Die kulturelle Unterscheidung

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3. Das Materielle der Kultur

Zunächst müssen wir auf die Qualifizierung der Kultur mit dem beunruhigenden Eigenschaftswort ›materiell‹ eingehen. In der Umgangssprache steht es für unterschiedliche Bedeutungen. Wenn Proudhon sagt, Talent könne »nicht materiell aufgewogen werden« (1841; zit. n. 2/49), so meint er ›finanziell‹. Wenn Tooke von »einer materiellen, nicht fingierten Abtretung« spricht, so meint er »eine wirkliche Abtretung« (1844, 34f; zit. n. 24/472). Wenn Max Weber von Gerichtsurteilen spricht, »die auf formal korrekten, aber materiell unkonstitutionellen Gesetzen beruhen« (GPS, 41), dürfte er den Gesetzesinhalt im Unterschied zur Gesetzesform meinen. Max Weber setzt ›materiell‹ hinzu, wo er das angelsächsische »make a living« eindeutscht als »sein Leben (materiell) aus etwas machen« bzw. seine »Subsistenz« aus etwas ziehen (vgl. WuG 119). Unter kapitalistischen Bedingungen bedeutet das ›Materielle‹ ein Einkommen in Geldform. Doch der Term bleibt diffus, respektiert diskret das ungeschriebene Gesetz, dass man ›über Geld nicht spricht‹. Wenn Weber »am Gesellschaftszweck materiell oder ideell Interessierte« (WuG, 208) unterscheidet, kann das ›materiell Interessierende‹ auch Machtzuwachs bedeuten, der sich mittelbar ›zu Geld machen‹ lässt.

Gordon Childe sagt von den Dörflern der neolithischen Vor-Töpferei-Zeit im heutigen Jarmo (Kurdistan), sie hätten bereits »den größten Teil der materiellen und ideologischen Ausrüstung [besessen], über die später neolithische Bauern verfügten« (1960, 31). Als Beispiele für »ideologische« Ausrüstungsgegenstände nennt er »weibliche Statuetten« und »Tonstempel zur Vervielfältigung geometrischer Motive«, während er als »materielle« eine Reihe von Arbeitsmitteln anführt, nämlich »Handmühlen oder Reibsteine, um Korn zu Mehl zu vermahlen, gewölbte Tonöfen, um Mehl zu Brot zu verbacken« sowie »durch Schleifen geschärfte Beile und Äxte« (ebd.). Offenbar sind Objekte des Kults oder des Schmucks für ihn ideologisch, Werkzeuge dagegen materiell. Dass er allerdings die Tonstempel, die nicht selber Schmuck sind, sondern zur ästhetischen Markierung dienen, also Werkzeuge bzw. Arbeitsmittel sind, nicht zur materiellen sondern zur ›ideologischen Kultur‹ rechnet, zeigt, dass er sie nicht von der unmittelbaren Funktion, wie das Beil ein Werkzeug zu sein, sondern vom Endzweck ihres Produkts her bestimmt. Entscheidend ist für ihn demnach die Konsumtion als der gesellschaftliche Gebrauch, der von einem Produkt gemacht wird. Doch dann durfte Childe keine konkreten Beispiele für materielle Werkzeuge bringen. Denn das Beil könnte zu Opferzwecken benutzt, im Ofen könnte Ritualbrot gebacken worden sein. Damit müsste es sich für ihn auch bei diesen Arbeitsmitteln um ›ideologische‹ Objekte handeln. Es kommt noch schlimmer. Woher weiß er, dass die »weiblichen Statuetten« keine Bedeutung für die materielle Produktion besessen haben? Die Arbeit des traditionellen vietnamesischen Reisbauern etwa war »in erster Linie ein ritueller Vorgang, eine Eingliederung des eigenen Handelns in einen apriorisch-sakralen Geschehensablauf«: eine Missernte droht, »wenn man die herkömmlichen kultischen Pflichten nicht erfüllt« (Wulff 1972, 51). Eine Prozession, bei der eine »weibliche Statuette« um die Felder getragen wird, um eine gute Ernte zu beschwören, gehörte für die Beteiligten womöglich zur materiellen Produktion. Oder der Hestia- bzw. Vesta-Kult, der sich ums Feuermachen dreht, ändert nichts am ›materiellen‹ Charakter des Feuers. Mythisch deutet er auf die Bedingungen und Konsequenzen dieser anthropogenetischen »Hauptinvention!«, wie Marx die Bedeutung der Zähmung des Feuers gegen Morgan betont (Ethnol. 172). Diese Erfindung ist für alles Folgende grundlegend, weil sie eine neuartige Umweltunabhängigkeit vermittelt und neuen Technologien der Werkzeugherstellung und der Nahrungserschließung den Weg bahnt; sie verlangt den künftigen Menschen die Überwindung der den Primaten angeborenen Feuerscheu ab und zieht eine spezifische Arbeitsteilung und Kooperation zur Unterhaltung der Glut nach sich (Schurig 1976, 295). – Offenbar trägt jene Denkweise vom konsumtiven Endzweck und vom Standpunkt moderner Weltauffassung her eher zur Verwirrung als zur klaren Unterscheidung bei.

