Allgäuer Höhenrausch

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Das Stunt-Fahrzeug war am Anfang der Anlaufstrecke geparkt und wartete auf seinen Einsatz. Wilfried Grätner hatte sich schnell umgezogen und inspizierte kurz den Wagen. Den Fahrgastraum des dunkelgrünen BMW 518 hatte die Werkstatt bereits mit einem Käfig aus Stahlrohren ausgesteift. Die ganze rechte Seite des Wagens – Grätner schätzte das Baujahr auf etwa 1977 – zeugte von einem notdürftig reparierten Unfallschaden; weil in der Filmszene das Auto nur von links und hinten zu sehen sein würde, tat es für diesen Zweck wohl diese notdürftig zusammengeschusterte Schrottkiste.

Vorne am Set des Filmdrehs debattierten Regie und Aufnahmeleitung und wollten wohl in letzter Minute noch einmal die Kameraperspektive ändern. Grätner dachte, damit nochmals zwei Minuten Zeit gewinnen zu können, und startete den Motor, um noch eben auf einigen Metern wenigstens das Lenkverhalten testen zu können. In diesem Moment winkte Franz ihm hektisch entgegen, dass genau jetzt die Szene gedreht würde. Grätner überlegte eine Sekunde, streckte aber dann doch den Daumen der linken Hand nach oben. Er war schließlich Profi in seinem Metier.

In diesem Moment begann sein Kopf zu dröhnen; zugleich machte sich in seinem Magen ein flaues Gefühl breit. Er hatte sicher immer noch einen Restalkoholgehalt im Blut, der ihm am Vormittag – wäre er in eine Polizeikontrolle geraten – bestimmt den Führerschein gekostet hätte.

Stuntman Bill kämpfte gegen die Kopfschmerzen und gegen die aufsteigende Übelkeit und drückte das Gaspedal durch. Er musste auf etwa 70 Stundenkilometer beschleunigen, so knapp wie möglich vor der Reihe der geparkten Autos kurz herunterbremsen, den Wagen mit der Handbremse in einen rechten Winkel drehen und ihn mit der rechten Seite in einen hellgrauen VW-Bulli krachen lassen, der etwa in der Mitte der in Reihe geparkten Autos stand.

Der 5er-BMW war ein untermotorisiertes Modell und beschleunigte nur widerwillig. Als er in den dritten Gang hochschaltete, bemerkte er, dass die Lenkung ausgeschlagen war und sich der Wagen nur mit hastigen korrigierenden Lenkradbewegungen geradeaus halten ließ. Er steuerte jetzt geradeaus auf den grauen VW-Kastenwagen zu, lenkte leicht nach links, worauf die Lenkung ruckartig noch weiter nach links zog. Der BMW raste jetzt auf einen am linken Rand der Filmkulissenstraße abgestellten roten Ford Fiesta zu, hinter dem der Kameramann stand. Grätner zog die Handbremse, doch der Wagen schleuderte nicht wie geplant mit quietschenden Reifen in eine Rechtsdrehung, sondern bohrte sich krachend in die linke hintere Seite des Fiesta. Der BMW hob sich durch den Aufprall vorne links an, erfasste mit der Front den Kameramann und kippte auf die rechte Seite.

Franz Straubinger starrte mit großen, erschreckten Augen hinter seinen dicken Brillengläsern auf den Kameramann, der jetzt halb unter dem BMW lag. Unter seinem dichten Vollbart und dem weit in die Stirn ragenden Haar war ein kreideweißes Gesicht zu erkennen. Zwei der für die Sicherheit verantwortlichen Kollegen rannten mit Erste-Hilfe-Koffer und Feuerlöscher auf das umgekippte Auto zu und begannen, den schwerverletzten Kameramann zu bergen. Straubinger schlug mit dem Feuerlöscher die Heckscheibe ein, um Wilfried Grätner aus dem Autowrack zu befreien, der aber eine Sekunde später selbst durch die Öffnung herausrobbte.

*

Die Fußgängerzone in der Wiener Innenstadt war an diesem Freitagnachmittag nur mäßig belebt. Trotz der frühlingshaften Temperatur bei bedecktem Himmel wehte ein unangenehm kühler Wind zwischen den Häuserzeilen der Altstadt. Carola fand vor dem Café »Schlagobers« einen Platz direkt an der Hauswand, der windgeschützt war und trotzdem den Ausblick auf die sie umgebenden historischen Gebäude und auf die vorbeiströmenden Passanten bot. Sie war an diesem frühen Nachmittag mit drei Einkaufstaschen von teuren Kleiderboutiquen unterwegs.

