, und ich lief wieder los, ein schärferes und näheres Schießen sprang gegen den Himmel, ich sah den Mann neben den Schienen liegen und nur noch wenige Leute, die sich in den plötzlich öden Straßen an die Wände drückten. Zu Hause war schon alles in den Keller gezogen. Mein Platz war auf einer Matratze, zwischen meiner Mutter und meiner Tante Liesbeth, einer von ihren sechs Schwestern, die mit zwei Koffern und einem Deckbett aus Pommern zu uns gekommen war. Betten und Wäsche waren schon unten. Ich holte noch meine Fußballschuhe, und in den einen steckte ich Äffchen Lehmanns kleine Schachtel.

Um die Zeit ungefähr ist Gerdchen Pachähl mit einem langen Beutegewehr losmarschiert. Der Milchhändler Beyerling hat ihn gesehen und das Gewehr auch und hat einen Koffer in Empfang genommen und einen Gruß, den er später ausgerichtet hat. Den Koffer wollte Gerdchen in den Luftschutzbunker an der Teerfabrik bringen, wo seine Mutter schon auf zwei anderen Koffern saß. Auf dem Weg traf er einen Trupp Soldaten, die ihn anhielten. Der Milchhändler Beyerling sagte danach, er habe nicht wie ein Gezwungener mit ihnen gestanden. Er hätte auch unbemerkt etwas anderes ausrichten können für seine Mutter, die Frau Pachähl, als nur, sie solle nicht warten, er ginge mit.