Aristoteles. Eine Einführung

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

[44]Physik und Theologie

In seiner wissenschaftlichen Analytik übernimmt Aristoteles Platons Ansicht, dass die Wissenschaften sich primär mit allgemeinen und unveränderlichen Strukturen beschäftigen, dass der Kosmos dagegen bewegt und veränderlich, aber auch regelhaft und schön ist, weil er durch eine Weltseele regiert wird, die das Ordnungsprinzip der Natur ist. Aristoteles knüpft in seiner Naturphilosophie8 an diese Überlegungen an, allerdings aus einer anderen theoretischen Perspektive. Zu dieser neuen Perspektive gehört die Einzelding-Ontologie seiner frühen Metaphysik,9 aber vor allem die grundlegende Rolle der Kinematik (Bewegungslehre) in der Physik, die das Phänomen der Bewegung zum zentralen Gegenstandsbereich der Physik als Lehre von Natur und Kosmos erklärt. Entsprechend bestimmt Aristoteles die Natur (physis) als Bereich der Dinge und Ereignisse, die sich bewegen oder ändern, und zwar auf der grundlegendsten Ebene durch einen inneren Bewegungsantrieb. Naturdinge sind – im Gegensatz zu mathematischen Entitäten und Artefakten – jene Dinge, die das Prinzip der Bewegung und Ruhe in sich haben; das gilt sowohl von lebenden Wesen aller Art als auch von nicht lebenden Elementen wie Feuer oder Erde (Phys. II 1). Damit stellt sich die Frage nach dem Ursprung der Bewegung, und darum zielt die aristotelische Physik unter anderem darauf, die Selbstbewegung der Naturdinge zu erklären.

Das Problem, das mit diesem Bild von Physik entsteht, wird von Aristoteles klarsichtig diagnostiziert: Wie kann es eine Physik, also eine Wissenschaft von den Naturdingen geben, wenn einerseits Wissenschaften [45]unveränderliche Strukturen betrachten und andererseits die Natur im Wesentlichen der Bereich veränderlicher und bewegter Dinge ist? Der ontologische Aspekt des Problems ist, dass Wissenschaften sich mit dem Seienden beschäftigen, dass aber bewegte Dinge sich stets im Werden zu befinden scheinen, das zwischen Sein und Nichtsein angesiedelt ist (Phys. I 2–3, 8; Metaph. XI 4, 1061b; XII 1, 1069a). Damit ist zum ersten Mal ernsthaft die Frage nach der Möglichkeit einer wissenschaftlichen Physik gestellt.

Diese Frage kann nach Auffassung von Aristoteles nur dann angemessen beantwortet werden, wenn Veränderung und Werden in geeigneter Form analysiert werden. Die Physik muss daher mit einer Analyse des Werdens beginnen, die uns mit den Prinzipien des Werdens zugleich die Prinzipien der Naturdinge liefern sollte. Davon handelt in der Tat das erste Buch der Physik (vor allem Phys. I 7).

Sätze und Behauptungen der Form »x wird y« oder »y entsteht aus x« oder »y ist etwas Entstandenes« setzen, wie Aristoteles zeigen möchte, die Unterscheidung zwischen (a) dem Element, aus oder an dem ein Ding X wird (entsteht), also das Zugrundeliegende oder die Materie, und (b) dem Ding X selbst, zu dem das Element wird, also der neue konkrete (aus Materie und Form zusammengesetzte) Gegenstand.

Diese Analyse gilt sowohl für das substanzielle Werden als auch für das prädikative Werden, also für Fälle wie das Werden (Entstehen) einer Statue aus Erz (der Materie) und Statuenform, aber auch für Fälle wie das Gesundwerden eines Menschen (des zugrunde liegenden Gegenstandes) als Übergang aus dem Zustand der Krankheit in den Zustand der Gesundheit. Die Punkte (a) bis (b) verweisen [46]gerade auf die Prinzipien des Werdens: Stets nimmt etwas Zugrundeliegendes (Materie) eine Form an. Diese Analyse enthält einen Schritt, der sich unter anderem für die weiteren naturwissenschaftlichen Studien und die Fortentwicklung der Metaphysik als hilfreich erweisen sollte: die Form-Materie-Analyse der Naturdinge.