Der Vorlesung über die von alten Baumeistern für spätgotische Bauten angewandten Gesetzmäßigkeiten bei der Grundrissplanung war die Architekturstudentin Carola an diesem Nachmittag ferngeblieben. Sie bestellte sich einen »Braunen«, den ihr wenige Minuten später eine unmotivierte, von den vielen Touristen genervte Bedienung auf den kleinen, auf dem Pflaster etwas wackelig stehenden Bistrotisch servierte.

Für das, was sie in einer trockenen Vorlesung über sich ergehen lassen müsste, hatte sie an diesem Platz unmittelbar anschauliche historische Beispiele vor Augen. Falls sie die vor Jahrhunderten angewandten Grundsätze der Grundrissaufteilung wirklich interessierten, brauchte sie nur die zahlreichen Informationstafeln im Museum zu studieren. In Wahrheit aber hatte sie an dem ganzen Architekturstudium nur ein mäßiges Interesse. Sie zog es mit ihren 22 Jahren vor, ein anspruchsvolles Leben zu genießen und ihre Freundinnen zu Hause mit ihrem Lebensstil in einer Weltstadt zu beeindrucken.

Carola griff mit ihrer rechten Hand, an deren Ringfinger ein etwas zu protziger silberner Ring mit einem grünen Edelstein steckte, in ihre Lederhandtasche, um ihren Kaffee zu bezahlen. Sie musste sich beeilen, bevor die Bankfiliale in der Nähe des Rathausplatzes schloss, um noch Bargeld für das Wochenende von ihrem Konto abzuheben.

Der Bankangestellte blätterte die einzelnen Scheine auf die Marmorfläche des Schalters, reichte ihr das Bündel mit 1.000 österreichischen Schilling durch den Schlitz unter der gepanzerten Glasscheibe und sah sie dabei über den goldfarbenen Rand seiner etwas zu großen Brille an. Er räusperte sich kurz, und sein Gesichtsausdruck mit dem zu einem schmalen Strich rasierten schwarzen Oberlippenbart verriet, dass er ihr offenbar etwa Unangenehmes würde mitteilen müssen. »Ihr Konto ist, ja nun …« – er rückte den Knoten seiner Krawatte zurecht – »also Ihr Konto weist für eine weitere Abhebung in dieser Summe, wenn Sie verstehen, wie ich meine, nicht mehr die nötige Deckung auf – aber ich kann Ihnen anbieten, wertes Fräulein Leiberger …«

»Leibacher!«, zischte Carola gegen die Panzerglasscheibe, worauf der etwa 60-jährige Angestellte zusammenfuhr, als befürchtete er, dass die Scheibe gleich zerspringen würde. Ihre rosa geschminkten Lippen zogen sich zusammen, und das von ihren leicht gewellten halblangen blonden Haaren umrahmte Gesicht wirkte verkrampft.

»Bitte verzeih’n Sie, Fräulein Leibacher«, sprach er gedehnt in Wiener Dialekt und rückte sein Brillengestell zurecht, wobei sich sein Blick im Ausschnitt ihrer rosa Satinbluse verfing. »Wie schon angedeutet, unser Haus könnte Ihnen in einem gewissen Rahmen, der sich natürlich an Ihren Einkommensverhältnissen zu bemessen hätte, wenn S’ versteh’n, wie ich meine, einen Dispositionskredit einräumen, der Zinssatz wäre momentan bei 14 Komma …« Weiter kam er nicht, denn als er seinen Blick wieder von ihrem reizenden Dekolleté lösen konnte, steckte sie hastig das kleine Bündel Schillinge ein und stakste mit eiligen Schritten und nach oben gerichteter Nase über den Marmorboden zum Ausgang.

»Ich muss mir von so einem heimlichen Spanner hinter dem Bankschalter anhören, dass mein Konto nicht mehr die nötige Deckung aufweist«, krähte sie kurze Zeit später aufgekratzt in den Telefonhörer, wobei sie beim Aussprechen des Nebensatzes versuchte, den Wiener Dialekt nachzuäffen. Aus der Hörmuschel des Telefons in ihrem Studentenapartment knurrte eine verärgerte männliche Stimme: »Du könntest dieses Jahr mit deinem Architekturstudium fertig sein, und wenn du dich drum bemühen würdest, könntest du schon bald in einem großen Architekturbüro die tollsten Häuser planen und endlich dein eigenes Geld verdienen«, versuchte Alois Leibacher, seine Tochter zur Räson zu bringen.

