Hightech-Kapitalismus in der großen Krise

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Zweites Kapitel
Theoretisches Intermezzo: Marxsche Krisenbegriffe

Karl Marx had it right.

Nouriel Roubini

Der Weg von den Erscheinungsformen zu ihrer begrifflichen Analyse fängt nie von Null an. Zu allen Zeiten gilt Spinozas Feststellung, dass wir »bereits wahre Vorstellungen« haben. Dabei räumen wir ein, dass Wahrheit sich zwar nicht, wie die wahrheitslose Postmoderne es wollte, in bloßem Für-wahr-gehalten-werden erschöpft, aber doch ein Prozess ist.

Was unsere Untersuchung angeht, sind wir vor allem Anfang im Besitz von theoretischen Begriffen und Thesen. Besonders die marxsche Kritik der politischen Ökonomie bietet sich an, uns beim Verständnis der Phänomene auf die Sprünge zu helfen. Aber wir werden nicht so tun, als hätten wir dank Marx immer schon alles gewusst. Unsere Untersuchung führt an die offenen Ränder der geschichtlichen Materie, und wir tun gut daran, uns auf dem Weg durch die Landschaft des Hightech-Kapitalismus in der Großen Krise nicht gänzlich der Naivität zu entschlagen, mit der Grimmelshausen einst seinen Simplizius sich durch die Landschaft des Dreißigjährigen Krieges bewegen ließ. Wir werden also auch nicht immer schon klüger sein als die Akteure und ihre Beobachter, denen wir auf unserem Weg begegnen. Wir werden im Zuge des gegenwartsgeschichtlichen Prozesses unsere Begriffsinstrumente an den Phänomenen messen und prüfen, ob und wie diese sich mit jenen gedanklich aufschließen lassen. Mit einem Bilde gesprochen, das Sigmund Freud liebte, werden wir so verfahren, wie man beim Bau eines Tunnels verfährt, nämlich von beiden Seiten zu bohren. Nachdem wir auf der Erscheinungsseite begonnen haben, wenden wir uns zunächst in entgegengesetzter Einseitigkeit dem theoretischen Vorwissen zu, bevor wir in den folgenden Kapiteln einzelne Wirklichkeitsbereiche im Lichte unserer Leitfragen durchforschen.

1. Marx als Kritiker des Kapitalismus

Über Marx als Kritiker des Kapitalismus sprechen heißt über seine Kritik der politischen Ökonomie sprechen. Was bedeutet hierbei Kritik? Sie meint vor allem anderen Analyse und Theorie, nicht Anschwärzung. Darin ist Kants Kritikbegriff aufgehoben. In der Kritik der reinen Vernunft ging es um die Untersuchung der Bedingungen und Grenzen der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis. In China habe ich mir die Schwierigkeit erklären lassen, diesen Kritikbegriff zu übersetzen. Das Wort bzw. das Schriftzeichen, das bereitsteht, bedeutet etwa »jemanden das Gesicht verlieren machen«. Was Marx zu leisten beansprucht, ist die »Kritik der ökonomischen Kategorien oder […] das System der bürgerlichen Ökonomie kritisch dargestellt«, und zwar auf eine Weise, die »zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben« ist (29/550). Der Ansatz ist gesellschaftstheoretisch, nicht binnenökonomisch. Er umfasst zugleich die von den Menschen »zur Produktion ihres Lebens eingegangenen Verhältnisse«, für die Marx den Begriff Produktionsverhältnisse in die Sprache eingeführt hat, und die Bewusstseinsformen, die dem Verhalten in diesen Verhältnissen entspringen. In dem Maße, in dem zwar wir in den Verhältnissen, die Verhältnisse aber nicht in unserem Bewusstsein sind, ist letzteres, gemessen an der Analyse und im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang, falsches Bewusstsein. Zur Kritik wird die Analyse also bereits, indem sie den Alltagsverstand seiner Täuschungen innewerden lässt. Zur Ideologiekritik wird sie, indem sie in den herrschenden Vorstellungen die Vorstellungen der Herrschenden aufweist oder Anspruch und Wirklichkeit miteinander konfrontiert. Wenn sie auf diese Weise parteilich wirkt, so ist sie nicht parteiisch. »Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt«, schreibt Marx im Nachwort zur 2. Auflage von Kapital I (23/22), kann sie nur die lohnabhängig Arbeitenden vertreten, »das Proletariat«. In jenem Soweit-überhaupt drückt sich eine prinzipielle Distanz des Wissenschaftlers Marx zur Arbeiterbewegung und ihrer Politik aus, der er im Rahmen der Internationalen Arbeiter-Assoziation, der später so genannten Ersten Internationale, zugleich dient. Diese Distanz mit ihrer Ferne zu Agitation und Propaganda macht erst die nachhaltige Wirkung möglich, mit der uns das Werk von Marx immer wieder entgegentritt.

