Allgäuer Höhenrausch

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Wilfried Grätner stieg aus dem Lkw-Führerhaus und ging durch eine Stahltür in Richtung Büro, wo der Schlüsselkasten mit sämtlichen Fahrzeugschlüsseln war, um denjenigen für den Raupenbagger zu holen. Im Vorbeigehen am Sekretariat hörte er die Buchhalterin am Telefon sagen: »Moment, Herr Leibacher, der Wilfried geht gerade im Flur vorbei.« Grätner fluchte leise, weil der Polier auf der Baustelle bereits auf den Bagger wartete. Kollegin Maria winkte ihm und deutete auf den Telefonhörer, den sie ihm gleich darauf in die Hand drückte. Grätner ahnte nichts Gutes. Er setzte sich in den Bürostuhl an dem Schreibtisch gegenüber Marias Arbeitsplatz, meldete sich mit »Morgen, Alois« und vermittelte seiner Kollegin gleichzeitig mit Gestik die Bitte, ob sie ihm einen Kaffee holen würde. Maria lächelte, ging aus dem Büro und schloss die Tür. Sie war seit fast 30 Jahren in dieser Firma, wusste, dass Alois Leibacher senior und junior vom selben Schlag waren, und hatte verstanden, dass dies offenbar ein Gespräch sein würde, bei dem es mal wieder um irgendeine Geheimsache ging.

Die Stimme von Alois Leibacher klang anders als sonst. Vielleicht lag es aber auch daran, dass sein Chef vermutlich von einer Telefonzelle aus anrief. Im Hintergrund hörte er ein Motorengeräusch. Im nächsten Moment war ein zischendes Geräusch zu hören, gefolgt von Getrappel und Stimmengewirr. Offenbar stand die Telefonzelle an einer Haltestelle, wo gerade ein voll besetzter Bus gehalten hatte.

»Hör zu«, sprach Leibacher in die Hintergrundgeräusche hinein, »ich befinde mich in einer absoluten Ausnahmesituation, und das heißt kurz gesagt, dass ich mir eine neue Identität verschaffen muss. Kann das jemand mithören?« Grätner versicherte ihm, dass er allein im Büro saß und die Tür zu sei. Die Baustelle würde jetzt wohl warten müssen, wenn sich der Firmenchef offenbar gerade in einer Identitätskrise befand.

Wilfried »Bill« Grätner hörte gespannt zu. Leibacher sprach ziemlich unsortiert von einem Tunnel und von der Inszenierung eines verheerenden Unfalls. Der Unfall sollte den Anschein erwecken, dass Leibacher dabei ums Leben kommen würde, wenn der Wagen explodierte und dadurch unter Tonnen von Beton und Gestein begraben würde. Und diese Ignoranten bei der Vorarlberger Straßenbaubehörde sollten dabei endlich die Quittung dafür bekommen, dass sie ihm seit Jahren den Ausbau der Zufahrt zu seinem Ferienhaus verweigerten, obwohl er diese komplett mit Personal, Gerät und Material der eigenen Firma bauen würde.

»Alois …«

»So, und damit sind dann gleich zwei Dinge auf einen Schlag erledigt, weil erstens so ein Unfall einen zuverlässig ins Jenseits befördert …«

»Alois, jetzt mal …«

»… und zweitens dieser Tunnel für die nächste Skisaison sicher dicht ist.«

Grätner fragte sich, ob sein Chef – und zwischenzeitlich sein engster Vertrauter – noch ganz bei Trost war, verkniff sich aber diese Frage. Alois mochte ein äußerst erfolgreicher und einflussreicher Bauunternehmer sein, aber ebenso war er auch ein Spinner – besonders dann, wenn es um Rache ging. In diesem Fall »Rache« an einer bedeutenden touristischen Region gleich hinter der österreichischen Grenze, nur weil er diesen verdammten restlichen Kilometer bis zu seinem Ferienhaus nicht teeren durfte.

Er sollte sich etwas einfallen lassen, hatte er ihm soeben aufgetragen, bestimmt wüsste er dafür aus seinem Ex-Job einige gute Tricks, wie man mitten in einem sechs Kilometer langen Straßentunnel einen spektakulären Autounfall »baute« und dabei zugleich dafür sorgte, dass dieser für Wochen oder gar Monate bis zur Wiederinstandsetzung unpassierbar wäre.

