Die kulturelle Unterscheidung

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2. Kultur-Kategorie vs. Kultur-Begriff

I was always insisting that the moment

of theoretical reflection is absolutely essential.

The political moment was essential.

But first you had to reach the conceptual level.

Stuart Hall (2008b)

Der Anspruch an theoretische Begriffe erschöpft sich nicht darin, empirischen Erscheinungen einen Namen zu geben. Begriffe müssen wie Skalpelle geschärft werden, um der Anatomie der Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Für unsere Untersuchung müssen wir uns darüber klar werden, was es mit dem Wort ›Kultur‹ und dem Sprachgebrauch auf sich hat, von dem Freud sich »ohne Bedenken […] leiten« ließ (Unbehagen, 220). Der Name dieser noch immer rätselhaften Sache kommt so selbstverständlich und einfach daher, weil sich in ihm, wie Marx in der epistemologischen Einleitung zu den Grundrissen sagt, eine der »Daseinsformen, Existenzbestimmungen […] dieser bestimmten Gesellschaft« ausdrückt (Marx, 42/40). Im Unterschied zu einem Begriff im Rahmen einer Theorie macht das den Term ›Kultur‹ zu einer der Kategorien, in denen eine bestimmte Gesellschaft, und zwar die bürgerliche, ihre strukturelle Spezifik ausdrückt.24 Kultur, Staat, Ökonomie usw. begegnen unmittelbar als das, wozu sie, wie Adorno sagt, »historisch tatsächlich in weitem Maß geworden sind, als statische, diskret gegeneinander abgesetzte Blöcke, bloße Gegebenheiten« (GS 8, 145). Das Verhältnis der Individuen zur ›Kultur‹ und zu den anderen verdinglichten, kategorial fixierten25 gesellschaftlichen Existenzformen lässt sich mit Heidegger als vorgängiges »In-Sein« charakterisieren, wodurch »innerweltliches Seiendes je schon erschlossen« ist (SuZ, 207). So ist jedem ›klar‹, was ›Kultur‹ meint, ohne dass er es begreift. Hierauf lässt sich anwenden, was Hegel über die »natürliche Logik« eines derart in seine Konstitutionsbedingung eingeschlossenen Bewusstseins feststellt: Ihr »Gebrauch der Kategorien […] ist bewusstlos«.26 Ein »Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, […] bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene«.27 Marx zieht daraus die Konsequenz, dass es sich für Wissenschaft verbietet, solche immer schon interpretierten Real-Kategorien »ohne weitere Kritik« vom kapitalistischen »Alltagsleben« sich vorgeben zu lassen (23/559), und dass man die kategoriale Fixierung des Vorhandenen von seiner tätigkeitsvermittelten Gewordenheit her im kritischen Begriff auflösen muss – ohne darüber zu vergessen, dass die reale Verknotung in der Realität unaufgelöst bestehen bleibt. Ohne Kritik gibt es keine Erkenntnis, die diesen Namen verdient.

Ein kritischer Gebrauch des Kulturbegriffs speziell durch Archäologen, Althistoriker, Ethnologen usw., die sich mit vorbürgerlichen Gesellschaften befassen, kann sich anregen lassen durch die Dialektik einer anderen ihrem Begriff widersprechenden Real-Kategorie, nämlich der ›Arbeit‹. Marx umreißt deren Dialektik in der Einleitung zu den Grundrissen: »Arbeit scheint eine ganz einfache Kategorie. Auch die Vorstellung derselben in dieser Allgemeinheit – als Arbeit überhaupt – ist uralt. Dennoch, ökonomisch in dieser Einfachheit gefasst, ist ›Arbeit‹ eine ebenso moderne Kategorie wie die Verhältnisse, die diese einfache Abstraktion erzeugen.« (42/38) Erst Verhältnisse, in denen Lohnarbeit die herrschende Form abhängiger Arbeit geworden war, mit einem Wort: kapitalistische Verhältnisse, konnten diese Abstraktion, »Arbeit sans phrase« (39), hervortreiben. Das macht ›Arbeit‹ als spezifisch bürgerlich-kapitalistische Kategorie zum allen evidenten Ausdruck einer massenhaften Daseinsform. Umgekehrt gibt es Existenzbedingungen des kapitalistischen Subjekts, die für dieses kategorial inexistent sind – etwa, fundamental für den Kapitalismus, die ›Mehrarbeitszeit‹. Bezogen auf die Lohnarbeit, bezeichnet dieser Ausdruck daher keine Kategorie im sozial-ontischen Sinn, sondern einen kritisch-theoretischen Begriff.