Der Vulgärmaterialist macht keine Umwege über die teleologische Struktur der Arbeitstätigkeiten und der Zweckbestimmung ihrer Produkte. »Materiell« ist für ihn etwas Physisch-Stoffliches, das für die Augen sichtbar und mit den Händen berührbar ist. Auch im »nichtmarxistischen Materialismus war es besonders im 19. Jahrhundert verbreitet, ›Materie‹ als Stoff zu deuten und diesen mit auf Atomen aufbauenden physikalischen Strukturen zu identifizieren« (Wittich 2004, 816f). Die Daseinsform, die man ihm zuzuordnen pflegt, ist das Ding oder die Sache, jedenfalls ein stofflicher Gegenstand, der sich (sei es auch mit optischen und haptischen Hilfsmitteln) betrachten und berühren lässt. Die Entdeckung der subatomaren Wirklichkeit hat diese Vorstellung überholt. Einsteins berühmte Formel E = MC2 spielt innerhalb der ›materiellen Welt‹, wie schon Hegel den Alltagsverstand mit seiner Bestimmung des Lichtes als »unkörperliche, ja immaterielle Materie« durcheinander gebracht hat (Enz I, W 8, 118). Und vom Ideellen, das dem Materiellen entgegengesetzt zu werden pflegt, lässt sich vom wissenschaftlich-philosophischen Standpunkt festhalten, dass es »stets von Materiellem genetisch, physiologisch oder auch technisch abhängig bleibt« (Wittich 2004, 818). Verliert damit der Term ›materiell‹ nicht jede Trennschärfe?

Lenin geht energisch dazwischen und bestimmt »Materie« erkenntnistheoretisch als dasjenige, was »außerhalb« des Bewusstseins und »unabhängig« von diesem existiert (LW 14, 141 u.ö.). Damit kann etwa das Licht, ohne das man nichts gegenständlich sehen kann, ohne dass es selbst als solches gegenständlich sichtbar wäre, als etwas Materielles vorgestellt werden, während eben diese Vorstellung als etwas Ideelles gelten kann. Doch diese Lösung des Problems zieht weitere Probleme nach sich. Sie gründet auf der dualistischen Denkstruktur, wie sie seit Descartes und Kant vorherrscht. In der Tat ist sie im Marxismus-Leninismus zu einer dualistischen Ontologie ausgebaut worden, derzufolge es zwei Seinssphären, die Materielle und die Ideell-Immaterielle, auch als ideologisch begriffene gibt, der das weltanschauliche Bekenntnis zum Primat der Materie abverlangt wurde. Diese Denkweise hat vollends zu heillosen Verwirrungen und zum Versuch, diesen mit scholastischen Spitzfindigkeiten zu entkommen, geführt (vgl. Haug 1979). Das »Bewusstsein«, das bei Lenin Materie als das von sich selbst Ausgeschlossene definiert, ist das Individuelle, wenn auch abstrahiert und verallgemeinert. Geht man dagegen wie Marx und Engels von den in Gesellschaft bewusst tätigen Individuen und den Bedingungen ihrer Handlungsfähigkeit aus, kommt man zu Faktoren wie Sprache, Institutionen, Werkzeuggebrauch, Wissen, also kulturell kumulierten und weitergegebenen historischen Hervorbringungen, mittels derer die Individuen untereinander und mit der außermenschlichen Natur in Beziehung treten.