»Alles machbar, Boss, aber kann es sein, dass du da eine Kleinigkeit übersehen hast?« Bill hatte sich bequem in den Bürostuhl in Marias von Grünpflanzen durchwuchertem Buchhaltungs-Reich zurückgelehnt und nutzte eine kurze Redepause aus, um in die wirr klingenden Anweisungen seines Chefs einzuhaken. Er schaukelte dabei auf dem grauen Drehstuhl hin und her, legte den Kopf in den Nacken und blickte entnervt zur Decke. In der Leitung war für wenige Sekunden Stille.

Im Montafon schob sich die Vormittagssonne über die steilen Felsgipfel und begann sogleich mit aller Kraft, einen heißen Spätsommertag anzuheizen. Alois Leibacher hatte plötzlich das Gefühl, als glühte der heiße Planet direkt über dem Blechdach der gläsernen Telefonzelle, von der aus er gerade Wilfried in ein Vorhaben einwies, das er – was er sich jedoch nicht eingestehen wollte – bisher noch nicht sonderlich gut durchdacht hatte.

»Mir ist die Sache mit dem Stausee-Projekt aus dem Ruder gelaufen.« Der mächtigste Bauunternehmer der ganzen Region zwischen Bodensee und Allgäuer Alpen wirkte mit einem Mal kleinlaut. »Ich muss untertauchen, weil irgend so ein Wichtigtuer von diesen ›Grünen‹-Heinis gemeint hat, dass er den Medien zuspielen muss, dass ich da mit dem Stromkonzern gemeinsame Sache mache. Und diese Fernsehfritzen haben das gefressen und blenden in den Nachrichten eine Rede von mir ein, wo es aber um ein ganz anderes Bauprojekt gegangen war. Die verdrehen vollkommen die Tatsachen, verstehst du?«

»Hab ich alles einigermaßen verstanden. Und auch, dass du jetzt vorhast, deinen eigenen Unfalltod zu inszenieren und dann unter einem anderen Namen in deiner Niederlassung in Liechtenstein weiterexistierst. Aber wenn ich dich recht verstanden habe, hast du nicht vor, selbst in der Karre zu sitzen, die da an die Tunnelwand krachen und in die Luft gehen soll, was ich da irgendwie hintricksen soll, oder?«, fragte Bill ironisch. »Weißt du, ich seh da schon wie im Film, wie da die Feuerwehr die ausgebrannte Karre freibuddelt, dann kommt der Kommissar mit seinem dussligen Adjutanten und stellt fest – ja, do is ja goa koana drin?«, flachste Bill und setzte hinzu: »Keine Leiche, keine vermisste Person. Und ich glaube, das ist nicht nur bei den bayerischen Vorabend-Krimisendungen so, für die ich die Stunts gemacht habe.«

Vom anderen Ende der Leitung waren für einen Augenblick nur ein heftiges Atmen und im Hintergrund wieder die Geräusche eines an- und abfahrenden Busses und die Schritte der aussteigenden Fahrgäste zu vernehmen. Eine Frauenstimme sagte: »… da hoch zur Seilbahnstation.« Er schloss daraus, dass Alois in der Nähe seines Ferienhauses unterwegs sein musste, das in der Nähe eines Touristenortes im Montafon lag.

»Natürlich sitzt da einer drin«, kam Leibachers Stimme zurück, diesmal mit der gewohnten Entschlossenheit. Wilfried Grätner spürte trotz der spätsommerlichen Wärme, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief.

*

Das klapprige hölzerne Scheunentor ächzte und quietschte beim Öffnen, als er sich von der linken Seite dagegenstemmte, damit der Hüttenwirt der Schindel-Alpe mit seinem Toyota Landcruiser rückwärts einfahren konnte, um die bestellten sechs Kisten »Brandner Gletscherwasser« abzuholen. Schorsch Brunntaler nahm seine speckige blaue Arbeitsmütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Septembersonne brannte für diese Jahreszeit ungewöhnlich heiß vom wolkenlosen Himmel, während auf den umliegenden Bergen ein leichter Dunst wie ein Schleier auf den kahlen Felswänden lag.

Die Räder des Toyota-Geländewagens wühlten sich vom Fahrweg über den nackten Erdboden, der vom Regen des vergangenen Wochenendes stellenweise noch aufgeweicht war. Zur gleichen Zeit fuhren ein beigefarbener Fiat-Kastenwagen mit der Aufschrift einer Schreinerei und ein roter VW-Transporter mit Pritsche und Plane auf dem Hof ein. Aus dem Kastenwagen stieg ein junger Mann in Schreiner-Arbeitsmontur aus und fragte, wo er die Holzkisten abladen sollte.