Auf dieser Grundlage macht Aristoteles eine ontologische Deutung des Werdens geltend: Wenn x zu einem y wird oder werden kann, dann ist x zunächst nicht y, also Nichtseiendes bezüglich y; aber x besitzt die Disposition, zu einem y zu werden, also die Form y anzunehmen: x ist vor Abschluss des Werdens zu einem y der Möglichkeit (Potenzialität) nach ein y-Seiendes, aber der Verwirklichung (Aktualität) nach ein Nichtseiendes bezüglich y. Erst nach Abschluss des Werdens ist x auch ein der Verwirklichung nach y-Seiendes. »Bewegung« lässt sich dann im allgemeinsten Sinne bestimmen als Verwirklichung eines der Möglichkeit nach Seienden, oder alternativ: als Verwirklichung des Bewegten, insofern es bewegt ist (Metaph. XI 9, 1065b). Bewegung wird daher primär am Bewegten, nicht am Bewegenden orientiert: Bewegung ist eine Aktivität des Bewegten – eine Selbstbewegung aufgrund innerer Bewegungsprinzipien. Insbesondere ist die Bewegung natürlicher Dinge eine Aktualisierung ihrer Möglichkeiten oder inneren Dispositionen, also eine Realisierung ihrer wesentlichen internen Natur. Damit wird allerdings der Fall externer Bewegungsursachen nicht ausgeschlossen.

Die Analyse des Werdens zeigt: Physik als Wissenschaft von den werdenden und bewegten Dingen richtet sich primär auf die Regularitäten, die die Entstehung neuer universeller Formen an bewegten Gegenständen beherrschen. [47]Insofern bleibt auch die Physik wesentlich auf Formen als ihren primären Erkenntnisgegenständen bezogen. Die Frage nach der Möglichkeit und dem Status einer wissenschaftlichen Physik ist damit im Wesentlichen beantwortet.

Eine der grundlegenden Fragen der Physik lautet dann: Was sind die internen und externen Bewegungsursachen? Im Gegensatz zur modernen Physik fragt die antike Physik nicht nach den Ursachen der Bewegungsänderung, sondern nach den Ursachen der Bewegung – genauer nicht nach den Ursachen der Beschleunigung, sondern der Geschwindigkeit. Diese Fragestellung basiert auf dem Eindruck, dass Bewegungen (genauer: Geschwindigkeiten) sich proportional zu den Bewegungsursachen (den Kräften) verhalten. Je größer die wirkende Kraft ist, desto heftiger ist die Bewegung und desto größer ist die resultierende Geschwindigkeit. Allgemein hat dann jede Bewegung mindestens eine Ursache (Phys. VIII 4, 255b); Bewegungen ohne Ursache sind in diesem Rahmen nicht vorstellbar.

Aristoteles schlägt drei grundlegende Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von Bewegungen vor (Phys. III 1). Da gibt es erstens natürliche und gewaltsame Bewegungen: Wenn x die Form y annimmt und y zur Natur von x gehört, so erfolgt dieses Werden und diese Bewegung aus einem inneren, für x spezifischen Bewegungsprinzip; wenn dagegen y nicht zur Natur von x gehört, so ist dieses Werden und diese Bewegung gewaltsam und erfolgt aus einem externen, für x nicht spezifischen Bewegungsprinzip heraus.

Zweitens unterscheidet Aristoteles vier Bewegungsarten: quantitative Bewegung (Wachstum, Schrumpfung), [48]qualitative Bewegung (Formwechsel), räumliche Bewegung (Ortswechsel) und ontologische Bewegung (Entstehen, Vergehen). Nicht nur qualitative und ontologische Bewegung genügen, wie eben gezeigt, der allgemeinen Bewegungsdefinition, sondern auch quantitative und räumliche Bewegung, insofern Quantität und räumliche Position ebenfalls Arten von Formen sind.

Und es gibt drittens einfache und zusammengesetzte Bewegungen, da es einfache und zusammengesetzte Linien gibt: Kreisförmige und gerade Linien bzw. Bewegungen sind einfach, alle anderen Linien bzw. Bewegungen sind aus den einfachen zusammengesetzt. Die kreisförmige Linie bzw. Bewegung ist zugleich perfekt (vollkommen), da sie immer wieder in sich zurückkehrt.