Der Dualismus der beiden Seinssphären ist seit Descartes’ Zweisubstanzenlehre ungeachtet aller Einsprüche solide verankert in der ›westlichen‹ Selbstauslegung, zumal er mit der Innen-Außen-Unterscheidung des individualistisch geprägten Alltagsverstandes konvergiert. Das Unbehagen angesichts der Auseinanderschneidung der Lebensphänomene äußert sich in einem Verbindungsdenken auf Basis der dualistischen Zerfällung. Es lässt sich beobachten am Beispiel des deutschsprachigen Wikipedia-Artikels »Materielle Kultur« (Stand 20.8.2010). Er definiert zunächst: »Als materielle (auch: materiale) Kultur wird die von einer Kultur oder Gesellschaft hervorgebrachte Gesamtheit der Geräte, Werkzeuge, Bauten, Kleidungs- und Schmuckstücke und dergleichen bezeichnet.« Kultur ist hier nur ein anderes Wort für Gesellschaft, und materielle Kultur reduziert sich auf deren dingliches Skelett, auf Gebrauchsgegenstände ohne Gebrauch und Behausungen ohne Bewohner, wie sie Museen sammeln oder zumindest in Fragmenten präsentieren könnten. Der Artikel fährt fort: »Kultur und Materielles sind ohne einander nicht denkbar. Erst durch eine Verbindung mit dem Materiellen und Immateriellen entsteht ein Zugang zum Verstehen des Alltags verschiedenster Gesellschaften.« Die Konfusion regiert. Bemerkenswert ist gleichwohl das Schema, das sich als das Kombinationsparadigma bezeichnen lässt. Man ›weiß‹ dabei, dass es eine Sphäre des Materiellen und eine Sphäre des Immateriellen gibt und dass die Kombination beider Sphären die Lösung birgt. Alfred Kosing referiert in den Grundlagen des historischen Materialismus die »in der marxistisch-leninistischen Literatur [… verbreitete] Auffassung, dass die Kultur einer bestimmten Gesellschaft durch die Gesamtheit ihrer materiellen und geistigen Produkte oder Werte gebildet werde. Auf dieser Grundlage wird zwischen der materiellen Kultur und der geistigen Kultur unterschieden, wobei materielle und geistige Kultur in einem weiteren Kulturbegriff zusammengefasst werden, während der engere Kulturbegriff lediglich die geistige Kultur enthält.« (1976, 704f) Statt vom widersprüchlichen, gleichwohl einheitlichen sozialen Lebensprozess auszugehen und dessen historische Ausdifferenzierung zu rekonstruieren, gehen diese und ähnliche Bestimmungsversuche von fertigen Rubriken aus, um sie nachträglich in eine Art von Ordnung zu bringen. Aber geistige Kultur gibt es an sich ebenso wenig wie materielle Kultur, und es steigert die Verlegenheit eher noch, ihre »Unterscheidung« auf den Status »eines ersten Gesichtspunkts der Klassifizierung kultureller Verhältnisse entsprechend der gesellschaftlichen Lebensbereiche« zu reduzieren.68 Es sind dies konzeptionelle Zugriffe auf eine widersprüchliche und antagonistische Wirklichkeit, und diese Zugriffe sind historisch und sozial situiert. Es sind keine wissenschaftlichen Begriffe, sondern gängige Kategorien, die nicht ohne Kritik in die Theorie übernommen werden können.

 

4. Ausgrabungsfund und archäologische Ergänzung

Die Ethnologie hat es mit lebenden Objekten, die Archäologie mit ausgestorbenen zu tun. Jene geht von der kommunikativen Bewegung aus, diese vom stummen fragmentarischen Beweisstück. Man könnte daher meinen, ein an stofflichen Dingen oder Umweltveränderungen orientiertes Verständnis materieller Kultur sei wie geschaffen für die Archäologie, da diese kein Leben vorfindet und häufig in ›vorgeschichtlichen‹ (das heißt, vor der geschriebenen Geschichte existierenden) Bezügen, an Stelle der Dokumente oder Quellen nur Relikte längst vergangener Kulturen zur Verfügung hat bzw. sucht.