»Schaut so aus, als wärscht mit dei’m Schnaps dick im G’schäft«, witzelte der stämmige Hüttenwirt mit dunkelblondem Vollbart, der in der Scheune gerade damit begann, die mit Schnapsflaschen gefüllten Holzkisten im Laderaum seines Geländewagens zu verstauen. Schorsch winkte ab und grummelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin, während er eines der Laufräder der rostigen eisernen Schiene über dem Scheunentor inspizierte, das sich beim Aufschieben des Tores zuerst verkantet und dann ausgehängt hatte.

Alois Leibacher fuhr mit dem Transporter gleich halb in die Scheune, weil er bereits im Sinn hatte, seine Ladung inklusive Edelmetall auf den Traktoranhänger umzuladen. Er hatte es eilig, weil er nun schon den zweiten Tag hier oben in den Bergen war und eigentlich andere Dinge zu tun hatte, als einen Haufen Gold vor den Begehrlichkeiten anderer in Sicherheit zu bringen.

»Tief- und Straßenbau«, las der Hüttenwirt laut von der Aufschrift auf der Fahrertür ab. »Da schau an, der Schorsch lässt jetzt endlich mal sein’ Hof teer’n. Und Schorsch, dann lasst am best’n gleich a Ramp’n bau’n, damit du mit’m Gabelstapler direkt auf’n Lastwagen laden kannst.« Der Hüttenwirt und der junge Schreiner brachen darauf in schallendes Gelächter aus.

»Aber du fahrst jetzt erst mal dein’ Rosthauf’n auf d’ Seit’n, sonst muss i zum Rausfahr’n durch d’ Hauswand durch«, wandte er sich breit grinsend an Leibacher und deutete dabei auf den mächtigen verchromten Rammschutzbügel vor dem Kühler seines Landcruisers. Leibacher hatte an diesem frühen Montagnachmittag keinen Sinn für Späße, startete den widerwillig anspringenden Motor des VW-Transporters und rangierte ihn in der engen Scheune so, dass er von der Ladefläche aus direkt auf den Traktoranhänger umladen konnte. »He, Asphalt-Cowboy, bischt du hier dahoam?«, fragte der Hüttenwirt leicht ärgerlich, weil der Transporter jetzt so nahe neben seinem Toyota stand, dass er sich zum Einsteigen hineinzwängen musste und dabei lästerte, welche Billigfirma Schorsch da bestellt hatte.

Eine knappe Minute später klappte Alois Leibacher die seitliche Ladebordwand herunter und wunderte sich über die plötzliche Stille in der Scheune. Der Landcruiser und der Schreinerei-Kastenwagen waren abgefahren, und Schorsch war wie vom Erdboden verschluckt. Er begann, die Kalksandstein-Mauersteine von der Ladefläche auf den Traktoranhänger umzuladen, und fragte sich, ob der klapprige Hänger das Gewicht aushalten würde.

 

Vor der Scheune hörte er das Klirren von Werkzeug, das auf den Boden geworfen wurde. Er trat zu der breiten Öffnung der Scheune hinaus und sah eine Holzleiter, auf der auf halber Höhe zwei Füße in verdreckten und zerschlissenen Arbeitsstiefeln standen. Schorsch hatte die Leiter an das Tor gelehnt und machte sich daran, die Schiebetor-Mechanik instand zu setzen.

»Ich muss heute Nachmittag noch das Zeug auf die Hütte bringen. Wann können wir mit deinem Traktor los?«, fragte Alois Leibacher ungeduldig.

»Siehst doch, dass i koa Zeit net hob. I muaß des Scheiß Tor da reparier’n«, knurrte Schorsch von der Leiter herunter, während er versuchte, mit einem Schraubenschlüssel die Mutter der Laufradachse zu lösen. »Schlüss’l steckt«, brummte Schorsch.