Bewegung scheint sich in Raum und Zeit zu vollziehen, und daher sind Theorien von Raum und Zeit wichtige Bestandteile der Physik. Raum, Bewegung und Zeit sind aus aristotelischer Sicht Kontinua, die potenziell unendlich teilbar und fortsetzbar sind. An dieser Stelle lässt Aristoteles seinen neuen Begriff der potenziellen Unendlichkeit in die Analyse einfließen (Phys. I 2, 185b; VI 1, 231b), wie er bis heute vor allem in der Differenzial- und Integralrechnung benutzt wird: Dass beispielsweise im Intervall zwischen 0 und 1 die rationalen Zahlen potenziell unendlich sind, bedeutet, dass in einem beliebig kleinen gegebenen Teilintervall immer noch eine rationale Zahl gefunden werden kann.

Ausgangspunkt der Analyse des Raumes sind die Annahmen, dass Körper sich im Raum bewegen, während der Raum unveränderlich bleibt, dass sich ferner verschiedene Körper nacheinander im selben Raum befinden können [49]und dass der Raum nicht unabhängig von Körpern existiert. Der Raum eines Körpers ist daher nicht die Grenze des Körpers, sondern die innere Grenze jenes Körpers, der den gegebenen Körper umschließt. Der Raum im Ganzen bildet dann die Grenze der Welt. Daraus folgt: Es gibt weder außerhalb noch innerhalb des Universums einen leeren Raum (Phys. IV 1–4). Zur Bestätigung dieser »Plenismus« genannten und gegen den antiken Atomismus von Demokrit (um 460/459 – 370 v. Chr.) und Leukipp (5. Jh. v. Chr.) gerichteten Theorie führt Aristoteles eine amüsant falsche Behauptung ein: Die Geschwindigkeit ist entweder der Quotient oder die Differenz aus Kraft und Widerstand des Mediums; daher wäre die Geschwindigkeit von Körpern im leeren Raum entweder unendlich groß oder für alle gleich, und das ist absurd (Phys. IV 8, 216a).

Die Zeit ist bis heute ein rätselhaftes Phänomen geblieben. Diese Rätselhaftigkeit spiegelt sich auch in der aristotelischen Zeit-Theorie wider. Die grundlegendste Voraussetzung für die Einführung des Zeitbegriffs ist Aristoteles zufolge die Beobachtung von Bewegungen und die Abgrenzung von Bewegungsphasen, mit der Unterstellung, dass für diese kognitiven Operationen der Zeitbegriff nicht notwendigerweise mobilisiert werden muss. Sollten wir beobachten, dass Sokrates sein Haus verlassen und zur Agora gegangen ist (um seinen Gesprächspartnern wieder einmal auf die Nerven zu gehen), müssen wir für die Feststellung dieser Bewegungsphase nicht unbedingt unseren Kalender oder eine lokale Wasseruhr heranziehen. Die Zeit ist, wie Aristoteles betont, keinesfalls eine Form der Bewegung, sie bewegt sich also nicht, doch ist sie etwas an der Bewegung. Demgegenüber kann die Bewegung ohne [50]Bezug auf den Raum weder beobachtet noch in Bewegungsphasen eigeteilt werden. Bewegungen gehören, wie bereits ausgeführt, nach Aristoteles zur Grundausstattung des Universums, und dies gilt auch für den Raum, nicht aber für die Zeit. Vielmehr ist die Zeit ein Phänomen, das zu Bewegungen und Bewegungsphasen auf eine bestimmte Weise hinzutritt. Wenn wir nämlich eine Bewegungsphase vom räumlichen Punkt P1 zum räumlichen Punkt P2 abgegrenzt haben und zu P1 »Jetzt1« (=J1) und zu P2 ebenfalls »Jetzt2« (=J2) sagen, so haben wir das Zeitintervall 〈J1, J2〉abgegrenzt. Die aristotelische Zeittheorie startet mit der Einführung von Zeitintervallen. Dabei wird der subjektive Zeitbegriff (die sogenannte modalzeitliche Ordnung) benutzt, der zufolge die Zeit aus den Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht und das Jetzt als punktartige Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft in Bewegung ist. Die potenziell unendlich fortsetzbare Reihe der Zeitintervalle ist die Zeit im Ganzen. Die Zeitintervalle können nummeriert, also auf die Menge der natürlichen Zahlen 1–1 abgebildet werden, und damit ist die irreversible Zeitrichtung beschrieben (die Zeit ist daher, wie Aristoteles allzu lakonisch und kryptisch sagt, eine Art von Zahl). Die objektive Zeit (die sogenannte lagezeitliche Ordnung) lässt sich, wie bereits die antike Astronomie vor Aristoteles gezeigt hatte, aufgrund der Beobachtung exakt periodischer Bewegungsphasen (vorzüglich der periodischen Bewegungen der Sterne) auf mathematisch unproblematische Weise einführen (Phys. IV 10–14).