Doch auch wenn es sich bei diesen Überbleibseln im Unterschied zu den formellen Zeichenträgern nur um physisch-stoffliche Dinge handelt, wird niemand auf die Idee kommen, ihnen die Bedeutungsdimension abzusprechen. Wo die Archäologie sich der Vorgeschichte widmet, sind »ihre Urkunden die Werkzeuge, Waffen, Hütten, die die Menschen der Vorzeit hergestellt haben, um sich Nahrung und Obdach zu sichern« (Childe 1959, 41). Urkunden müssen gelesen werden. Das gilt nicht nur für schriftliche Dokumente. Auch vorgeschichtliche Objekte, die keine Symbole tragen, müssen ›entziffert‹ werden. In ihrem Fall heißt das, sie müssen als funktional und als Bestandteile eines Ensembles funktionaler Dinge und Umweltveränderungen, auf das eine einstige Kultur sich als auf ihre Mittel gestützt hat, verstanden werden. Das gilt nicht nur für die eigentlichen produzierten Kulturmittel, sondern mutatis mutandis auch für den Abfall, der in Gestalt abgeschlagener Steinsplitter, Asche, Tierknochen usw. bei ihrer Produktion bzw. Konsumtion angefallen ist, Exkremente des Einsatzes stofflicher Kulturmittel. Ohne eine solche zumindest ansatzweise ›Lektüre‹ würden sich dem archäologischen Blick keine archäologischen Objekte aus dem Ausgrabungsmaterial abheben. Es bliebe bei Abraum, einem Haufen indifferenter Naturdinge.

Das Problem, das bei Archäologen und Ethnologen auf der Hand liegt, dass auf dem Weg vom Augenschein zum Verständnis eine Distanz zu überbrücken ist, stellt sich in anderer Form auch in zeitgenössischen Erkenntnisprozessen. Brecht hat das Problem in seiner Schrift Der Dreigroschenprozess – Ein soziologisches Experiment umrissen. Das Wesen eines kapitalistischen Industriebetriebs lässt sich nicht mit den Augen sehen oder mit der Kamera photographieren. Es ist »in die Funktionale« gerutscht. Sie muss folglich erforscht und ans Licht gezogen werden. Ohne Theorie ist das nicht möglich. Louis Althusser hat das gleiche Problem epistemologisch reflektiert. Ohne Abstraktionen lässt die Wirklichkeit sich nicht erkennen. So ist zum Beispiel die kapitalistische Produktionsweise fürs Auge unsichtbar, beherrscht aber die sichtbare Realität »terriblement« mehr als die sicht- und berührbaren Objekte (1969, 10).

Hält man also an der Gleichung materiell = stofflich-physisch fest, lässt sich der Begriff der materiellen Kultur nicht halten. Das Stoffliche ist als solches kein Kulturelles, so wenig wie eine Lautfolge außerhalb einer Sprache schon ein Wort ist. Kurz, man wird zugeben müssen, dass die Funde, um als Kulturmittel oder als Exkremente einer Kultur gelten zu können, als solche gedanklich (re)konstruiert werden müssen. Dies geht aber nur, wenn man sich auf den im Begriff des tätig, durch Arbeit vermittelten und in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen vollzogenen lebensnotwendigen Stoffwechsels Mensch-Natur implizierten Sinn des Stofflichen besinnt. Schneidet man die materielle Kultur dagegen von den Lebensbedürfnissen und von der zur Mittelbeschaffung für ihre Befriedigung ausgeübten Arbeit ab und liefert sie dem toten Stoff aus, verliert sie ihren möglichen Sinn.

Während also zum Erkenntnisobjekt der Ethnologie unmittelbar soziale Gebrauchsweisen von Dingen zählen, ist die Archäologie darauf angewiesen, mögliche Gebrauchsweisen zu ihren Funden hinzuzudenken. Über die archäologische Interpretation der praktisch-funktionalen Bedeutung und die technologische Rekonstruktion der Machart hinaus gehört eine weitere, die ins Feld einer historischen Anthropologie fällt: Die Machart der Funde lässt Rückschlüsse auf die dabei vorausgesetzte epistemische und operative Intelligenz sowie auf den verallgemeinerten Erfahrungsfundus zu.