Leibacher ging in die Scheune zurück und betrachtete den verbeulten alten hellblauen Steyr-Traktor, dessen Zustand bei ihm ziemlichen Zweifel an der Fahrtüchtigkeit auslöste. Die Motorhaube war so verbogen, dass sie nicht mehr in der Halterung einrastete. Am Fahrersitz hingen letzte Reste von einem Kunstlederüberzug, sodass man auf dem blanken Metallgestell saß. Aus dem Motorblock triefte Öl, die schmalen hinteren Reifen waren fast völlig ohne Profil. An der Vorderseite fehlte ein Scheinwerfer komplett; der linke bestand nur noch aus einem leeren verrosteten Gehäuse, aus dem an zwei Kabeldrähten die Glühbirne baumelte. Aber es war im Moment die einzige Möglichkeit, sein Baumaterial und das Gold zum Ferienhaus zu transportieren.

Er lud die restlichen Mauersteine und die Mörtelsäcke auf den Anhänger und nahm eine Kunststoff-Mörtelwanne von der Ladefläche, um die Goldbarren dahinein umzuladen. Draußen hämmerte Schorsch, auf der Leiter stehend, auf die verbogene Laufschiene des Schiebetors ein.

Diese Aktion bedeutet noch mal eine weitere Nacht im Montafon, dachte Leibacher, während er die Goldbarren sorgfältig in die Mörtelwanne legte. Er konnte es sich dabei nicht verkneifen, einen der Barren aus dem Schutzpapier zu wickeln und in einem Sonnenstrahl blinken zu lassen, der durch einen breiten Spalt in der Mauer neben dem Scheunentor hereinschien. Bis er das Material und das Gold im Ferienhaus abgeladen hatte, würde es bereits später Nachmittag sein; mit Einmauern und Verputzen würde er bis etwa Mitternacht zu tun haben, schätzte er grob, während er einen Fuß auf das verbogene Trittblech des Traktors stellte und sich vorsichtig hinter das Lenkrad setzte.

Der Motor sprang schneller an als der seines Transporters. Aus dem verrosteten, senkrecht aus der klappernden Motorhaube aufragenden Auspuff schoss eine schwarze Diesel-Abgaswolke heraus. Leibacher trat die Kupplung und legte den ersten Gang ein, begleitet vom Geräusch aneinanderreibender Zahnräder. Das Gefährt setzte sich ruckelnd und mit lautem Knattern in Bewegung, und er musste zunächst rangieren, um den Hänger anzukuppeln.

Die Glühbirne, die am Rest des linken Scheinwerfers an zwei Kabeldrähten baumelte, versuchte vergeblich, etwas Licht in die halbdunkle Scheune zu bringen. Nach drei Versuchen hatte er es geschafft, den Anhänger anzukuppeln, legte wieder mit knirschendem Geräusch den Gang ein und fuhr mit dem Gespann aus der Scheune heraus.

Schorsch stand immer noch auf der Leiter und hatte ein diebisches Grinsen im Gesicht. Durch den breiten Spalt in der Mauer hatte er zufällig im richtigen Moment beobachtet, wie Alois einen Goldbarren im Strahl des Sonnenlichts hatte glitzern lassen.

Das Traktorgespann rumpelte über den Rest der Fahrstraße, die knapp 100 Meter nach Untere Breitwies in einen schmalen Forstweg überging. Kurz bevor der Wald über den Rest der Strecke zum Ferienhaus die Sicht auf die umgebende Berglandschaft versperrte, sah er noch talwärts einen Motorradfahrer, der mit seiner Geländemaschine einen Wanderpfad hinauffuhr. Dann musste er sich auf dem restlichen knappen Kilometer darauf konzen­trieren, mit dem Traktor samt beladenem Anhänger in der Spur zu bleiben. Er musste dabei vor allem den rechten Rand im Auge behalten, der an einigen Stellen steil in den Abgrund führte.

Zu den letzten 50 Metern zum Ferienhaus zweigte der Weg schräg nach links in einen schmalen Fahrweg ab. Er trat das Gaspedal weiter durch, worauf der äußerlich nach einem Schrotthaufen aussehende Traktor noch einmal zeigte, welche Kraft in dem öltriefenden Motor steckte, während aus dem rostigen senkrechten Auspuffrohr eine dunkle Abgaswolke über seinen Kopf hinwegzog.

Die Holzschindeln am oberen Geschoss des Ferienhauses sahen etwas verwittert aus, und das mit roter Rostschutzfarbe gestrichene Blechdach war von den letzten schneereichen Wintern ziemlich mitgenommen. Die rustikale Eingangstür und die kleinen Holzfenster im Erdgeschoss, die dem Berghaus seinen alpenländischen Charakter verliehen, schienen dagegen auf den ersten Blick noch in einem guten Zustand zu sein und bräuchten vielleicht nur einen Renovierungsanstrich. Er stellte das Traktorgespann neben dem Holzzaun an der linken Seite des Hauses ab, wo er die ganze Ladung auf ebenem Weg über die mit großen Holzläden verschlossene Terrassentür ins Haus bringen konnte.