2. Kritik als Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit des Kapitalismus zu denken

»Man kann kaum umhin«, schrieb Ralf Dahrendorf 2001 – die Dot.com-Blase der Hightech-Spekulation war gerade geplatzt –, »an die dramatische Analyse im Kommunistischen Manifest von Marx und Engels zu erinnern.« Folgen wir dem Wink. Erstens zur Entwicklung der Technologie: »Die Bourgeoisie«, heißt es im Manifest, »kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.« (4/465) Und folglich: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen früheren aus.« (Ebd.)

Zweitens zur globalen Expansion: »Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« (Ebd.) Und folglich: »Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen hinweggezogen.« (466)

Drittens zur Krisenhaftigkeit: Die »moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur noch die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse […]. In den Handelskrisen wird ein großer Teil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern sogar der bereits erzeugten Produktivkräfte regelmäßig vernichtet. In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre – die Epidemie der Überproduktion.« (467f)

Im Urteil des US-Amerikaners Marshall Berman ist das Manifest – außer allem anderen – »the first great modernist work of art« (1988, 102). Kein bürgerlicher Autor, kein Prokapitalist hat jemals die geschichtliche Produktivität des Kapitals so besungen wie Marx. Ganz recht, erwidert Robert Kurz und spaltet Marx auf in einen der Öffentlichkeit zugewandten und einen geheimen (vgl. Haug 2002). Der öffentliche oder »exoterische« sei gleichsam bewusstloser Agent der kapitalistischen Modernisierung; der geheime aber, der »esoterische«, weise die Welt des Kapitalismus total und pauschal zurück. – An diesem Aufspaltungsversuch kann man im Gegenzug deutlich machen, was die marxsche Kapitalismuskritik auszeichnet: Sie malt nicht schwarz-weiß. Produktivität und Destruktivität des Kapitalismus hängen nach ihrer Einsicht untrennbar zusammen. Sie arbeitet die grundsätzliche Widersprüchlichkeit heraus. Das zeigt sich bereits in den ersten Sätzen des Kapital, wo Marx den Doppelcharakter der Ware sowie den der warenproduzierenden Arbeit analysiert. Ein diesbezüglicher Kernsatz, der dem Alltagsverstand gegen den Strich geht, lautet: »Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert.« (52) Seine Analyse des »Doppelcharakters« der Waren produzierenden Arbeit, als konkret-nützliche Gebrauchswert zu bilden und als »produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (23/58) oder »abstrakt menschliche Arbeit« Wert zu bilden (61), erklärt er zum »Springpunkt […], um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht« (58).

Marx nimmt die falschen Einheiten des Alltagsverstandes auseinander, wie er zugleich dessen falsche Trennungen aufhebt. Er richtet besondere Aufmerksamkeit auf Übergänge. Er macht dies nicht nur beim Übergang von einer ökonomischen Kategorie zur anderen – etwa von der Ware zum Geld –, sondern achtet auch auf Keimformen und Potenziale des Übergangs zu einer anderen Organisationsform der Ökonomie. Er identifiziert »Elemente der neuen Gesellschaft im Schoße der alten« (vgl. HKWM 3, 251ff). Im Sinn für Widersprüche und Übergänge konkretisiert sich der dialektische Charakter seiner Arbeitsweise.