 

Aus heutiger Sicht wirkt diese Bewegungslehre und die damit verbundene grundsätzliche Einstellung zum Status und Forschungsprogramm der Physik vielleicht [51]befremdlich. Aber wir müssen uns vergegenwärtigen, dass diese Annahmen in der klassischen Antike empirisch gut gestützt zu sein schienen. Die Proportionalität zwischen Kraft und Geschwindigkeit scheint sich zum Beispiel an vielen Phänomenen zu zeigen: Je mehr Kraft wir etwa aufwenden, um einen Wagen zu schieben, desto schneller bewegt er sich; analog sollte es sich auch mit den inneren Kräften verhalten. Und obgleich es offenbar viele Fälle von externer Krafteinwirkung gibt, können wir doch auch beobachten, dass beispielsweise Feuer nach oben steigt oder Steine im Wasser zu Boden sinken, ohne dass sich empirisch eine äußere Krafteinwirkung beobachten ließe – nicht zu reden von Lebewesen, die sich offenbar von selbst bewegen. In all diesen Fällen scheint also die Hypothese innerer Bewegungsprinzipien empirisch keineswegs absurd zu sein. Tatsächlich bedurfte es zu Beginn der Frühen Neuzeit einiger raffinierter theoretischer und experimenteller Manöver, um die empirisch nicht direkt beobachtbare Proportionalität von Kräften und Beschleunigungen und die korrespondierende Trägheit aller Masseteilchen zu entdecken.

Mit den Überlegungen, die Aristoteles zur Bewegung, zum Werden und zum Status der Physik anstellt, ist eine befriedigende Antwort auf die Frage nach den wichtigsten Bewegungsursachen allerdings nur vorbereitet. Die endgültige Antwort hängt vor allem von der physikalischen Analyse des Kosmos im Ganzen ab – von der Kosmologie.

In seiner Kosmologie (vgl. De Caelo) verabschiedet sich Aristoteles, wie schon die antiken Atomisten vor ihm, gegen die er ansonsten heftig polemisiert, endgültig von der mythisch inspirierten Kosmogonie, mithin von den [52]mythischen Weltentstehungslehren. Das Universum ist nach Aristoteles zwar nur endlich groß, aber zeitlich unbegrenzt. Es hat keinen zeitlichen Anfang und kein zeitliches Ende. Zugleich weist der Kosmos im Ganzen einen grundlegenden Unterschied zwischen Himmel und Erde auf. Denn die Sterne und Planeten bewegen sich anscheinend auf unveränderlichen kreisförmigen oder aus Kreisen zusammengesetzten Bahnen um die ruhende Erde herum; die Körperbewegungen auf und in der Nähe der Erde sind dagegen anscheinend überwiegend uneinheitlich, veränderlich und vielfältig. Daher muss, so Aristoteles, im Universum zwischen der irdischen (sublunaren) Sphäre und der himmlischen (supralunaren) Sphäre unterschieden werden (Cael. II 14). Die Bewegungen der Gestirne in der supralunaren Sphäre sind mathematisch beschreibbar, die Bewegungen der irdischen Körper in der sublunaren Sphäre dagegen nicht. Daher ist eine mathematische Astronomie möglich, nicht aber eine mathematische Physik für die sublunare Sphäre.