Er schloss die Haustür auf und trat in den Vorraum, wo links eine Türe zum Wohnraum und an der rechten Wandseite eine hölzerne Treppe ins Obergeschoss führte. Es roch nach altem Holz und einem Hauch von Heu, das früher in einem Anbau hinter dem Haus gelagert war. Alois Leibacher öffnete die Terrassentür und die großen Holzfensterläden und sog die Bergluft ein, die durch die große Öffnung hereinströmte. Das Sonnenlicht ließ die Bäume am Waldrand in sattem Tannengrün leuchten, und die in der Entfernung sichtbaren Felswände zeigten sich in scharfen Konturen mit reliefartiger Struktur.

Vor seinem geistigen Auge flackerte eine Szene aus vergangenen Familienwochenenden auf, als Constanze sich im Liegestuhl auf der Terrasse sonnte und Carola als kleines Mädchen auf der Wiese neben dem Holzzaun herumturnte, während er für den Abend das Brennholz für das Grillfeuer vorbereitete.

Neben der Terrasse gab es noch einen kleineren Stapel mit säuberlich aufgeschichteten Brennholzscheiten. Wenn es am Abend auf dieser Höhe kühler werden sollte, würde er sich mit einigen der Holzscheite vielleicht ein Kaminfeuer anzünden, dachte er und vergaß darüber beinahe, dass er eigentlich in anderweitiger Mission unterwegs war.

Leibacher setzte sich in einen der Korbsessel im Wohnraum, um zu überlegen, wo im Haus das beste Versteck für die Goldbarren sein könnte. Doch stattdessen begann sich in seinem Kopf eine unsortierte Gedankenspirale in Gang zu setzen, die ständig zwischen seiner Tochter Carola, seinem gestrigen Gespräch mit Wilfried in der sonnenbeheizten Telefonzelle und den Konferenzen mit »Hellwatt« und Bürgermeister Hüttinger wechselte.

Alois Leibacher aber war ein Meister der Selbstdisziplin und befahl seinen verselbstständigten Gedanken, sich in die umliegenden Bergwälder zu verflüchtigen. Sein Blick ging im Raum umher und blieb in der Ecke zwischen der Außenwand und dem Kaminofen hängen. Diese etwa einen Meter breite Nische erschien ihm ideal. Er würde einfach einen knappen halben Meter vor der Wand eine Reihe Mauersteine hochziehen, die Goldbarren dahinter einlagern und das Ganze oben mit einem Holzdeckel versehen, damit es wie eine Sitzbank neben dem Kaminofen aussah. Niemand würde auf die Idee kommen, dass sich darin ein Edelmetall-Versteck befand. Voller Tatendrang nahm er seine Arbeitsklamotten aus seiner Umhängetasche, zog sich um und begann, das Baumaterial von dem Traktoranhänger abzuladen.

Es war gegen 20 Uhr am Abend, als er für das Mäuerchen den Putz angerührt hatte und die graue Masse mit der Maurerkelle mit geübtem handwerklichem Schwung an die Wand schleuderte. Gleich darauf stapelte er das Edelmetall sorgfältig hinter der frisch verputzten Wand und ging in den Anbau, um nach passenden Brettern oder Holzdielen zu suchen, mit denen er das gemauerte Goldbarren-Versteck fürs Erste provisorisch abdecken konnte. Er fand ein paar Halbrundhölzer, die eigentlich für Zäune verwendet wurden. Mit den Hölzern unter dem Arm ging er durch die Tür in den Vorraum und verharrte mitten im Schritt. Die Abenddämmerung warf den Schatten eines menschlichen Körpers in den Flur.

In der Haustür stand ein Mann. Das Licht der Abendsonne legte einen dunklen Schatten über seine ganze Erscheinung, sodass er dessen Gesicht nicht erkennen und nur erahnen konnte, dass es ein jüngerer Mann sein musste.