Wer die Spannung solcher »Doppelcharaktere« nicht aushält und die Phänomene nach einer Seite hin reduziert, für den verdoppelt sich Marx wie bei Kurz in einen, der der einen Seite anhängt, und einen, der die andere Seite repräsentiert. Dieser verdoppelte und dadurch entdialektisierte Marx hätte uns nichts mehr zu sagen. Zum Glück ist er ein Hirngespinst. Der wirkliche Marx des Manifests und des Kapital, der die fundamentale Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Entwicklung analysiert, ist der noch immer aktuelle. Wir sind gut beraten, die radikale »Zwieschlächtigkeit« (Marx) der Phänomene im Auge zu behalten.

Die Finanzkrise hat diese Herausforderung verschärft. »Der Geldmarktsmensch«, sagt Friedrich Engels, »sieht die Bewegung der Industrie und des Weltmarkts eben nur in der umkehrenden Widerspiegelung des Geld- und Effektenmarkts, und da wird für ihn die Wirkung zur Ursache.« (37/488) Dem Alltagsverstand verdoppelt sich das Kapital ins schlechte Finanzkapital und das gute Realkapital. Doch das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben. Das heißt nicht, dass der Kampf um die Regulierung der Finanzmärkte nicht wichtig und momentan sogar vordringlich wäre. Nur muss man seine Grenzen kennen. Wenn die Finanzverhältnisse zur Ursache einer Krise werden können, so nur als bewirkte Ursache oder verursachende Wirkung des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion.

 

3. Alltagsverstand der Krise – populistisch ausbeutbar

Das Problem hat die Struktur eines Krimis. Zuerst glaubt man den Fall schon gelöst. Die tief verwurzelten, von Politikern und Medien genährten Alltagsvorstellungen kreisen mehr oder weniger um den Gedanken, schiere Gier habe die Banker dazu getrieben, das in sie gesetzte Vertrauen zu missbrauchen. Gibt man sich damit nicht zufrieden, erkennt man bald falsche Fährten. Und gräbt Schicht um Schicht tiefer. Gier gilt seit der Antike als Laster, christlich als Todsünde. Vertrauen alias Glaube gilt traditionell als Kardinaltugend; allerdings wird vor Vertrauensseligkeit gewarnt. »Gier« und »Vertrauensverlust« sind die Kategorien, mit denen man uns das Wesen der Finanzkrise erklärte. Zum Beispiel führte der Chefökonom des IMF, Olivier Blanchard, alles hierauf zurück. Den Vertrauensverlust selbst leitete er vom Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers her. Die praktische Relevanz dieses Gedankens besteht darin, der Regierung Bush mit ihrer Entscheidung, Lehman Brothers nicht wie vor- und nachher so viele andere Banken mit Steuergeldern zu unterstützen, die Schuld an der Lähmung des Weltfinanzsystems zu geben.