Obwohl ›Arbeit als solche‹ eine grundbürgerliche Kategorie ist, wird ein Arbeitsbegriff auch zur Interpretation von nicht-bürgerlichen und nicht-kapitalistischen Gesellschaftsformen gebraucht und ist unentbehrlich. Doch ein unkritisches Aufgreifen dieser Kategorie verbietet sich für die Erforschung vorkapitalistischer Gesellschaften.28 Die Forscher sind angehalten, ›Arbeit‹ als abstrakt-allgemein verstandene zunächst in ihrer unausgesprochenen Formbestimmtheit als Lohnarbeit zu reflektieren und den Zusammenhang und die Wechselwirkung dieser Kategorie mit den anderen Fundamentalkategorien der bürgerlichen Gesellschaft zu rekonstruieren. Erst dann können sie sich an die Frage der transsozialen ›Übersetzbarkeit‹ dieser Kategorie und an die Untersuchung des kategorialen Zusammenhangs ihres vorbürgerlichen Erkenntnisobjekts begeben. Kurz, ›Arbeit‹ muss aus der Kategorieform in die erst wirklich allgemeine Form des Begriffs umgearbeitet werden, der die kapitalistische Genesis der Kategorie Arbeit-als-solche ins Bewusstsein hebt und damit die bewusstlose Fixierung auflöst. Staat, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft usw. – keines dieser kategorialen Sozialexistenziale entbindet die Forschung von solcher transsozialen Übersetzungsarbeit.

Für die ›Kultur‹ gilt dieses Übersetzungsgebot besonders, weil in ihrem Fall der Zusammenhang mit der Struktur bürgerlich-kapitalistischer Daseinsbedingungen besonders versteckt ist. Zwar nicht der Arbeit als solcher, wohl aber der Lohnarbeit steht es auf der Stirn geschrieben, wes Kind sie ist. Dass ihr antagonistischer Komplementär das Kapital ist, verkörpert durch den Unternehmer, lässt sich leicht einsehen.29 Die ›Kultur‹ dagegen sprudelt zwar von Erzählungen, doch dieser Ort von Geschichten dementiert, selbst einen Ort in der Geschichte zu haben. Er suggeriert, es habe ihn zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen gegeben, und immer als etwas Wertvolles, dem Kult Verwandtes. Wenn das Beispiel der Arbeit zeigt, »wie selbst die abstraktesten Kategorien trotz ihrer Gültigkeit – eben wegen ihrer Abstraktion – für alle Epochen doch in der Bestimmtheit dieser Abstraktion selbst ebensosehr das Produkt historischer Verhältnisse sind und ihre Vollgültigkeit nur für und innerhalb dieser Verhältnisse besitzen« (42/39), dann gilt dies doppelt für die Kultur. Zunächst ist die bewusstlose Bestimmtheit dieser Abstraktion ›Kultur‹ zu analysieren. Ihre Einschreibung ins bürgerliche Kategoriengefüge muss entschlüsselt werden.

3. Bourdieus Analyse der kulturellen Distinktion

Eines Stücks dieser Arbeit hat sich Pierre Bourdieu in seiner »Sozialkritik der Urteilskraft« unterzogen, einem sozioanalytischen Gegenstück zu Kants Kritik der Urteilskraft.30 Hier entschlüsselt sich das Geheimnis, warum diejenigen, die in ›Kultur und Kunst‹ schwelgen, so oft von gesellschaftlicher Herrschaft schweigen. Die verschwiegene selbst hält sich ja aus der Kultur keineswegs heraus.31 Im Gegenteil, sie hüllt sich in sie ein und durchdringt sie mit ihrer Ideologie, bis diese ihr aus allen Knopflöchern lugt. Althusser kam daher auf die Idee, das Kulturelle mit dem Ideologischen gleichzusetzen (1985, 48). Obwohl er auf handfeste Herrschaftspraktiken verweisen kann, geben wir uns damit nicht zufrieden, zumal er selbst bemerkt, dass »die herrschende Ideologie den Massen immer gegen gewisse Tendenzen ihrer eigenen Kultur aufgezwungen [wird], die weder als solche anerkannt noch sanktioniert wird, aber widersteht« (47; Übers. geändert, vgl. 1967/1973, 42). Im Kontext umreißt Althusser auf wenigen Seiten seine Kritik an den bürgerlichen Bildungs- und Kunstdiskursen dahingehend, dass sie nicht vor allem zur Sache sprechen, sondern unter dieser »Maske« auf die Verinnerlichung herrschaftskonformer Umgangsweisen mit ›Bildungsgütern‹ abheben (ebd.; 1985, 47).