Der Unbekannte lehnte lässig mit den Händen in den Hosentaschen in der Tür und sprach zunächst kein Wort. »Haben Sie sich verirrt?«, fragte Leibacher in die Richtung des Mannes, in der Hoffnung, dass derselbe vielleicht nur nach dem Weg fragen würde. Als er mit den Hölzern unter dem Arm durch den Vorraum näher auf ihn zutrat, erkannte er jedoch ein inzwischen bekanntes Gesicht. Er hatte rote Haare und einen roten Oberlippenbart; seine Frisur bestand oben aus einem Stehhaarschnitt und langem Nackenhaar. Der Mann trug eine rot-weiße Motorradmontur. Es war der ›Hellwatt‹-Manager, der offenbar auch der Fahrer des Geländemotorrades gewesen sein musste, den er am Nachmittag bei seiner Traktorfahrt flüchtig wahrgenommen hatte.

Leibacher fragte sich, welcher dämliche Zufall ihm diese Begegnung verschaffte. »Eigentlich wollte ich auf den Fahrweg zur Oberzalimhütte, aber ich bin wohl auf einen falschen Weg abgezweigt, und jetzt ist mir der Sprit ausgegangen«, sagte der Fremde. »Könnte … ähm, ich meine, wäre es eventuell möglich, dass ich hier übernachten könnte?«, fragte er und blickte dabei an der Außenfassade entlang, als wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass in diesem Haus doch genügend Platz sein müsste.

Über den Besucher war Alois zwar nicht begeistert, fasste dann aber den Gedanken, dass ihm dieser vielleicht sogar in irgendeiner Weise nützlich sein könnte, was seine Stausee- und Sporthotel-Pläne betraf. Zum Glück waren die Goldbarren bereits in der Mauernische versteckt, nur fehlte noch die Abdeckung, und er hoffte, dass der Gast nicht bemerken würde, welche Schätze er in diesem abgelegenen Berghaus hortete. Leibacher bat ihn herein und gab sich dabei als barmherziger Herbergsvater. »Im oberen Stock gibt es drei Betten, da können Sie sich für die Nacht eines davon aussuchen. Das Bad ist auch oben.«

»Manfred Breitstein ist übrigens mein Name – wir … ähm … kennen uns ja zumindest flüchtig von Ihrer Präsentation – es war, glaube ich, im März?«, stellte sich der Besucher vor. Breitstein, der bei »Hellwatt« wegen seiner roten Haarpracht und seinem roten Bart den Spitznamen »Fred Feuerstein« hatte, war Assistent im Finanzressort für die Bereiche Investment und Kraftwerksanlagen. Er verlor kein Wort über den zufälligen Charakter der Begegnung und kam unverblümt auf das Projekt zu sprechen. »Wie geht es denn mit Ihrem Stausee und dem Wasserkraftwerk voran?«

»Das Projekt liegt derzeit auf Eis«, antwortete Leibacher misstrauisch auf dessen Frage, und er spürte einen Anflug von Zorn darüber, was diesem Kerl einfiel, ihm derartige Fragen zu stellen. Manfred Breitstein war jetzt zwei Schritte weiter in den Vorraum getreten und konnte durch die geöffnete Tür zum Kaminzimmer die frisch verputzte Mauer sehen. Von zwei der obenaufliegenden Goldbarren hatte sich das Schutzpapier abgewickelt. Durch die Terrassentür schien die Abendsonne herein und ließ das Gold glänzen.

Breitstein starrte wie hypnotisiert auf das Edelmetall-Versteck. Dann stimmte es also doch, was ihm dieser merkwürdige Landwirt auf dem vor dem Wald gelegenen Hof erzählt hatte, als er dort den VW-Transporter mit der Aufschrift ›Alois Leibacher Tief- und Straßenbau‹ gesehen und gefragt hatte, wer von dieser Firma hier oben unterwegs war.

»Ich … ähm … hätte da über einen Kollegen aus der Kraftwerks-Konzernsparte gute Verbindungen zu einem Ministerialdirektor im Wirtschaftsministerium, der – ähm, sagen wir mal, durchaus an der einen oder anderen Unternehmensbeteiligung interessiert ist. Das könnte für Ihr Projekt die eine oder andere Hürde beseitigen. Für ein paar von den Glitzerbalken« – er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Goldbarren-Verstecks – »könnte ich da für Sie durchaus die eine oder andere Genehmigung einfädeln«, sagte Breitstein und setzte ein unverhohlenes Grinsen auf.