Entsprechend dieser Differenz existieren zwei Arten einfacher Körper, die jeweils durch die Disposition zu den beiden einfachen Bewegungsarten ausgezeichnet sind: die irdischen einfachen Körper, deren ungestörte Bewegung geradlinig ist, und die himmlischen einfachen Körper, deren ungestörte Bewegung kreisförmig ist.10 Die irdischen einfachen Körper sind Erde, Wasser, Luft und Feuer (die »vier Elemente«). Sie haben jeweils einen natürlichen Ort in der Schichtung vom Erdmittelpunkt her gesehen: Erde – Wasser – Luft – Feuer. Die natürliche Bewegung der vier Elemente ist die geradlinige Bewegung zu ihrem natürlichen Ort: Erde und Wasser nach unten, Luft und Feuer [53]nach oben. Das innere natürliche Bewegungsprinzip der vier Elemente ist daher ihre Disposition, von selbst und ohne externe Krafteinwirkung geradlinig ihrem natürlichen Ort zuzustreben oder an ihrem natürlichen Ort zu verharren und zur Ruhe zu kommen (Cael. IV). Diese Theorie vom natürlichen Ort der Elemente und der natürlichen Bewegung bildet also den ersten Teil der Antwort auf die Frage nach den ersten Bewegungsursachen in der Natur als dem Bereich der Dinge, die das Prinzip der Bewegung und Ruhe in sich haben.

Es gibt nach Aristoteles jenseits der vier Elemente keine wohlbestimmte erste Materie. Die Bewegung der vier Elemente ist daher grundsätzlich ein Prozess der Umwandlung der vier Elemente ineinander. Auch diese Bewegung muss letztlich eine Veränderung von Formen sein. Tatsächlich ist jedes der vier Elemente durch eine Kombination aus zwei der vier Grundqualitäten gekennzeichnet. Die Grundqualitäten sind: das Kalte, das Warme, das Feuchte und das Trockene. Die Erde ist kalt und trocken, das Wasser kalt und feucht, die Luft warm und feucht und das Feuer warm und trocken. Die Verwandlung dieser Qualitäten und Formen ineinander generiert eine Verwandlung der vier Elemente ineinander (GC II).

Bevor wir uns der supralunaren Sphäre und damit dem letzten Ursprung der Bewegung zuwenden, sei erwähnt, dass die aristotelische Bewegungslehre auch gravierende Probleme enthält, die sehr bald gesehen wurden, zum Teil auch schon von Aristoteles selbst. In der Wurfbewegung scheint die Bewegungskraft erhalten zu bleiben, aber die aristotelische Bewegungstheorie bietet dafür auf den ersten Blick keinerlei Erklärungsmöglichkeiten. Denn die [54]Wurfbewegung ist nicht natürlich, kann also nicht auf Selbstbewegung zurückgehen; zugleich ist aber die externe Kraftquelle nicht mehr wirksam. Der Lösungsvorschlag lautet: Der Bewegungsursprung des Wurfes verleiht dem Medium des geworfenen Dinges die (abnehmende) Fähigkeit, die Bewegungskraft weiter zu vermitteln (Phys. VIII 10, 266b ff.).

Außerdem scheint die Beschleunigung im freien Fall unerklärlich zu sein, da es sich um eine natürliche Bewegung handelt, die die Geschwindigkeit erhalten und nicht steigern sollte. Lösungsvorschlag: Die Bewegungskraft steigert sich mit zunehmender Annäherung an den natürlichen Ort (Cael. I 8). Und schließlich folgt aus der Bewegungstheorie, dass, wenn eine Kraft einen Gegenstand mit Geschwindigkeit v bewegt, die n-fache Kraft den Gegenstand mit n-facher Geschwindigkeit bewegen sollte (Phys. VII 4–5, 249b ff.). Diese Folgerung wäre empirisch leicht falsifizierbar gewesen, aber Aristoteles hielt sie offenbar für evident.