Carola zog angespannt an ihrer Zigarette, an deren Filter sich ihr rosa Lippenstift abfärbte. »Wenn, dann mache ich gleich mein eigenes Architekturbüro auf.« Sie sprach diesen Satz wie ein trotziger Teenager, um gleich darauf die Mitleidstour aufzulegen: »Aber bis dahin brauch ich einfach noch mal Knete. Und nach diesem Semester mach ich den Abschluss, versprochen.«

»Das will ich hoffen, und bis dahin kannst du schon mal nebenbei ein Praktikum machen und nebenbei was verdienen«, bemerkte ihr Vater nachdrücklich. Sie drückte hastig ihre Zigarette am Rand des übervollen kleinen Blech-Aschenbechers aus, der dabei hochschnippte und die Asche auf dem weißen Spitzendeckchen und auf dem Teppich verteilte. Ihre Stimme wurde schrill. »Du musst ja gerade reden, du hast ja Mutter schließlich wegen einer Tussi verlassen, die lieber mit dem Sportwagen rumfährt, als dir in der Firma zu helfen! Also krieg ich jetzt meinen Scheck oder nicht?«

Der Frühling in Wien hatte in den letzten Tagen für milde Temperaturen gesorgt. Die Woche neigte sich an diesem Donnerstagnachmittag bereits wieder dem Ende zu, als Carola Leibacher auf dem Rückweg von der Universität an der Straßenbahnhaltestelle ausstieg, deren Linie Richtung Zentrum führte. An der Baustelle eines Wohn- und Geschäftshauses direkt neben der Haltestelle lärmten Baumaschinen. Männer in blaugrauen Arbeitsmonturen mit der Aufschrift einer Heizungsbaufirma trugen lange Kupferrohre auf den Schultern und fädelten sich damit zwischen Betonpfeilern zu einem Treppenhaus durch. Vor der Baustelle türmten sich Paletten mit Estrichbetonsäcken, rostige Gitterboxen mit Abflussrohrformteilen und einige auf einen Haufen geworfene Stahlstützen. Eine Frau um die 30 mit weißem Bauhelm, in verdreckten grünen Gummistiefeln und einer blauen Allwetterjacke diskutierte lautstark mit einem nervös rauchenden Mann irgendetwas über Termine. Der schrie mit einem Stapel Baupläne in der Hand achselzuckend etwas von »zu wenig Leute« in den Baulärm hinein. Aus einer schief stehenden, verbogenen Wellblech-Bautoilette kam ein Monteur heraus, der den Reißverschluss seiner staubverschmutzten Arbeitshose erst im Vorbeigehen an der Bauleiterin zuzog und dabei lüstern die Figur der Frau musterte.

 

Das ist also die Realität von »tolle Häuser planen«, dachte sie, als sie am Bauzaun vorbei in Richtung ihres Apartments ging, das sich in einem einstmals schmucken, aber inzwischen heruntergekommenen Stadthaus direkt an der Hauptstraße befand. Sie betrat den Hausflur, wo jeder Schritt hallte und am Sockel neben dem abgenutzten hellbraunen Mosaikboden an einigen Stellen der Putz von der Wand bröckelte. Aus dem Einwurf ihres Briefkastens ragten Reklameprospekte. Sie öffnete das dunkelbraune Blechtürchen des Briefkastens, das sie dabei wegen eines kaputten Scharniers immer leicht anheben musste. Zwischen den Prospekten steckte ein Brief ihres Vaters, den sie gleich noch im Hausflur hastig aufriss. In dem Brief steckte ein Scheck von einer Liechtensteiner Bank.

*

++ Juni 1986 ++

Er verließ das Gerichtsgebäude als vorbestrafter Mann. Der Minutenzeiger der großen Uhr in der hohen Eingangshalle, die oberhalb der runden Betonsäulen an der Wand hing und vom Stuck der Decke umrandet wurde, bewegte sich ruckartig wie der Hammer des Richters bei der Urteilsverkündung und schnellte mit lautem Klacken auf den ersten Strich nach der halben Stunde. Es war eine 11.31 Uhr an diesem Montagvormittag, als er in den Frühsommerregen hinaustrat, der einen mit einer feinen, aber dicht fallenden Regendusche innerhalb kürzester Zeit durchnässen konnte.