Was bei Althusser als apodiktisch vorgetragene Intuition auftritt, hat Bourdieu analytisch auseinandergelegt und an einer Fülle geschmackssoziologischen Materials systematisch durchgeführt. Dieses Material atmet die für Frankreich charakteristische Fortwirkung der von Norbert Elias (1969) untersuchten Höfischen Gesellschaft. Bourdieu findet deren Variante von Aristokratismus »inkarniert in einer Pariser Großbourgeoisie, die alles Prestige und alle – gleichermaßen ökonomischen wie kulturellen – Adelsprädikate in sich vereinigt« (1988, 11). Wenn seine Studie dennoch etwas über »alle geschichteten Gesellschaften« aussagt, so wegen ihres »Modells der Wechselwirkung zweier Räume – dem der sozio-ökonomischen Bedingungen und dem der Lebensstile«; es erlaubt, in der Klassenstruktur das Fundament der sozial-ästhetischen Klassifikationssysteme auszumachen, »welche die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Welt strukturieren und die Gegenstände des ästhetischen ›Wohlgefallens‹ bezeichnen« (11f). Dadurch wird es möglich, »analytisch zu beschreiben«, welche »Kulturgüter« zu einer bestimmten Zeit »als Kunstwerke rezipiert« und welche Rezeptionsweisen als »legitim« anerkannt werden (17). Kraft der Homologie zwischen der Geltungshierarchie der Künste, Kunstwerke und Genres einerseits und der Hierarchie ihrer Konsumenten andererseits fungiert »Geschmack als bevorzugtes Merkmal von ›Klasse‹« (18). Ihn unter Beweis zu stellen, dient als Abstandstechnik in der Hierarchie sozialer Geltung. Bourdieu beschreibt das »Feld«, in dem dieser Distinktionsmechanismus funktioniert, metaphorisch als »Markt« (120 u.ö.), auf dem »kulturelle Kompetenz« (19) im Sinne der Fähigkeit, die in den ›Werken‹ verschlüsselten Bedeutungen zu entschlüsseln, »als eine Art kulturelles Kapital fungiert, das, da ungleich verteilt, automatisch Distinktionsgewinne abwirft« (20, Fn. 3), indem es für die Konkurrenzfähigen eine Art differenzieller ›Kulturrente‹ abwirft (vgl. 145). Die Funktionsweise dieses Feldes von Verdrängung bedrohter Verdränger, auf dem »das kulturelle Kapital ein seinerseits beherrschtes Herrschaftsprinzip ist« (456), erklärt, »warum Kunst und Kunstkonsum sich […] so glänzend eignen zur […] Legitimierung sozialer Unterschiede« (27). Dieser Gebrauch von ›Kultur‹ spaltet diese in eine geistige (höhere) und eine materielle (niedere). Erstere trägt die Insignien der Freiheit, letztere der Notwendigkeit.

 

Bourdieu folgt der ›ständischen‹ Distinktion nicht nur in Stilfragen des Sprachgebrauchs, der Kleidung und Wohnungseinrichtung, sondern auch aufs Feld des Essens und Trinkens, auf dem ja Geschmack primär zuhause ist und an dessen zum ›immateriellen‹ Genuss vergeistigter Form sich die ›Gebildeten‹ erkennen, bei denen sich, »anders als beim Drauflos-Essen der popularen Kreise, das Hauptaugenmerk von der Substanz auf die Manier« verschiebt (26). Als Allegorie für die Klassenstruktur machen die Geschmacksunterschiede diese gerade darin unsichtbar, worin sie sich manifestiert.