Wie Marx von der lebendigen Arbeit sagt, dass sie die in den Produktionsmitteln steckende tote Arbeit zum Leben erweckt, so hätte die Archäologie keine Objekte, würde sie diese Leblosen nicht zum Leben erwecken, d. h. einer intuitiven imaginären Wiederbelebung ihrer Rolle im Rahmen einer einstmals lebendigen Kultur unterziehen. Eine Tonscherbe als solche zu identifizieren, ordnet sie in der Vorstellung einem Gefäß oder einer Keramikfigur zu, zu der sie wiederum einen sozialen Gebrauch hinzuvermutet. Diesen Akt kann man die archäologische Ergänzung nennen. Sie ist für die Archäologen so selbstverständlich, dass die methodologische Reflexion solcher Ergänzungshandlungen erst spät auftritt. Unterstützung kann diese Reflexion bei der von Klaus Holzkamp gegründeten »Kritischen Psychologie« finden. Diese hebt an bei der »historischen Rekonstruktion von urgesellschaftlichen Grundformen menschlicher Arbeit […] im Problemgebiet der Anthropogenese, im Umkreis von paläontologischen und archäologischen Fragestellungen und Befunden« (Holzkamp 1973, IV, 106). Ausgehend von Kulturfossilien muss sie Aussagen über Formen der Lebensgewinnung und Gesellschaftlichkeit ableiten. Solche »erschließenden Interpretationen unterliegen der Gefahr der Beliebigkeit« und müssen auf jeden Fall dem Prinzip der »sparsamsten Erklärung« gehorchen, wie es von Lloyd Morgan (1894) als »principle of parsimony« formuliert worden ist (Holzkamp IV, 65): Die an ihren Resultaten ablesbaren Kulturleistungen dürfen niemals »as the outcome of the exercise of a higher psychical faculty« interpretiert werden, wenn es sich durch eine Fähigkeit erklären lässt, »which stands lower in the psychological scale« (zit. n. ebd.). Dieses Postulat kann analog in Bezug auf die gesellschaftliche Organisation der entsprechenden Tätigkeit Geltung beanspruchen. Zu vermeiden sind Deutungen vom Standpunkt der dem archäologischen Beobachter zeitgenössischen Kultur. Dieser Gefahr sieht ethnologische Feldforschung sich beständig ausgesetzt, wenn sie für die beobachteten Handlungen etwas Homologes in der eigenen Kultur sucht. Ihre Interpretation überbrückt dann eine Ungleichzeitigkeit im Sinne einer gegenwärtig bestehenden kulturell-historischen Distanz. Die Überbrückung beruht auf »an intuitive comparison or comprehension of the processes involved« (Lemonnier 1986, 151). Deutungen, die die kulturelle Distanz vergessen, kann man ›selbstzentristisch‹ oder ›automorphisierend‹ nennen.

Intuitiv vergleichendes Verstehen prägt zunächst auch die archäologische Ergänzung. Zwar sind nicht die sozialen Gebrauchsweisen von Dingen ihr unmittelbares Erkenntnisobjekt, sondern sie hat einzig diese aus dem Leben gerissenen Dinge vor sich bzw. was von ihnen übriggeblieben und gefunden worden ist. Als diese physisch beschreibbaren Dinge sind sie indes keine Kulturgegenstände. Im bloß Stofflichen sind sie als solche nicht zu erfassen. Erst durch die mehr oder weniger intuitive oder epistemologisch reflektierte imaginäre Belebung werden sie als Kulturgegenstände für unser Verstehen konstituiert. »Sehen« in diesem Sinn beschränkt sich also nicht auf den sinnlich-optischen Akt. Immanuel Kants Satz, »Anschauung ohne Begriffe ist blind, Begriffe ohne Anschauung sind leer«, erhält für Archäologen einen professionell-technischen Sinn. ›Sehen‹ heißt für sie, ›Bedeutungen‹ sehen; das aber heißt, stoffliche Beschaffenheiten zu deuten.