Er zog die Kapuze seiner verwaschenen roten Jacke mit dem Aufdruck ›1965 Racing Team‹ über den Kopf und sah sich in dem Straßenzug im Zentrum der bayerischen Landeshauptstadt um. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte er eine Ladenpassage und überquerte leicht humpelnd die Fahrspuren bis zur Mitte, wo er kurz stehen bleiben musste, als gerade auf der Trambahntrasse zwei blaue Straßenbahnen aneinander vorbeifuhren, deren Räder in den kurvigen Schienen schleifende metallische Geräusche von sich gaben.

Er betrat einen kleinen Tabak- und Zeitschriftenladen in der Passage, vor dem in einem drehbaren Zeitungsständer das Papier der größten deutschen und dazu türkischen und italienischen Tageszeitungen in dem Wind flatterte, der durch den Gang der Ladenpassage wehte. Im Laden streifte sein Blick die Reihe der Fernsehprogrammhefte. Auf dem Titelbild eines TV-Magazins war der Hauptdarsteller von »Dezernat M wie Mord« zu sehen. Er blätterte kurz darin, und der Bericht über die Serie versprach ab August neue spannende Folgen, immer dienstags um 18.30 Uhr.

Kein Wort stand in dem Artikel darüber, dass bei den Dreharbeiten kürzlich ein Kameramann bei einer Stunt-Szene auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Was sollte dies auch den Fernsehzuschauer interessieren, dachte er. Für die Produktionsfirma war es ein Betriebsunfall, wie er in jeder Fabrik und auf jeder Baustelle auch hätte passieren können.

Ihm als Stuntman hatte die TV-Produktionsfirma eine manövrierunfähige Schrottkarre hingestellt, um die im Drehbuch vorgesehene Actionszene so billig wie möglich zu realisieren. Aber ihm wurde eine Teilschuld zugesprochen, weil er, so wie es eine knappe Stunde zuvor das Gericht erklärte, der Produktionsfirma als freiberuflicher Auftragnehmer gegenüberstand. Und damit stehe er mit in der Verantwortung, »die ihm überlassenen Arbeits- und Betriebsmittel auf sichere Anwendbarkeit hin zu prüfen«, wie es im Urteil in bester deutscher Amtssprache verkündet worden war. Sein Glück war dabei, dass die Polizisten bei der Aufnahme des Unfalls am Drehort offenbar keinen Verdacht hatten, dass bei ihm Alkohol mit im Spiel gewesen sein könnte. Ansonsten wäre er wegen seines Restalkoholpegels nach der durchzechten Nacht am Bodensee auch noch seinen Führerschein los gewesen.

Wilfried »Bill« Grätner war damit aber nicht nur seinen wichtigsten Auftraggeber los. Mit dieser Vorstrafe würde er überhaupt keine Stunt-Jobs mehr in der Filmbranche bekommen, außer er würde sich auf Fensterstürze und ähnliche halsbrecherische Akrobatik verlegen, wozu ihm aber die nötige körperliche Fitness fehlte. Dafür konnte ihm bei Auto-Stunts so schnell keiner etwas vormachen – schließlich hatte er mit 19 Jahren seinen ersten dreifachen Überschlag, als er gerade in einem Autohaus jobbte und einen Golf GTI von der Werkstatt zu einer wenige Kilometer entfernten Lackiererei fahren sollte. Die Neulackierung war damit hinfällig gewesen.

Er kaufte eine Packung Zigaretten und eines der neongrünen Einwegfeuerzeuge, die in einem kleinen Verkaufsständer für 1,40 DM angeboten wurden.

Der Regen hatte nachgelassen. Bill Grätner stieg in die nächste Tram ein. Irgendeine fährt immer zum Hauptbahnhof, dachte er und setzte sich auf einen freien Sitzplatz neben der Tür, der eigentlich für Gehbehinderte vorgesehen war. Bequem lehnte er sich mit verschränkten Armen in den Sitz und streckte die Beine aus. Der Knöchel seines rechten Fußes, der bei dem Unfall zwischen den Pedalen des alten BMW eingeklemmt war, begann wieder schmerzhaft zu pochen. Es war der Grund, weshalb er mit der Bahn unterwegs war, weil er mit dem schmerzenden Fuß nicht Auto fahren konnte.