Diese Probleme wurden nach Aristoteles mehr als tausend Jahre lang diskutiert. Immer neue Lösungsvorschläge wurden unterbreitet und dann wieder kritisiert. Aber niemand sah darin einen Anlass, die aristotelische Physik und Kosmologie im Ganzen abzulehnen, denn diese Naturwissenschaften schienen in vielen anderen Bereichen empirisch hervorragend bewährt und begrifflich kohärent zu sein. Man hatte stets die Hoffnung, die Probleme lösen zu können – bis sie plötzlich zu Beginn der Frühen Neuzeit eine ungeahnte Sprengkraft erhielten und die aristotelische Physik und Kosmologie innerhalb weniger Jahrzehnte zum Einsturz brachten. Es ist nach wie vor eine der [55]spannendsten Fragen der Wissenschaftsgeschichte, wie diese Entwicklung zustande kommen und zur Geburt der modernen Physik führen konnte.

Die aristotelische Kosmologie beschäftigt sich mit der Sphäre der Fixsterne und Planeten sowie mit dem letzten Ursprung aller Bewegung. Die supralunare Sphäre ist aus konzentrischen Kugeln aufgebaut, die aus dem Äther-Stoff (dem »fünften« Element) bestehen und an denen die Fixsterne und Planeten befestigt sind. Wie bereits angedeutet, bewegen sie sich auf mathematisch exakten und unveränderlichen Bahnen – für Aristoteles ein Indiz für ihre Göttlichkeit. Die mathematische Astronomie hat die Aufgabe zu zeigen, dass die beobachtbaren Bahnen der Fixsterne wie der Planeten kreisförmig oder aus kreisförmigen Bahnen zusammengesetzt sind – also den einfachsten und vollkommensten geometrischen Figuren entsprechen. Die Lösung dieser Aufgabe war vor allem im Falle der Planetenbahnen ein hartes Stück Arbeit und resultierte schließlich in der ptolemäischen Astronomie (Phys. VIII 8–10; Cael. II 3; Metaph. XII 8, 1073b).

Aber was ist der letzte Bewegungsursprung der Sterne? Die Antwort auf diese Frage lässt sich nach Aristoteles im Rahmen der Physik finden, führt jedoch zugleich zur Annahme eines Gottes – des »unbewegten Bewegers«. Damit ist das Programm einer rationalen Theologie entworfen, das die Vorstellung von Gott in die Naturwissenschaft integriert und zugleich das Phänomen der Religiosität ernst nimmt. Es lohnt sich daher, die aristotelische Ableitung der Existenz des göttlichen unbewegten Bewegers und seiner Eigenschaften aus physikalischen Prämissen nachzuzeichnen (Metaph. XII 6–9; Phys. VIII 10).11

[56]Aus der Physik wissen wir, dass es zu jeder Bewegung ein internes oder externes Bewegendes gibt, das ihr Ursprung ist. Die kosmischen Bewegungen im Ganzen sind kontinuierlich und ewig, d. h., sie haben keinen Anfang, und sie haben die Form einer zyklischen Ortsbewegung. Bewegung ist, wie wir uns erinnern, grundsätzlich ein Übergang von der Potenzialität zur Aktualität. Die ewige kontinuierliche Bewegung der Sterne – so eine weitere Prämisse – ist letztlich die aktuelle Bewegung einer einheitlichen Bewegungsgröße, nämlich des Kosmos, und ist daher auch Werk eines einzigen Bewegenden. Dabei muss es einen ersten Himmel geben, eine äußerste Sternensphäre, denn der Kosmos ist räumlich endlich.

Zwei weitere allgemeinere physikalische Grundsätze können in der rationalen Theologie herangezogen werden: Das Wirken körperlicher Größen verbraucht Kraft, mithin kann keine endliche körperliche Größe unendlich wirken; und keine endliche körperliche Größe bleibt bei ihrem Wirken unveränderlich. Und schließlich erweisen sich einige metaphysische Annahmen als hilfreich: Stoff und Körper enthalten stets unter anderem Potenzialität, und die Reihe der Bewegungsursachen muss endlich sein; vor allem aber ist jeder Ursprung von Aktualem aktuell, so dass eine aktuelle Bewegung auch ein aktuell Bewegendes erfordert.