Für die archäologische Ergänzung sind die Funde Indizien, Glieder einer Beweiskette, die nur vermutet oder erschlossen werden kann. Am ›Artefakt‹, einem Term, der diskret die Schwebe hält zwischen einem ›Kunstwerk‹ und damit der traditionellen Dominanz des Kunstparadigmas Tribut zollt, und dem, worum es eigentlich geht, einem Arbeitsprodukt, lassen sich Material und etwaige Datierung naturwissenschaftlich getreu feststellen. Arbeitsprodukte werfen außer der Frage nach ihrem Zweck bzw. ihren Gebrauchsweisen die Frage nach den Arbeitenden, ihren Arbeitsmitteln und Arbeitsprozessen mit ihren »operational sequences« (Lemonnier 1986, 149) auf. Von der Bearbeitung des Materials lässt sich auf die Technik und von dieser auf die Technologie schließen. Letztere verweist auf die Akkumulation von Erfahrungen, die zu einer Form von Wissen verallgemeinert und abstrahiert worden sein müssen. »Diese Dokumente verraten eine zunehmende technische Kunstfertigkeit, ein sich ansammelndes Wissen und eine fortschreitende Organisation« (Childe 1959, 41). Die großen »Entdeckungen und Erfindungen«, die den Archäologen zur Periodisierung dienen, sind »verdichtete Verkörperungen und Anzeichen von Neuerungen in der gesellschaftlichen Überlieferung« (37). Derart ›verstandenen‹ Artefakten und ihren unterstellten Voraussetzungen können Hinweise auf Arbeitsteilung innerhalb eines vorgeschichtlichen Gemeinwesens entnommen werden. Oder sie deuten auf Verkehr mit fremden Gemeinwesen, Handel zwischen ihnen. Das Ziel sind hier möglichst fundierte Wissensergänzungen: etwa von Bronzefunden auf Technologie und Wissen zu schließen und darüber hinaus auf Raub, Tribut oder Handel.

5. Gegenständliche Kultur

Der von Raymond Williams begründete Kulturelle Materialismus fasst Kultur als »a (social and material) productive process« (1980, 243). In diesem Rahmen behandelt er traditionell als geistig beschriebene »specific practices, of ›arts‹, as social uses of material means of production (from language as material ›practical consciousness‹ to the specific technologies of writing and forms of writing, through to mechanical and electronic communications systems)« (ebd.). Williams geht es um »all forms of signification, including quite centrally writing, within the actual means and conditions of their production« (1981, 64f). Er kam zu der Auffassung »that a fully historical semiotics would be very much the same thing as cultural materialism« und begrüßte »certain tendencies in this direction, as distinct from some of the narrower structuralist displacements of history« (65).

Indem er Sprache als etwas Materielles begreift, passt der Begriff ›materielle Kultur‹ nicht in Williams’ Forschungsprojekt. Unter Materialität versteht er nicht mehr Stofflichkeit und Dinglichkeit. Sein Begriff der Sprache als »material ›practical consciousness‹« knüpft an Marx’ Auffassung der Sprache als der »unmittelbaren Wirklichkeit des Gedankens« (3/432) an.69 »Der ›Geist‹«, spotten Marx und Engels, »hat von vornherein den Fluch an sich, mit Materie ›behaftet‹ zu sein, die hier in der Form von […] Tönen, kurz der Sprache auftritt.« (3/30)70 Diese »ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewusstsein«, wie sie auch »aus dem Bedürfnis […] des Verkehrs mit anderen Menschen« entstand (ebd.).

Als kulturelle sind die Dinge kulturell-gegenständlich. In philosophisch reflektiertem Sinn kann es daher strictu sensu keine ›immaterielle Kultur‹ geben. Mit dem Wegfall dieses seines binären Komplements verliert der Begriff der materiellen Kultur seine Trennschärfe. Sofern es um die mobilen Gegenstände und um die immobilen Architekturen geht, auf die Kultur in einer ›Kulturlandschaft‹ sich stützt und mittels derer bzw. in denen sie sich reproduziert, liegt es nahe, von real-gegenständlicher Kultur zu sprechen und dieser die dank real-gegenständlicher Informationsträger und Abspielgeräte konsumierbare imaginär-gegenständliche Kultur zur Seite zu stellen.