Extremfälle, wie sie die Finanzspekulation darbietet, lassen sich nach dem Rezept des Machiavelli verwenden. Mit ihnen füttert man die Bestie. Die Bestie, das sind wir, das Volk unterhalb der Konzernzentralen, Regierungen und Chefetagen der Medien, von deren Wortgewaltigen die Dramatik der Krise »buchstäblich mit jeder Woche neue rhetorische Maßnahmen verlangt«, wie Frank Schirrmacher 2008 zu Protokoll gegeben hat. »Vertrauen« und »Gier« als die Kategorien, in denen die Krise und ihre Bekämpfung ausgedrückt werden, setzen bei Regungen an, die im »Innern« eines jeden von uns vorgehen. Das macht sie uns plausibel. Als theoretische Begriffe eingesetzt, sind sie falsch, wenn man unter einem theoretischen Begriff das zu veränderndem Eingreifen befähigende Begreifen eines Zusammenhangs versteht. Was nun »Vertrauen«, »Gier« und andere Regungen dieser Art betrifft, so erhalten sie ihre konkrete Bedeutung – und das heißt ihre Wirkungsmöglichkeiten – vom gesellschaftlichen Rahmen. Nehmen wir ein Beispiel: Dass wir gegen bedruckte Papierzettel unsere Lebensmittel eintauschen können, ist eine Frage des Vertrauens. Vertrauen ist bereits von Adam Smith als Existenzbedingung von Papiergeld begriffen worden: »Wenn die Menschen eines bestimmten Landes ein derartiges Vertrauen in das Glück, die Redlichkeit und Besonnenheit eines bestimmten Bankiers haben, dass sie zu der Ansicht gelangen, dass er jederzeit auf Wunsch bereit ist, alle ihm vorgelegten Schuldscheine zu begleichen, haben diese Schuldscheine den gleichen Stellenwert wie Gold- und Silbergeld. Grund ist das Vertrauen, dass dieses Geld den Kunden jederzeit zur Verfügung steht.« (Zit.n. Sen 2009) Wir vertrauen darauf, dass der Staat dieses Zahlungsmittel garantiert; zugleich darauf, dass die anderen auf diese Garantie vertrauen; und endlich, dass, wie es die Frankfurter Allgemeine ihren Lesern erklärt hat, »die Zahl der Zettel in einem gesunden Verhältnis zur Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen steht« (Ruhkamp 2009). Anlass für die Zeitung, darüber nachzudenken, war die besondere Vertrauenskrise, die im Herbst 2008 die Reichen erfasst hatte. Diese bangten nicht um ihren Arbeitsplatz, sondern um den Kurs ihrer Wertpapiere sowie, vorausschauend, um die Kaufkraft ihres Geldes. Angesichts der drohenden Inflation, mit der sie als Folge der Staatsverschuldung zur Refinanzierung der Banken rechneten, bot sich die Flucht aus dem Geld in Sachwerte an. In der Tat vervielfachten sich die Umsätze der Münz- und Edelmetallhändler seit Oktober 2008, ja sogar der Ankauf landwirtschaftlicher Nutzfläche rückte ins Visier, während bei Bloomberg des Nachts darüber geredet wurde, wie der für etwas später zu erwartenden Inflation durch spekulative Anlagen in Nahrungsmitteln und Rohstoffen auszuweichen sei. Offensichtlich drückte sich darin eine unter Anlegern weit verbreitete Einschätzung aus, denn in der Folge schnellte der Ölpreis in die Höhe.

Papst Benedikt wünschte dagegen, wir möchten in der weltweiten Finanzkrise die Vergänglichkeit alles Materiellen erkennen. »Mit dem Zusammenbrechen der großen Banken«, erklärte er, »sehen wir jetzt, dass Geld verschwindet – es ist nichts.« Er fuhr fort: »Wer auch immer sein Leben auf dieser Realität aufbaut, auf materiellen Dingen, auf Erfolg, der baut sein Haus auf Sand.« (Reuters, 6. Okt. 2008) Nur das Wort Gottes könne das Fundament für ein richtiges Leben bilden. Es fällt schwer, bei solchen Äußerungen der Versuchung zur Satire zu widerstehen. Doch hat der Vatikan uns in diesem Fall dieser Sorge enthoben. Denn ökonomisch mochte er offenbar nicht aufs Wort Gottes bauen. Eine Woche zuvor war durchgesickert, dass er »eine Tonne Gold gekauft«, in Rohstoffe investiert und dafür Aktien abgestoßen hatte. Es geht dabei immerhin um ein Kapitalvermögen, dessen ausgewiesener Teil 2007 einen Buchwert von 1,4 Milliarden Euro besaß.26

26 Davon Devisen: 340 Mio; Anleihen und Aktien 520 Mio; Immobilien 424 Mio. So laut The Tablet, wo man die offiziellen Zahlen von 2007 ausgewertet hat. (»Vatikan investiert verstärkt in Gold«, FAZ, 29.9.2008, 14)