Jede Erforschung dieses Zusammenhangs hat daher »jene sakrale Schranke niederzureißen, die legitime Kultur zu einer sakralen Sphäre werden lässt, um zu jenen verstehbaren Beziehungen vorzudringen, die scheinbar isolierte ›Optionen‹: für Musik und Küche, Malerei und Sport, Literatur und Frisur zu einer Einheit fügen.« (26)

Bourdieus von empirischer Evidenz überquellende Studie teilt mit vielen anderen Kulturstudien die Schwäche, die Kulturkategorien zu verwenden, ohne sie in Begriffe umzuarbeiten. Vom ersten Satz an unterstellt er »kulturelle Güter«, ohne auseinanderzulegen, was es damit auf sich hat und was sie als kulturelle von nicht-kulturellen Gütern unterscheidet. Seinem Selbstverständnis zufolge bringt er den »globalen ethnologischen Begriff von ›Kultur‹« (17) in Anschlag. Das enthebt ihn der Notwendigkeit, dem Kulturellen an der Kultur und damit zugleich der von der Prestige-Distinktion entfremdeten kulturellen Unterscheidung auf den Grund zu gehen. Dieses Versäumnis schlägt auf seine Darstellung zurück. Es höhlt den Sinn der kulturellen Phänomene aus. Nur deren leere Hülse bleibt zurück im Waffenarsenal bürgerlicher Geltungskonkurrenz. Fürs Kulturelle findet Bourdieu keine Sprache. Die kritischen Begriffe, die er systematisch entwickelt, beziehen sich ausschließlich auf jene gesellschaftlichen Geltungsfunktionen und -mechanismen, die er an seinem Material herausarbeitet.

Das Unterfangen von Kants Kritik der Urteilskraft ist also durch Bourdieus soziologische Metakritik keineswegs erledigt, nur dass die Neuaufnahme des kantschen Projekts durch deren Filter muss. Die Ordnung der Schönheit als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« und die der Freiheit als »Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz«32 umschreiben, wie Herbert Marcuse erkennt, »über das kantsche System hinaus das Wesen einer wahrhaft repressionsfreien Ordnung« (Triebstruktur, 154). Wenn nun, wie bei Friedrich Schiller, auf dieser Grundlage »die ästhetische Funktion zum zentralen Thema der Kulturphilosophie wird, so wird sie dazu gebraucht, die Prinzipien einer nicht-unterdrückenden Kultur darzustellen, in der Vernunft sinnlich ist und Sinnlichkeit vernünftig« (156), eine Perspektive, deren mögliche Wahrheit von der Wahrnehmung der Herrschaftsgrundlagen der ›Kultur‹ abhängt, von denen gesagt werden konnte: »Erst wenn eine große soziale Revolution die Ergebnisse der bürgerlichen Epoche, den Weltmarkt und die modernen Produktivkräfte, gemeistert und sie der gemeinsamen Kontrolle der am weitesten fortgeschrittenen Völker unterworfen hat, erst dann wird der menschliche Fortschritt nicht mehr jenem scheußlichen heidnischen Götzen gleichen, der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte.«33 Erst dann öffnet sich allen der Zugang zur »menschlichen Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit« (25/828). Bis dahin bleibt diese Perspektive eine Utopie, die, um nicht zur herrschaftsstabilisierenden Ideologie zu werden, die politisch-ökonomischen und ideologisch-kulturellen Grenzen kennen muss, die sie von ihrer Verwirklichung abschneiden.

4. Versuch eines praxisphilosophischen Neubeginns

In den Unterschied selber, die Abweichung,

hat Hoffnung sich zusammengezogen.

Adorno, Kultur und Verwaltung

»Es ist niemals ein Dokument der Kultur«, notiert Walter Benjamin, »ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein« (GS I/2, 271), ein Urteil, das Ernst Bloch »etwas zu allgemein verwerfend«, dennoch im Kern berechtigt fand (GA 7, 411). Für Freud dagegen ist dasjenige »›barbarisch‹, was der Gegensatz zu kulturell ist« (Unbehagen, 223). Doch begreift man, wie Adorno hier einhakt, »Kultur nachdrücklich genug als Entbarbarisierung der Menschen, die sie dem rohen Zustand enthebt, ohne ihn durch gewalttätige Unterdrückung erst recht zu perpetuieren, dann ist Kultur überhaupt misslungen« (GS 8, 141). Denn nicht vor allem der Umgang der Barbaren mit ›der Kultur‹, sondern der Umgang der ›Zivilisierten‹ mit den ›Barbaren‹ und deren innergesellschaftlichen Erben, den Ungezählten, deren Schicksal die unfreie Arbeit ist und von deren Blut die Kultur sich nährte, macht Dokumente der Kultur zu solchen der Barbarei. Und auf ›gebildete‹ Weise barbarisch ist der objektiv zynische Umgang mit Kunstwerken, den Bourdieu als bürgerliche Distinktionspraxis herausgearbeitet hat. Hier ist die kulturelle Urteilskraft gefragt. Sie hat nicht mehr die Geschmacksfragen beim Konsum sogenannter Kulturgüter im Sinn. Ihre Frage ist dem Leitgedanken der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss verschwistert, »einen Geschichtsprozess zu befragen, in dem die Herrschenden und ihre kulturelle Elite der Masse der Nichtprivilegierten die Fähigkeit raubten, zu sehen, zu hören und zu wissen, oder sie dazu brachten, sich selber zu berauben« (Götze/Scherpe 1981, 6f).