Er stieg am Hauptbahnhof aus und sah sich nach dem Fahrkartenschalter um. Eine übergewichtige Punker-Göre mit pink gefärbtem Irokesenhaarschnitt und grün gefärbten Fingernägeln trat auf ihn zu und fragte ihn kaugummikauend: »Ey, hast mal ’ne Mark?« Grätner wandte sich ohne einen Blick ab und sah noch aus dem Augenwinkel, wie sie mit herausgestreckter Zunge eine obszöne Geste mit der rechten Hand auf Höhe des Unterleibs machte. Er wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich von diesem Ort weg.

Im Zug setzte sich Wilfried Grätner in ein leeres Abteil und begann darüber nachzudenken, wie es weitergehen sollte. Doch seine Gedanken waren vollkommen von den Sekunden beherrscht, in denen das Filmauto umkippte und den Kameramann unter sich begrub. Hätte er es verhindern können, wenn er sich nicht nach einer durchzechten Nacht auf diesen Job eingelassen hätte? Hätte er dem Hektiker Franz Straubinger klarmachen müssen, dass er um der Sicherheit willen vor dem Dreh mit dem Wagen noch eine kurze Testfahrt machen musste – wodurch wahrscheinlich in nicht einmal zwei Minuten klar gewesen wäre, dass das Drehen dieser Action-Szene mit einem Fahrzeug dieses Zustands fahrlässig war? Hätte, wäre – sein Gedankenkarussell fand darauf keine Antwort, und in seinen Ohren hallte immer wieder das Wort »Teilschuld«.

Am späten Nachmittag rollte der Zug aus München auf den Inselbahnhof, dessen Gleise nur wenige Meter vor dem Seeufer endeten. »Lindau Hauptbahnhof!«, knarzte eine Stimme mit der Betonung auf »Haupt« aus einem grauen Lautsprecher, als hätte die Inselstadt am Bodensee noch ein halbes Dutzend weitere Bahnhöfe. Wilfried Grätner öffnete die Tür des nach über drei Stunden Bahnfahrt rauchgeschwängerten Abteils, lief zum Ausstieg und drückte mit einem kräftigen Ruck den roten Hebel zum Öffnen der Tür, die mit einem dumpf klappernden Geräusch aufsprang.

Neben dem Eingang zum Bahnhofsgebäude ratterten Straßenbaumaschinen. Eine Bautafel kündete vom Bau eines Omnibusbahnhofs für die verkehrenden Linienbusse. Grätner schlug den Weg durch einen mit Bauzäunen abgegrenzten Fußgängerweg ein. Ein Bagger zog mit einem Kettengreifer einen Betonschachtring hoch, drehte in seine Richtung und setzte ihn zentimetergenau an einer Stelle ab, wo er von zwei Straßenbauarbeitern auf einen Kanalschacht abgesetzt wurde.

Wilfried Grätner blieb für einen Moment am Bauzaun stehen und sah zu, wie ein anderer Trupp Randsteine auf einen aufgeschütteten Streifen frischen Betons setzte.

Ein für die Fläche der Baustelle übergroßer vierachsiger Kipplaster bog auf das Gelände ein und durchfuhr mit dem linken Vorderrad mit platschendem Geräusch eine große Pfütze. Die hellbraunen Spritzer schlugen bis zum Fenster der Fahrertür hoch, auf der die Aufschrift ›Leibacher Tief- und Straßenbau GmbH‹ stand.

Es war die Baufirma, bei der er Jahre zuvor seine Lehre als Betonbauer absolviert hatte. Dieser Moment erinnerte ihn wieder daran, dass er sich um einen neuen Job umsehen musste. Wenn er zum Arbeitsamt ginge, dachte er, würde er kurz darauf auf Baustellen wie diesen wieder knöcheltief im Dreck herumwaten und den ganzen Tag nichts als Beton und Frostschutzkies um sich herum haben.

In diesem Moment spürte er, wie sich ein schmaler, kantiger Gegenstand im Kragen seiner roten Kapuzenjacke verfing. Es war etwas Biegsames, das ihm an die Halsschlagader drückte, und es fühlte sich an, als wollte jemand seine Jacke auf einen Kleiderbügel hängen, ohne dass er sie vorher ausgezogen hatte. Grätner packte das stabförmige Teil ruckartig mit der rechten Hand und zog es aus seiner Jacke heraus.

Er hatte das Ende eines Meterstabs in der Hand. Verdutzt wanderte sein Blick langsam zum anderen Ende des Zollstocks. Dort sah er eine männliche Hand, die aus dem Ärmel einer hellbraunen Wildlederjacke mit Trachten-Applikationen ragte.