Du kannst den einen oder anderen Tritt in den Arsch haben, dachte Leibacher. Es gab jetzt also einen Mitwisser und für ihn keinen Zweifel daran, dass dieser sich bei nächster Gelegenheit das Edelmetall unter den Nagel reißen würde. Blitzschnell wägte er zwei Alternativen gegeneinander ab. Die eine war, ein neues Versteck zu suchen, allerdings schied dann das Ferienhaus aus. Zugleich wurde ihm bewusst, dass er erpressbar war, da dieser »Hellwatt«-Mann sicher längst wusste, dass das Stausee-Projekt nach momentaner Sachlage zum Scheitern verurteilt war. Sicherer erschien ihm deshalb die zweite Alternative – die zugleich auch die Antwort auf eine Frage von »Bill« Grätner sein würde, die mit seinem Auftrag zur Inszenierung seines Unfalltodes zu tun hatte.

 

Keiner von beiden hatte währenddessen bemerkt, dass zwischenzeitlich eine dritte Person vor dem Haus stand und unauffällig die Szenerie beobachtete.

»Lassen Sie uns Ihren Vorschlag doch bei einem Glas ›Brandner Gletscherwasser‹ auf der Terrasse besprechen.« Alois Leibacher gab scheinbar gelassen den souveränen Geschäftspartner und wies Breitstein auf die Holzbank an dem Tisch. Er wollte erst einmal Zeit gewinnen und in Ruhe abwägen, wie er mit diesem unverschämten Rotschopf weiter verfahren sollte.

Manfred Breitstein machte es sich erwartungsvoll und siegessicher auf der Holzbank bequem und breitete beide Arme seitlich über der Lehne aus. In diesem Moment machte sich in seinem Kopf eine unwiderstehliche Gier breit, dieses Goldbarrenlager zu plündern. Niemand würde dies hier oben in dieser einsamen Bergregion beobachten. Er öffnete seinen Rucksack und holte das große Messer mit der 25 Zentimeter langen Klinge heraus, das er vor einiger Zeit für ein Survival-Training gekauft hatte.

Der Hausherr des Berghauses kam wie erwartet mit einer Flasche und zwei Schnapsgläsern auf die Terrasse zurück und blieb unvermittelt stehen, als er die Sägezahnklinge des Messers funkeln sah und in dem verzerrten Gesichtsausdruck des Rothaarigen erkannte, dass dieser nichts Gutes im Sinn haben konnte. Leibacher ließ die beiden Schnapsgläser fallen und wich zurück, um die Terrassentür zu schließen. Doch der Rothaarige war bereits mit einem Satz über der Türschwelle, ging langsam mit dem auf Leibacher gerichteten Messer auf ihn zu und schien in einen Wahn verfallen zu sein. »Ich bin der Pirat, und der Goldschatz gehört jetzt m…«

Das Letzte, was Manfred Breitstein hörte, war das pfeifende Geräusch, das entstand, wenn ein stabförmiger Gegenstand schnell durch die Luft bewegt wurde. Die stumpfe Seite der Spaltaxt zertrümmerte mit einem dumpfen Schlag seine Nackenwirbel. Breitstein sackte leblos zusammen und fiel der Länge nach auf die Terrassenplatte. Leibacher sah fassungslos auf den wie vom Himmel gefallenen Körper und registrierte erst dann, dass neben der Holzbank ein kräftiger Mann mit leicht gewelltem schwarzem Haar und Dreitagebart stand, der sich auf die Spaltaxt lehnte und tief durchatmete.

»Irgendwie bin ich nach dem Telefonat gestern das Gefühl nicht losgeworden, dass du hier oben sein musst und irgendwas im Busch ist. Also bin ich hier raufgefahren. Ich hab vor der Haustür um die Ecke geschielt und dann gemerkt, dass der Typ mit der Vokuhila-Frisur tatsächlich Ernst machen wollte«, sagte Wilfried »Bill« Grätner und lehnte die schwere Spaltaxt an die Wand neben der Terrassentür.

»Klarer Fall von Notwehr. So viel zu deiner Frage nach dem Fahrer, Bill«, setzte Alois hinterher, als er seine Fassung wiedererlangt hatte, und malte beim Wort »Fahrer« mit Zeige- und Mittelfinger Anführungszeichen in die Luft. Die beiden nickten sich zu, holten eine Abdeckplane aus dem Holzlager im Anbau, wickelten den Toten darin ein und verschnürten die Plane mit Stricken, die man zum Binden von Heubüscheln verwendete. »Bei drei zugleich«, sagte Alois Leibacher, als sie das Bündel mit Breitsteins Leiche auf den klapprigen Traktoranhänger legten.