Kategorien wie »Vertrauen« und »Gier« sind gesättigt mit alltäglicher Erfahrung und daher fest verankert in dem, was man etwas voreilig den gesunden Menschenverstand nennt. Sprechen wir mit Gramsci lieber vorsichtiger vom Alltagsverstand. Diesem möchte man Hamlets Worte vorhalten, als ihm der Geist seines ermordeten Vaters begegnet ist: »Es gibt zwischen Himmel und Erden mehr Dinge, als eure Schulweisheit sich träumen lässt.« Nur dass es hier um in Geld ausgedrückte Werte geht, also, wenn man so will, um die Geister toter Arbeit, Geld, das seine Besitzer für sich arbeiten lassen, damit es sich übernatürlich vermehre.

Ein bescheidenes Beispiel, um den Horizont unserer Schulweisheit zu testen: Die Außenstände der österreichischen Banken in Osteuropa entsprechen in etwa dem Bruttoinlandsprodukt Österreichs, das heißt, definitionsgemäß, dem Gesamtwert aller Güter (Waren und Dienstleistungen), die innerhalb eines Jahres in Österreich hergestellt worden sind. Nun müssen die Österreicher ja von diesen Produkten leben. Wie kann es sein, dass sie diese Produkte aufessen und auf sonstige Weise verbrauchen und zugleich ihren »Wert« weggeben? Nun gut, sie mögen zehn Jahre lang jeweils zehn Prozent der Erlöse gespart und nun verliehen haben. Um dem Problem etwas mehr von seinem wirklichen Gewicht zu geben, zitiere ich aus einem Brandbrief, den eine Gruppe ehemaliger EU-Kommissare und Regierungschefs am 19. Mai 2008 an den Präsidenten der europäischen Kommission gerichtet hat und den neben Jacques Delors nicht nur Helmut Schmidt, sondern sogar Otto Graf Lambsdorff, Urgestein des Wirtschaftsliberalismus, unterschrieben hat. Als das Problem der Probleme benennt der Brief die bisher in der EU herrschende Wirtschafts- und Finanzmarktpolitik, die »auf Unterregulierung, ungenügender Überwachung und Unterversorgung mit öffentlichen Gütern« basiert habe. Wer würde da widersprechen? Zumal im Moment studentischer Streiks für bessere Bildungsbedingungen. Auch Universität und freier Bildungszugang sind solche öffentlichen Güter. Und schließlich deuten Delors, Schmidt, Lambsdorff und andere auf das mysteriöse Ding zwischen Himmel und Erde, den alle Vorstellungen übersteigenden Kreditberg, den sie als fiktives Kapital bezeichnen, möglicherweise ohne zu wissen, dass Karl Marx diesem Begriff seine aktuelle Fassung gegeben hat: »Finanzanlagen repräsentieren nun das Fünfzehnfache des Bruttoinlandprodukts aller Länder.« Ihr Geldausdruck entsprach der Summe der Preise aller Produkte und Dienstleistungen, die die Menschheit in fünfzehn Jahren hervorgebracht und doch wohl auch größtenteils verzehrt hat? Erscheint uns hier der Geist des konsumierten Reichtums in der Gestalt von Finanzanlagen?

Mit dem »gesunden Verhältnis« des Geldes »zur Menge der produzierten Güter und Dienstleistungen«, von dem der vorhin zitierte FAZ-Autor träumte, kann es nicht weit her sein – und nicht erst seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers.

4. Die Vorstellung vom »anständigen Kapitalismus« der »Realwirtschaft«

Alles […] Stehende verdampft

Karl Marx, Kommunistisches Manifest

Ohne weiter in den Wirkungszusammenhang einzudringen, der sich im Geisterbau des fiktiven Kapitals ausdrückt, beschworen Delors, Schmidt usw. die Rückkehr zum »anständigen Kapitalismus«. In dessen Bestimmung meint man ein leises Echo auf die Losung des Weltsozialforums, »die Welt ist keine Ware«, zu vernehmen: »Profitstreben ist das Wesen einer Marktwirtschaft. Doch wenn alles zum Verkauf steht, schmilzt der gesellschaftliche Zusammenhalt, und das System bricht zusammen.«