»Entschuldigung bitte«, sagte eine Stimme, die zu der Trachtenjacke gehörte und die ihm seltsamerweise bekannt vorkam. Der Mann stand am Bauzaun und hatte mit dem Meterstab herumgefuchtelt, während er einem Vorarbeiter die Verlaufslinie der zu verlegenden Betonrandsteine erklärte. Grätner blickte in das Gesicht eines Mannes, der etwa Anfang 40 war.

Wilfried Grätner erkannte ihn nicht gleich, doch der Meterstab-Mann schien ihn gut in Erinnerung zu haben. »Grüß dich, Bill, tut mir leid, dass ich dir mit dem Meterstab fast den Hals durchbohrt hätte, aber du weißt ja, wie’s am Bau zugeht«, begrüßte Alois Leibacher seinen ehemaligen Mitarbeiter mit seinem typischen breiten Grinsen.

Grätner war nicht in der Stimmung für Leibachers jovialen Ton. Alois hatte das Tief- und Straßenbauunternehmen von seinem Vater Alois Leibacher senior übernommen, kurz bevor Wilfried Grätner seine Betonbauer-Lehre abgeschlossen hatte. Bill erzählte in drei kurzen Sätzen von seiner momentanen Lage, während Alois Leibacher auf die Uhr sah. »Ich muss zu einem Baustellentermin. Komm morgen um halb fünf zu mir ins Büro, ich denke, ich hab da was Passendes für dich«, sagte Leibacher knapp und lief zu einem roten Opel Rekord Caravan, der genauso verdreckt aussah wie der Kipplaster hinter dem Bauzaun.

*

++ Juli 1986 ++

Die Temperatur im Sitzungssaal hatte an diesem späten Sommernachmittag 31 Grad Celsius erreicht. Über den Tag hatte sich unter dem Dach des Rathauses im Kurort vor dem Steighorn die Hitze der Julisonne gestaut, die immer noch gleißend vom Himmel brannte. Volkmar Brambach las von seiner Digital-Armbanduhr die Uhrzeit 17.48 ab. Der Leiter des Ausschusses für Technik und Umwelt öffnete seinen Hemdkragen und wurde allmählich ungeduldig, weil er an diesem Abend eigentlich vorhatte, mit seinem Alfa Spider noch eine kleine Tour über den Riedbergpass nach Balderschwang zu fahren. Stattdessen klebte er mit schweißdurchtränktem Hemd an diesem Kunstleder-Konferenzstuhl und musste sich die Ausführungen eines Tiefbauunternehmers anhören, der offenbar jetzt in die Höhe bauen wollte und von dem er den Eindruck hatte, dass er dem Größenwahn verfallen sein musste.

Brambach sah sich im Sitzungssaal um und beobachtete auf den ebenfalls verschwitzten Gesichtern der Anwesenden – es waren sechs Männer und eine Frau – einen einhelligen Ausdruck von großer Skepsis, aber auch von Verlegenheit. Vom Oberbürgermeister über die Direktorin der Behörde für den Landschaftsschutz bis zu Vertretern des Wirtschaftsministeriums trieb die Hitze allen den Schweiß aus den Poren.

Er wusste aber, dass es noch einen anderen Grund gab, der die Herrschaften ins Schwitzen brachte. Alois Leibacher hatte jedem Einzelnen von ihnen seine skurrile Idee von einem Wasserkraftwerk am Steighorn damit schmackhaft gemacht, dass er unmittelbar neben dem Stausee ein Sporthotel bauen wollte und ihnen allen kostenlose Urlaube in einem der Seeblick-Zimmer der besten Kategorie in Aussicht gestellt hatte. Niemand hatte ihn letztlich wirklich ernst genommen, wenn er bei öffentlichen Empfängen und hochkarätigen Veranstaltungen innerhalb erlauchter Kreise wortreich seine Pläne für eine ökologische Energieversorgung ausmalte. Leibacher hatte sie alle dazu bringen wollen, darin eine große Zukunftschance für das Steighorntal zu sehen. Dass jeder dem verlockenden Sporthotel-Angebot scheinbar zustimmte, hatte Leibacher wohl tatsächlich für bare Münze genommen und wähnte sich jetzt als einflussreicher Großunternehmer, der glaubte, bei den Behörden und ministerialen Entscheidungsträgern die Fäden ziehen zu können.