Der Begriff des Objekts verweist auf den eines Subjekts, das sich auf Elemente oder Ausschnitte der Wirklichkeit bezieht. Bewusst auf Gegenstände sich beziehen zu können, ist von der philosophischen Anthropologie als Gegenständlichkeit gefasst worden. Um Gegenständlichkeit von Objektivität zu unterscheiden und die Form des Objektseins für ein Subjekt zu bezeichnen, hat Schopenhauer den Term »Objektität« eingeführt. Für Hegel ist die Gegenständlichkeit ins dialektische Drama der Entfremdung des Geistes und der schließlichen Aufhebung dieser Entfremdung eingeschrieben. Der junge Marx fasst »Gegenständlichkeit« als den humanspezifischen Realitätsbezug, der intersubjektiv vermittelt und für die Konstitution des menschlichen Subjekts entscheidend ist. Menschen leben in einer »von dem Menschen erzeugten gegenständlichen Welt, seinen zur Gegenständlichkeit herausgebornen Wesenskräften« (40/583). Da das Herausgebären der humanspezifischen Wesenskräfte ein geschichtlicher Prozess ist, kann den menschlichen Individuen ihr Wesen nicht angeboren sein, während die biologische Evolution seit Jahrzehntausenden zunehmend gesellschaftlich neutralisiert worden ist, indem nicht nur die »Fortschritte in der Ausrüstung, die die Menschen für sich selbst herstellen – das heißt in der Kultur –, an die Stelle körperlicher Veränderungen getreten« sind (Childe 1959, 40), sondern auch der »von kooperativer Arbeit getragene gesellschaftlich-historische Prozess« in die »Aufhebung individueller Lebenserhaltung in gesellschaftliche Lebenserhaltung« mündete (Holzkamp 1973, S IV, 137). Parametern der Werkzeugentwicklung sind folglich Parameter der Entwicklung institutionalisierten sozialen Zusammenwirkens und gesellschaftlicher Herrschaft zur Seite zu stellen. Friedrich v.Hayek interpretiert diesen Prozess sozialdarwinistisch als Evolutionsprozess, in dessen Verlauf »Institutionen sich durch einen Prozess der Ausschaltung der weniger effizienten entwickelt« haben (1967, 24, unter Berufung auf Tucker 1756). Dagegen hebt die Kritische Psychologie das Moment der auf Erfahrung gestützten Vorausschau und planenden Umgestaltung hervor.

 

Im Zuge der historischen Entfaltung des interdependenten Gefüges von gesellschaftlicher Arbeit, sozialer Organisation, Bedürfnissen und sprachlich artikuliertem Bewusstsein kehrt sich das Verhältnis von Gattung und Wesen des Menschen um. Marx hat die Erkenntnis dieser Umkehrung in Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbach gewonnen. Was in der Philosophie als »menschliches Wesen« (essentia) diskutiert worden ist, vermochte dieser »nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit« zu fassen. Dagegen Marx: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« (3/6) Lucien Sève ergänzt: Dem menschlichen Individuum ist sein Wesen nicht angeboren; es hat es außer sich, »außermittig«71, als »gesellschaftliche Menschenwelt, und jedes natürliche Individuum wird dadurch zum menschlichen, dass es sich durch seinen wirklichen Lebensprozess […] vermenschlicht.« (1972, 156) In der menschlichen Natur, welche die Neugeborenen mitbringen, ist die Potenzialität und damit eine enorme Variabilität angelegt, die jedoch kein Individuum aus sich selbst heraus, sondern ausschließlich in der historisch gewordenen und weiter werdenden gesellschaftlichen Welt verwirklichen kann. Mensch zu sein ist ein nachgeburtliches realisandum. »Man sieht«, notiert Marx 1844 in Paris, »wie […] das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist« (40/542). Was die Archäologen in diesem Buch aufschlagen, sind frühere Kapitel. Ihre Funde sind oder deuten auf sachliche Realisationsmittel der historischen Menschwerdung, zugleich verschwiegene Zeugen der hierfür unabdingbaren sozialen Organisation, deren konkretes Leben Kultur ist, die sich über den Kult durch ein Ensemble normativer Selbstbegrenzungen gegen die angeborene Wesenlosigkeit und Variabilität verteidigt.