Aus diesen – für Aristoteles in Physik und Metaphysik gut gesicherten – Prämissen lassen sich folgende Thesen ableiten (Metaph. XII 6 und 9; Phys. VIII 10):

 Es gibt ein erstes Bewegendes, das ewig wirkt (auf den ersten Himmel).

 [57]Das erste Bewegende ist stets aktuell (aktiv) sowie nicht körperlich (immateriell) und unveränderlich.

 Das erste Bewegende ist unbewegt, hat keine Teile und keine Ausdehnung.

 Das erste Bewegende gewährleistet Bewegung, Veränderung, Strukturbildung passiv, ist also reine Finalität.

 Das erste Bewegende ist sich selbst denkende Einsicht.

Nach diesen Bestimmungen ist der unbewegte Beweger, der aristotelische Gott, seiner Existenz nach physikalisch ableitbar und seinem Wesen nach unbewegte, rein finale und selbstreferenzielle Struktur – die zweckhafte Organisation des Kosmos im Ganzen. Der unbewegte Beweger ist ein Gott, aber er ist vom Menschen erkennbar und mit dem Besten im Menschen verknüpft. Er ist keine Person mit einem Geschlecht, keine belohnende oder strafende Instanz, die Gebete entgegennehmen könnte, nicht Schöpfer des Kosmos und kein determinierendes vorausbestimmendes Wesen.

 

In allen diesen Punkten unterscheidet sich der aristotelische Gott diametral vom christlichen Gott. Nach der aristotelischen Vernunftreligion bewegt der unbewegte Beweger alle Dinge im Universum, ihr höchstes Ziel anzustreben: als endliche Wesen in jeweils spezifischen Formen am Unendlichen teilzuhaben. Diese Partizipation am Unendlichen, verbunden mit der Ehrfurcht vor dem Unendlichen und dem Kosmos, bildet den Kern menschlicher Religiosität und versöhnt endliche Wesen mit ihrer eigenen definitiven Endlichkeit und ihrem individuellen Leid. In einer Vernunftreligion diesen Zuschnitts ist kein Raum für den (aus heutiger Sicht falschen) Glauben an ein individuelles [58]Überleben von Personen nach dem Tod und an einen persönlichen und richtenden Gott, dem gegenüber Ansprache und Gebete sinnvoll sind.

Die Hypothese vom unbewegten Beweger soll die Frage nach dem Ursprung der Bewegung der Sterne und damit auch der Bewegungen in der sublunaren Sphäre des Kosmos beantworten. Die verschiedenen Arten der Partizipation am Unendlichen lassen sich unter Rückgriff auf den unbewegten Beweger geltend machen – von der ewigen Verwandlung der vier Elemente ineinander über die ewige zyklische Bewegung der Himmelskörper, die Erhaltung der ewigen Existenz der natürlichen Arten von Lebewesen über die Fortpflanzung bis hin zur Erzeugung und Tradierung von Produkten der menschlichen Vernunft (An. II 4, 415a–b).

Aus dieser Perspektive wird verständlich, dass die meisten Ereignisse im Universum in eine Teleologie eingebunden sind (PA I 1, 641b–642a), d. h. teleologische Ursachen im aristotelischen Sinne haben. Alle diese Ereignisse sind letztlich auf den unbewegten Beweger als Endzustand ihrer teleologischen Prozessualität bezogen. Das bedeutet, dass alle Ereignisse und Dinge im Universum als Teile einer Kette von Ereignissen betrachtet werden können, deren Endzustände in jeweils spezifischen Formen eine Partizipation am Unendlichen sind.

Viele Ereignisse im Universum sind aber auch notwendig in dem Sinne, dass sie eine effiziente Ursache haben, ohne in ein Telos eingebunden zu sein, z. B. der Wasserkreislauf (APo. II 12, 96a). Einige Ereignisse sind hypothetisch notwendig, in dem Sinne, dass unter der Hypothese, dass sie eine bestimmte Eigenschaft aufweisen, sie [59]notwendigerweise eine bestimmte andere Eigenschaft aufweisen; so müssen Sägen z. B. aus Metall sein (Phys. II 9, 200a–b; PA I 1, 642a). Und es gibt Entitäten, die notwendig sind in dem Sinne, dass sie notwendigerweise existieren. In der Physik sind das vor allem die ewigen Dinge oder Typen von Ereignissen, die sich in zyklischen Prozessen auf ewig und in unveränderlicher Weise wiederholen. Notwendigkeit in diesem Sinne ist Ewigkeit (diese Definition von Notwendigkeit wird heute oft »Prinzip der Fülle« genannt) (Cael. I 12; GC II 11).