*

Der Landesverband würde stolz auf ihn sein. Der Bericht in der Nachrichtensendung vom vergangenen Sonntagabend im österreichischen Fernsehen hatte es ans Licht gebracht:

»Wie sich zwischenzeitlich aufgrund des Hinweises eines Mitglieds der deutschen Partei ›Die Grünen‹ herausgestellt hat, besteht eine Verbindung zwischen dem Stromkonzern »Hellwatt AG« und einem örtlichen Tiefbauunternehmer, der offenbar unter Einflussnahme auf die regionalen Verwaltungen und Entscheidungsträger versucht, auf das Vorhaben abseits der geltenden Rechtsgrundlagen einzuwirken«, hatte der TV-Moderator gesagt. Die Sendung hatte er auf seinem neuen VHS-Videorekorder aufgezeichnet und die Stelle mit diesem Satz wieder und wieder abgespielt. Die Videokassette lag in der Jutetasche mit den Unterlagen für die Landesversammlung der »Grünen«, zu der er gerade mit einem Schnellzug der Deutschen Bundesbahn nach Augsburg unterwegs war. Gottfried Monschkopf hoffte insgeheim, dass er dort vielleicht sogar den Bundesvorsitzenden antreffen würde und dass er ihm das Videoband würde persönlich überreichen können, welches belegte, dass er allein mit der von ihm organisierten Demonstration den Bau eines Stausees und damit die Vernichtung intakter Natur erfolgreich hatte verhindern können.

Frieden und Abrüstung waren die Themen, für die man sich als Grüner hauptsächlich einsetzte; aber die innerpolitischen Ziele richteten sich vorrangig gegen die Atompolitik der Bundesregierung. Schon im Februar 1981 war Monschkopf bei der Demonstration in Brokdorf dabei gewesen, die sich vehement gegen den Ausbau der Atomenergie stellte und bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatte. Jetzt hatte er seine »Schlagzeile« mit der erfolgreichen Demo gegen den Stausee am Steighorn im deutsch-österreichischen Grenzgebiet des bayerischen Allgäus.

Der Schnellzug erreichte um 9.30 Uhr den Augsburger Hauptbahnhof, sodass er bei der Weiterfahrt mit der Straßenbahn rechtzeitig bei der Parteiversammlung sein würde. Der Nieselregen dieses Septembertages legte einen grauen Schleier über die Stadt. Er stieg aus dem Waggon aus, der als erster hinter der Lok angekuppelt war. Im Vorbeigehen fiel sein Blick auf die rote Lokomotive der Baureihe 111, deren Lüfter geräuschvoll den Elektroantrieb kühlten. Er betrachtete die Reihen der Oberleitungen, die sich entlang der Gleise spannten, als wären sie für Seiltänzer vorbereitet, damit sie über den Schienen ihre Artistik vorführten. Auf dem Vorplatz des Bahnhofs kurvten die elektrischen Straßenbahnen über enge Gleisbögen, um die Fahrgäste aus den umliegenden Stadtteilen ins Zentrum und wieder zurück zu befördern. In den Fenstern der Kaufhäuser und Bankengebäude brannten an diesem trüben Vormittag die Neonlichter.

Ohne Strom läuft nichts mehr, dachte Gottfried Monschkopf. Bei den »Grünen« konnte er sich nicht recht entscheiden, ob er sich zu den »Realos« oder zu den »Fundamentalisten« zählen sollte. Seine Ambition war jedenfalls, sich für eine umweltfreundliche Stromerzeugung einzusetzen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vor einigen Monaten hatte in der Bevölkerung für große Verunsicherung gegenüber der Atomkraft gesorgt. Strom aus Wasserkraft, das wusste er zwischenzeitlich, konnte nur den kurzzeitigen Spitzenbedarf abdecken und verbrauchte dafür aber enorme landschaftliche Ressourcen. Von Elektroinstallateur Franz Britzler hatte er von einer neuartigen Technologie erfahren, mit der Strom einfach aus Sonnenlicht erzeugt werden konnte. Das wollte er in der Landesversammlung einbringen, gewissermaßen als künftiges Kompetenzthema der »Grünen«, deren politische Zielsetzungen ihm bisher zu sehr links orientiert waren.