Der Begriff der Gegenständlichkeit im philosophisch-anthropologischen Sinn setzt die Unterscheidung von Umwelt und (menschlicher) Welt voraus. Bei Gordon Childe gehen die Begriffe durcheinander, wo er unter »Umwelt« nicht nur »Klima (Hitze, Kälte, Feuchtigkeit, Wind) und physiographische Erscheinungen wie Gebirge, Meere, Flüsse und Marschland, […] tierische Feinde« versteht, sondern »im Falle des Menschen, sogar gesellschaftliche Überlieferungen, Gewohnheiten und Gesetze, wirtschaftliche Zustände und religiöse Glaubenslehren« (1959, 27). Diese Bestimmung übergeht, dass, »wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben« (Marx, Kapital I, 23/393, Fn. 89). Nur vom Standpunkt eines, der sich bewusstlos-gleichgültig durch die historischen Wirklichkeitsbedingungen seines menschlichen Wesens hindurchbewegt, erscheint die Menschenwelt als Umwelt. Childe unterscheidet an anderer Stelle die »materielle Kultur« von der (natürlichen) Umwelt, wenn er sie als dasjenige versteht, dessen Notwendigkeit fürs Überleben der menschlichen Gattung die humanspezifischen geistigen Fähigkeiten zugleich voraussetzt und als ihr Resultat stabilisiert. In ihr kristallisiert sich die Humanspezifik heraus. »Wenn aus Elephanten in der Eiszeit Mammuts hervorgingen, die an die veränderte Umwelt angepasst waren, so war die Spezies Homo sapiens imstande, in der gleichen Umwelt dadurch am Leben zu bleiben, dass sie ihre materielle Kultur verbesserte.« (1959, 27) Materielle Kultur steht hier fürs Gesamt der Artefakte, welche die Menschen zwischen ihre unmittelbare Körperlichkeit und bestimmte Bedingungen der äußeren Natur schieben. In die ökologische Nische, in der sie ihr Leben fristen, bauen sie gleichsam eine für sie bewohnbare Nische ein, einen künstlichen Welt-Innenraum. Sie wiederholen damit ein Prinzip, das es einst bestimmten Meeresbewohnern erlaubt hat, auf dem Lande zu leben, indem ihr Körper gleichsam wie ein nach innen gewendetes, bei Warmblütlern sogar temperiertes Aquarium fungiert. Die Menschen erfinden eine zweite Haut über ihrer Haut in Gestalt der Kleidung, und eine dritte in Gestalt der sich gegen die Außenwelt abschließenden Wohnstätte. Schließlich holen sie in die sogar das Feuer und grenzen diesen tödlichen Feind als lebenserhaltende Glut, die nie erlöschen durfte, in den Herd ein, der bei allen indogermanischen Völkern das Zentrum des Hauses bildet. Ihre Umwelt durchdringen sie mit Wegen. Doch all diese dinglichen Produkte hätten weder hergestellt werden können, noch könnten sie gebraucht oder bewohnt werden, wären sie nicht in Sprache und Institutionen eingehüllt, wie diese wiederum ohne sie in Gegenstandslosigkeit zurücksänken.

Die Menschenwelt bildet einen vielschichtigen praktisch-gegenständlichen, mit Normen und Sanktionen armierten Verweisungszusammenhang. Um die objektivistische Schlagseite von Childes Begriff der materiellen Kultur zu spüren, muss man nur mit archäologischer Fiktion auf die Gegenwart blicken und sie so betrachten, als wären wir, ihre Träger, ausgestorben und als wäre alles kulturelle Leben in ihnen erloschen, als wäre das übrig bleibende Ensemble von dinglichen und baulichen Konstrukten zurückgesunken in den Status bloßer Umwelt für andere Lebewesen, zwar situiert in einer Landschaft, in der »the highly developed arboriculture […] over several centuries has removed virtually all trees which are not of direct economic value to the inhabitants« (Miller 1994, 398), doch ohne dass irgendwelche menschlichen Bewohner sich die ›Kulturpflanzen‹ zu Nutze machen würden. Der »Rostgürtel«, der sich in den 1970er Jahren durch die klassischen Industrieregionen des Eisenzeitalters zu ziehen begann, gibt eine Vorstellung davon, welche Art von Realität einem auf stoffliche Dinge beschränkten Verständnis von materieller Kultur allenfalls entsprechen könnte. Zugleich wird die Paradoxie der ›materiellen Kultur‹ deutlich.

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