Gier, Spekulation und Kasinokapitalismus mit ihren jeden Bestand zum Verdampfen bringenden und heuschreckenartig alles Feste fressenden Akteuren haben uns dieser Erzählung zufolge in die Krise geführt. Aufatmend flüchten wir in die Welt der so genannten »Realwirtschaft«. Aber auch hier gibt das Problem keine Ruhe.27 Hat nicht der Realunternehmer Merkle sich vor den Zug geworfen, nachdem er seine Börsenwette gegen den Finanzchef des ebenso realwirtschaftlichen Porschekonzerns verloren hat? Oder was ist mit Porsches VW-Spekulation? Der amerikanische Finanzanalytiker Henry Plodget beschrieb jüngst General Electrics als »gigantischen Hedge-Fonds, der auch Kühlschränke herstellt«.28 Aber warum in die Ferne schweifen? Haben nicht schon vor Jahren Siemensleute ihren Konzern als eine Bank geschildert, die sich nebenbei auch noch eine Art Hobby-Werkstatt leiste? Wie Siemens jonglierte auch Volkswagen mit Milliardenbeträgen, um Währungsdifferenzen auszunutzen. BMW verzeichnete 2009 in der Automobilsparte einen Verlust von 265 Millionen Euro, während in der Sparte »Finanzdienstleistungen« 355 Millionen Euro Gewinn gemacht wurden. Was ist BMW? Eine profitable Bank mit notleidender Autoproduktion am Hals? So sah General Motors bis 2007 aus. Man tat sich schon lange schwer, mit Autos Geld zu verdienen; was den Konzern zuletzt in den Ruin trieb, waren die Finanzgeschäfte, die zuvor den Gewinn eingespielt hatten. BMW stand 2009 im Vergleich dazu wie einer der Sieger im Konkurrenzkampf da, bereits im Folgejahr des Ausbruchs der Finanzkrise Profit aus dem Kreditgeschäft ziehend. Kurz: Die Trennung von Finanzkapital und Industriekapital ist zwar nicht gegenstandslos, doch erstens besteht sie nur relativ und zweitens ist sie ein zu Erklärendes, das allein noch nichts erklärt.

27 Die auf Realwirtschaft setzen, »forget that speculation is a fundamental activity of capitalism, not an optional one« (Katz 2011).

28 »G[eneral]E[lectric] sendet Krisensignale«, Handelsblatt, 26.9.2008, 1

Der US-amerikanische marxistische Wirtschaftshistoriker Robert Brenner hält die – in der linken Theoriedebatte seit den 90er Jahren vorherrschende – »Idee eines finanzgeleiteten Kapitalismus« für einen »Widerspruch in sich«, weil die Finanzerträge außer beim Kundenkreditgeschäft »auf fortwährende Gewinnerzielung in der Realwirtschaft angewiesen« sind (2009, 7). Kapital kennt viele Formen. Als industrielles Anlagekapital verkörpert es sich in Produktionsmitteln. Diese haben auf den ersten Blick etwas Beruhigendes. Man kann sie ansehen. Wo sie sind, gibt es auch Arbeitsplätze. Doch die Beruhigung täuscht. »Das Wesen ist in die Funktionale gerutscht«, heißt es bei Brecht. Man kann Fabriken fotografieren oder Maschinen. Doch ihren Kapitalcharakter hat man damit nicht aufgenommen. So wenig wie man Lohnarbeit als solche in einem Schnappschuss festhalten kann. Man kann nur Menschen fotografieren, die konkrete Arbeitstätigkeiten ausführen. Die gesellschaftliche Form der Arbeit, Lohnarbeit zu sein, sieht man allenfalls in Spuren, und wenn, dann nur, weil man bereits weiß, dass sie die gesellschaftlich herrschende Form ist.