Um die kulturelle Urteilskraft zu entwickeln, tut eine philosophische Grundlegung Not. Also holen wir die verabschiedete Philosophie wieder ins Boot, freilich nicht irgendeine. Fern von aller Wesensmetaphysik hilft uns nur eine praxisphilosophische. Mit der Analytischen Philosophie, deren ideologische Effekte sie bekämpft, teilt sie ein Stück der Methodik. Nicht umsonst hat ja bereits Marx von »meiner analytischen Methode« gesprochen und noch immer aktuelle Ansätze der Sprachkritik entwickelt.34 Nur dass die geschichtsmaterialistische Methode gesellschaftstheoretisch eingebettet ist. Marx belässt es nicht bei bloßer Sprachkritik der politischen Ökonomie. Von einer philosophischen Grundlegung der Kulturtheorie können wir verlangen, dass sie zur Analyse von Praxiszusammenhängen befähigt,35 einer Analyse, die ihre Substanz verloren hat, wo immer ihre Adepten sie des gesellschaftstheoretischen Fundaments und des widerständigen Geistes beraubt und auf beschreibende Ethnographie reduziert haben, nicht selten zugunsten eines »juste Milieu«, das sich »bereitwillig seine Spitzen abgebrochen hat« (Schindler 2002, 279). Sie orientiert auf wechselwirkende Praktiken in antagonistischen Verhältnissen, die sich nicht in Diskurse auflösen lassen. Kurz: Statt von einem vermeintlichen Wesen der Kultur auszugehen, müssen wir aufs ›kulturelle‹ Wirken zugehen. Doch können wir dieses trennscharf bestimmen, ohne ein Wesenswissen vorauszusetzen?

Hier ist eine Vertiefung unserer epistemologischen Reflexion des Kulturellen angezeigt, um uns gegen das Missverständnis zu wappnen, Begriffe seien Namen des faktisch Gegebenen. Begriffe sind Abstraktionen, die dann brauchbar sind, wenn sie tatsächliche Bewandtnisse komplexer Gegenstände erfassen. Sie sind analytisch gewonnene Denkbestimmungen, deren Aufgabe es ist, auf dem fürs Denken einzig gangbaren Weg Konkretion zu erreichen.

Es hilft, sich die Weise anzusehen, in der Marx sich das Problem zurechtgelegt hat, als er die Kritik der politischen Ökonomie noch vor sich hatte: Spontan scheint es richtig, »mit dem Realen und Konkreten […] zu beginnen«, bei der Ökonomie etwa mit der Bevölkerung. Doch »Bevölkerung« ist eine schlechte Abstraktion, »wenn ich z. B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn. Z. B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z. B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen, und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da, wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen.« (42/34f) Daraus folgt der epistemologische Grundsatz: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist.« (35)

Auf unser Thema angewandt, heißt das: Kulturtheorie kann nicht beim opaken empirischen Konkretum anfangen, dem der Hauptstrom einer Gesellschaft den Namen »Kultur« beilegt. Sie steht zunächst vor der Aufgabe, die objektiven Bestimmungen analytisch auseinanderzulegen und begrifflich zu fassen, die sich im empirischen Phänomen teils strukturell verbinden, teils überlagern.

Dazu muss sie die Frage der Spezifik des Kulturellen an der ›Kultur‹ trennscharf fassen und begründen. Ein Blick auf die marxsche Arbeitsweise ist auch hier lehrreich: Um die Frage der Spezifik der kapitalistischen Ökonomie beantworten zu können, musste er die Keim- und Elementarform bestimmen, aus der sich sein Erkenntnisobjekt im strukturgenetischen Doppelsinn aufbaute. Nach langem Experimentieren fand er sie in Gestalt der Warenform oder Wertform, die er ihrerseits aus der Praxis unter Bedingungen privat-arbeitsteiliger Produktion ableitete.