Nach Aristoteles sind schließlich auch viele Ereignisse im Universum kontingent, d. h., sie hätten auch nicht stattfinden können. Und wir sind berechtigt, von Ereignissen zu reden, die nicht stattgefunden haben, aber hätten stattfinden können. Dazu gehören einige gewaltsame (also nicht natürliche) Ereignisse ebenso wie menschliche Handlungen. Insbesondere können Ziele, also teleologische Endzustände, kontingent sein. Grundsätzlich liegen daher indeterministische Strukturen im Universum vor (Phys. II 4, 196a; II 5, 196b; NE III 5, 1112a). Das Universum enthält Notwendigkeit und Teleologie – freilich »mit Lücken«. Das teleologische »Weltbild« des Aristoteles ist gebrochen und komplex: Die meisten Prozesse im Kosmos sind teleologisch strukturiert, doch diese Prozesse sind durchsetzt mit effizienten Notwendigkeiten und Kontingenzen.

Aristoteles unterscheidet genauer einseitige Möglichkeit von zweiseitiger Möglichkeit: Einseitige Möglichkeit ist das Mögliche, dessen Gegenteil nicht notwendig ist; wenn etwas möglich ist in diesem Sinne, dann könnte es zugleich auch notwendig sein. Zweiseitige Möglichkeit oder Kontingenz ist das Mögliche, für das sowohl gilt, dass es selbst [60]nicht notwendig ist, als auch dass sein Gegenteil nicht notwendig ist – so dass, wenn etwas möglich in diesem Sinne ist, es offenbar nicht notwendig sein kann (Top. II 6, 112b ff.; Int. 13, 23a; APr. I 13). Diese Unterscheidung erlaubt es, den Indeterminismus begrifflich strenger zu fassen: Der Indeterminismus ist durch Kontingenz gekennzeichnet, nicht nur durch einseitige Möglichkeit. Vor diesem Hintergrund ist das Notwendige das, was nicht hätte anders sein können – das, was nicht kontingent ist. Aristoteles hat auf dieser Grundlage als Erster in der Geschichte des westlichen Denkens ausdrücklich einen moderaten Indeterminismus verteidigt: Zumindest einige Ereignisse im Kosmos sind kontingent.

Die rationale Theologie (später auch »Vernunftreligion« genannt) hat nicht erst mit Aristoteles begonnen, sondern ist in der vorsokratischen Philosophie (etwa bei Xenophanes) und im Denken Platons verankert. In ihrer langen Tradition über den Deismus des 17. Jahrhunderts, dem Agnostizismus David Humes bis zu Kant und Hegel ist die rationale Theologie immer davon ausgegangen, dass die Theologie nicht nur als Menge von Hypothesen zu betrachten ist, die wie andere wissenschaftlichen Annahmen auch kritisch diskutiert und geprüft werden müssen, sondern auch mit dem jeweiligen wissenschaftlichen Weltbild vereinbar sein muss. Aristoteles hat, wie oben gezeigt, eine besonders scharfe und anspruchsvolle Variante der rationalen Theologie vertreten, der zufolge die Theologie eng mit physikalischen Erklärungen verzahnt und letztlich aus physikalischen Grundsätzen abgeleitet werden muss. Zwar hat er die Theologie als Komponente der Ersten Philosophie angesehen (Metaph. VI 1, 1026a 18–32), aber nicht [61]deshalb, weil sie allen anderen Wissenschaften logisch vorgeordnet ist, sondern weil ihr Gegenstand, die autonom existierende und nicht mit Materie vermischte Substanz als unpersönlicher Gott, das höchste und ehrwürdigste Objekt jeder wissenschaftlichen Bemühung ist. In logischer Hinsicht ist die Theologie gleichwohl der Physik nachgeordnet.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?