Gleichwohl ist das Finanzkapital noch beunruhigender. Im Ausdruck »finanzielle Dienstleistung« spüren wir den Euphemismus: Allenfalls Selbstbedienung auf dem Wege der Fremdbedienung ist hier das ungeschriebene Gesetz. Jeder ist unter den gegebenen Verhältnissen sich selbst der Nächste. Wer sich darüber entrüstet, vergisst, dass dies genau genommen auch für jeden Brotfabrikanten, überhaupt für alle kapitalistische Realökonomie gilt, bloß dass es hier, wo nur Geldverhältnisse im Spiel sind, besonders krass hervortritt. In diesem Sinne sind alle Kapitalunternehmen »Selbstbedienungsläden«. Sie »dienen« der allgemeinen Bedürfnisbefriedigung nur in dem Maße, wie es ihnen selber dient. Was da wirklich für Dienste geleistet werden, ist eine Frage der Kräfteverhältnisse zwischen derart »Dienenden« und »Bedienten«, Kräfteverhältnisse, die sich, wie Nicos Poulantzas sagt, im Staat »verdichten« (vgl. Wissel 2010, 1948). Dies einmal von Grund auf begriffen, büßt Peter Gowans umstandslose Absage an die Annahme, dass »Veränderungen der sog. Realwirtschaft sich auf einen vermeintlichen finanziellen Überbau auswirken« (2009, 5), ihren Sinn ein. Dass der finanzielle Überbau sich selbst zu bedienen strebt, enthebt ihn nicht des Überbaustatus.

 

Der Finanzmarkt muss als Moment des kapitalistischen Gesamtprozesses untersucht werden, aus dem er herauswächst und dem er seine Kreditvehikel zur Verfügung stellt – oder sie ihm vorenthält, wie in der Krisenphase der Stockung des Kapitalflusses zwischen den Banken. Die ›Banker‹ als solche sind nicht die Verursacher der Krise.29 Wahr ist allerdings, dass der Finanzmarkt und sein Lieblingskind, das fiktive Kapital, nicht als Effekt der »Realökonomie« betrachtet werden dürften, würde man unter Realökonomie die Gebrauchswertseite der Wirtschaft verstehen. Denn wenn es unmöglich ist, »von den verschiednen Menschenracen direkt zum Bankier oder von der Natur zur Dampfmaschine« überzugehen (42/183f), so auch vom Gebrauchswert zu den Finanzverhältnissen. Wenn aber »Realökonomie« den realen Prozess der kapitalistischen Produktion bezeichnet, wenn man also die Verwertungsbeziehungen als zur Realität gehörend, ja mehr noch, als das Real-Herrschende begreift, dem mehr Realität zukommt als den beherrschten Gebrauchswerten, dann sind die Finanzmarktbewegungen tatsächlich Ausdruck der wirklichen Ökonomie und der ihr entspringenden Interessegegensätze und -konvergenzen. Denn die Gebrauchswertwirtschaft ist nicht die wirkliche Ökonomie. Sie ist deren passives Material, das nur insofern durchschlägt, als es in seiner stofflichen Materialität vorgibt, was sich mit ihm machen lässt. Eher könnte man sagen, dass der real herrschende Kapitalismus die für alle gesellschaftlichen Formen naturnotwendige Gebrauchswertwirtschaft als Geisel genommen hat.

29 Claudio Katz überzieht allerdings das Argument der systemischen Funktionalität der Finanzakteure: »Far from introducing a distortion into contemporary capitalism, they have acted according to the needs of this mode of production.« (2011) Er blendet aus, dass diese Produktionsweise vor sich selbst, ihren immanenten »needs«, beschützt werden muss. Dies als Staatsaufgabe begriffen zu haben, macht die Stärke der von Katz kritisierten Neokeynesianer aus. Er kritisiert sie von einem metaphysischen Standpunkt, wenn er es zum »principle« erklärt, »that the state is not an entity that serves the common good but is an organ of protection of the ruling class« (ebd.). Mit diesem Entweder-Oder sieht er nicht, dass der parlamentarisch-demokratische Staat ein umkämpftes Terrain und seine Politik das Ergebnis von Kräfteverhältnissen ist.