Alois Leibacher stand vor dem Gremium und merkte, wie der Versuch seiner Überzeugungsarbeit ins Leere zu laufen begann, als er die wichtigsten Fakten seiner Präsentationsrede zusammenfasste.

 

»Bedenken Sie die enormen Chancen, die sich dadurch für diese Region ergeben. Das Steighorn-Wasserkraftwerk wird ein Aushängeschild für die ökologische Stromerzeugung. Und gleichzeitig wird sich der See in dieser Berglandschaft zu einem Touristenmagneten entwickeln. Für die Hotelbetreiber bedeutet das ein hohes Maß an Investitionssicherheit.«

Brambach wollte sich gerade gedanklich zurechtlegen, was er Leibacher entgegenhalten sollte, aber in dem Moment sah Oberbürgermeister Hermann Hüttinger den Zeitpunkt gekommen, den Plänen des Tiefbauunternehmers entschieden entgegenzutreten. Der mit seiner runden Brille und glatten, kantigen Gesichtszügen lehrerhaft wirkende Chef des Rathauses erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich ohne Gesten wie das Zurechtrücken von Brille oder Krawatte neben Leibacher, den er mit entschlossenem Blick ansah. Hüttinger war ein Meister darin, überzeugend und kompetent aufzutreten, und Brambach grämte sich regelmäßig, dass sein Vorgesetzter ihm nicht nur rhetorisch überlegen, sondern auch stets mit seinen Gedanken eine Nasenlänge voraus war. So auch in diesem Moment.

»Ich will Ihnen mal was zeigen«, sagte Hüttinger mit ruhiger Stimme, nahm den ihn um etwa zehn Zentimeter überragenden Leibacher am Arm und führte ihn wie einen Schüler zu einem Fenster des Konferenzsaales, von wo man direkt auf das Tourismusbüro sehen konnte, an dessen Eingang ein großes ›I‹ angebracht war. Ständig gingen Urlauber in Wanderkleidung hinein und kamen wenig später mit Prospekten und Wanderkarten wieder heraus.

»Die Hotels und Pensionen sind hier bestens ausgelastet. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, ist die Region am Steighorn bereits ein Touristenmagnet«, belehrte Hüttinger, und die Vertreter der Touristikbranche nickten zustimmend. Er ging zu seinem Platz, holte aus seiner Aktentasche eine regionale Wanderkarte hervor und breitete sie auf einem der Tische aus. »Sie stellen sich vor, dieses Gebiet unter Wasser zu setzen«, sagte Hüttinger und blickte Leibacher streng über den Rand seiner Brille an. »Was sehen Sie hier? Und hier, und hier?«, fragte der Oberbürgermeister jetzt mit aufkommender Wut in der Stimme und tippte an mehreren Stellen so auf die Karte, dass sein Zeigefinger fast das Papier durchbohrte: »Hier: ein Berggasthof. Hier: ein Skilift, übrigens der zweitwichtigste am Steighorn. Hier: ein Weiler von vier Höfen mit Landwirtschaft, die Heimat von vier Familien. Und hier: die Kapelle zur heiligen Maria, erbaut 1611.«

»Und vor allem eine ursprüngliche Berglandschaft, unberührte Natur, idyllische Bachläufe, und Ihre Staumauer durchschneidet auch noch das Naturschutzgebiet ›Hohe Fichten‹ mit seltenem Baumbestand. Haben Sie sich das Gebiet jemals genauer angesehen?« Doktor Marie-Antoinette Kärrele-Deichsler hatte das Wort ergriffen, warf ihre langen dunklen Haare in den Nacken und blickte Leibacher vorwurfsvoll an.

In der hinteren Reihe erhob sich schließlich ein beleibter Mann von etwa Ende 30, dessen breites Gesicht von der Hitze gerötet war und der zu einer braunen, ausgeleierten Cordhose ein braun-weiß kariertes Hemd trug, dessen obere drei Knöpfe offen standen und sich im unteren Teil über seinen Bauch spannte. Josef Korschacher hatte bisher ruhig und mit verschränkten Armen der Sitzung beigewohnt und stützte nun seine enorm kräftigen, behaarten Unterarme auf dem Tisch vor ihm auf.

»Weideflächen für 200 Rindviecher wollts Ihr mit Eurem Stausee vernichten. Und mein’ Hof dazu! Bauen S’ Ihr Kraftwerk, wo Sie woll’n, aber mein Hof und meine Viecher bleib’n hier, wo unser’ Familie seit 300 Jahr’n lebt«, polterte der stämmige Landwirt und zeigte mit dem Finger auf Leibacher.

Volkmar Brambach hatte in der Zwischenzeit endlich das Argument gefunden, mit dem er sich vor dem Oberbürgermeister und den anderen Beteiligten profilieren konnte: »Sie hätten sich den ganzen Aufwasch hier sparen können, wenn Sie zuerst mit uns geredet hätten. Aber Sie haben zuerst Gespräche und sogar schon Verhandlungen mit ›Hellwatt‹ geführt, bevor wir hier alle überhaupt einen blassen Schimmer davon bekommen konnten, was hier hinter unserem Rücken von einem Stromkonzern und einem Bauunternehmer heimlich geplant wird. Mit Verlaub, Herr Leibacher, so geht das nicht!«, bläute der Leiter des Ausschusses für Technik und Umwelt Leibacher ein, um gleich darauf nachzusetzen: »Sind Sie sich eigentlich im Klaren darüber, was hier los ist, wenn Ihr Vorhaben an die Öffentlichkeit gelangt?«

»Die Sitzung ist geschlossen«, sprach Oberbürgermeister Hüttinger machtvoll, öffnete die Tür des Sitzungssaals und blieb mit der Hand an der Türklinke stehen, bis alle den Raum verlassen haben würden. Alois Leibacher wollte sich formell von Hermann Hüttinger verabschieden, der jedoch auf seine Armbanduhr sah und »Schönen Abend« wünschte.

*

Die Vormittagssonne trieb über den Gipfeln der Allgäuer Voralpen die Haufenwolken auseinander, als er den blauen Mercedes 307 D über den Riedbergpass steuerte. Der Transporter seiner Installationsfirma schaffte mit seinem 65-PS-Dieselmotor nur mit Mühe die Kurven über die Passstraße. Im Fahrerhaus übertönte das Motorengeräusch das Radio, aus dem über näselnde Lautsprecher ein Lied von einem österreichischen Liedermacher zu vernehmen war, der von einem Italien-Reisenden sang, der »keine Lire und keine Papiere« hatte. Franz Britzler musste in einer engen Serpentine in den ersten Gang herunterschalten, worauf sich der Mercedes-Transporter nach der Kurve mit lautem Getöse und einer schwarzen Rußwolke aus dem Auspuff die Steigung hochquälte.

Er summte den Refrain des Liedes mit und ließ sich von der langsamen Fortbewegung seines um die Kurven ruckelnden Transporters an diesem Samstagvormittag nicht die Laune verderben. Erstens wollte er sich nach langer Zeit mal wieder eine kleine Bergtour auf den Wannenkopf gönnen, von wo er den Blick auf die schroffen Felskegel der Allgäuer Alpen haben würde. Zweitens verband er – wie er es als Opportunist häufig tat – das Angenehme mit dem Nützlichen, weil er sich ziemlich sicher war, mit dem Hüttenwirt der Gehrenkopfhütte ins Geschäft zu kommen. Denn im Laderaum seines verschrammten Transporters mit der Aufschrift ›Britzler Elektro – Sanitär‹ hatte er etwas, was vor allem für abgelegene Berghütten und Bergbauernhöfe die Lösung eines Energieversorgungsproblems versprach. Von dieser neuartigen Technologie erhoffte er sich ein gutes Geschäft, mit dem er hoffentlich mehr Gewinn erzielen konnte als mit Elektroinstallationen und Reparaturen. Noch war Fotovoltaik kein ausgereiftes Serienprodukt, aber er war fasziniert von der technischen Möglichkeit, durch das Verlegen von Solarpaneelen auf einem Hausdach Strom aus Sonnenlicht erzeugen zu können – und davon überzeugt, dass er in dieser Alpenregion zahlreiche Kunden dafür würde finden können.

Er bog von der Passstraße auf die steile Zufahrt zum geräumigen Parkplatz vor der Gehrenkopfhütte und dem Wannenkopf-Skilift ein und war überrascht, dass der Parkplatz mehr als halbvoll belegt war. Er hatte gehofft, dass er mit Joschi, dem Hüttenwirt, in Ruhe über die Installation einer Fotovoltaikanlage reden und ihn schließlich davon würde überzeugen können, in eine alternative Stromerzeugung zu investieren. Bei diesem Betrieb aber würde Joschi alle Hände voll zu tun haben, um die Hüttengäste mit Getränken und Hüttenspezialiäten wie Brotzeittellern und Apfelstrudel zu versorgen.