Aristoteles. Eine Einführung

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Nicht nur die Syllogistik, auch die Theorie der wissenschaftlichen Demonstration ist mithin eine Analytik. Die wissenschaftliche Analyse bezieht sich aber nicht auf ganze Syllogismen, sondern auf jeweils einzelne syllogistische Sätze, die universelle Fakten beschreiben – also vornehmlich Fakten, die wir mit generellen Sätzen der Form »Alle Bs sind A« (AaB) bzw. »Kein B ist A« (AeB) beschreiben. Die wissenschaftliche Analyse dieser universellen Sätze und der entsprechenden universellen Fakten bringt die Syllogistik zum Einsatz: Einen als wahr geltenden universellen Satz AaB oder AeB wissenschaftlich zu analysieren heißt, [26]zwei weitere als wahr geltende Sätze zu finden, die Prämissen für einen syllogistisch gültigen Schluss auf den gegebenen universellen Satz sind. Und die Syllogistik gibt uns gerade die Form der gesuchten Prämissen an die Hand (APo. I 32). Nach A1 könnten die gesuchten Prämissen für AaB beispielsweise die Formen AaC und CaB haben, und nach A2 könnten die Prämissen für AeB die Formen AeC und CaB haben (in der Tat behauptet Aristoteles, dass die Wissenschaften primär mit Demonstrationen in der ersten syllogistischen Figur operieren). Diese Analyse und Synthese können wir folgendermaßen notieren (der Buchstabe in Klammern zeigt die syllogistische Relation zwischen A und B an):

(i) A(a): AaC, CaB: B

(ii) A(e): AeC, CaB: B

Syllogistisch formuliert besteht diese Analyse von AaB oder AeB darin, dass wir einen geeigneten Mittelbegriff C finden, der die Aufstellung der beiden Prämissen erlaubt. Es ist möglich, dass wir die inneren syllogistischen Sätze in (i) oder (ii) ihrerseits durch Auffindung anderer Mittelbegriffe weiter analysieren und somit weitere syllogistische Prämissen für sie finden können, etwa für AaC und AeC:

(iii) A(a): AaD, DaC: C

(iv) A(e): AeE, EaC: C

Dann können wir (i) mit (iii) und (ii) mit (iv) zu größeren Analysen verbinden:

[27](v) A(a): AaD, DaC, CaB: B

(vi) A(e): AeE, EaC, CaB: B

Und dieses Spiel können und sollten wir fortsetzen, bis wir zu Prämissen kommen, die wir nicht weiter analysieren können. Das sind dann für den gegebenen Ausgangssatz die ersten oder unvermittelten Prämissen, für die wir keine weiteren Mittelbegriffe finden können. Aristoteles spricht hier anschaulich von einer Verdickungsprozedur, durch die wir die Lücke zwischen den Außenbegriffen des Ausgangssatzes gleichsam mit möglichst vielen Mittelbegriffen anfüllen (APo. I 23). Wenn die Analyse eines universellen syllogistischen Satzes mehr als einen Schritt enthält, können wir übrigens aus den gefundenen Prämissen weitere Sätze neben dem Ausgangssatz logisch ableiten, z. B. aus den in (v) aufgeführten Prämissen den Satz DaB, und aus den in (vi) aufgeführten Prämissen den Satz EaB.

Die weitreichenden wissenschaftstheoretischen Konsequenzen dieses analytischen Verfahrens in den Wissenschaften können wir allerdings erst dann sehen, wenn wir uns klar machen, dass diese Analysen kein logisches Spiel sind, sondern sich auf universelle empirische Fakten in der Welt beziehen. Wenn wir also in unserer Analyse mit einem universellen oder auch partikulären Satz etwa der Form AaB oder AiB starten, so muss es sich um einen Satz handeln, den wir für empirisch wahr halten – z. B. den Satz (a) »Geräusch (A) kommt allen Formen des Donners (B) zu« oder den Satz (b) »Eklipse (A) kommt einigen Mondstellungen (B) zu« (APo. II 8). Und wenn wir in unserer Analyse einen Mittelbegriff C für Prämissen AaC und CaB bzw. AaC und CiB finden müssen, dann muss es sich [28]ebenfalls um Sätze handeln, die wir für wahr halten, von denen wir also glauben, dass sie universelle oder partikuläre Fakten in der empirischen Welt beschreiben – und das zu entscheiden ist Sache empirischer wissenschaftlicher Forschung, nicht formaler logischer Beweise. Es gab, wie Aristoteles berichtet, zu seiner Zeit die Vorschläge, zu Satz (a) den Mittelbegriff C als »Erlöschen des Feuers in den Wolken« und zu Satz (b) als »Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond« zu bestimmen. Damit wurde behauptet, es sei empirisch wahr, dass gilt: (c) Geräusch kommt allem Erlöschen von Feuer in den Wolken zu; (d) Erlöschen von Feuer kommt allen Formen des Donners zu; (e) Eklipse kommt jedem Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond zu, und (f) Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond kommt einigen Mondstellungen zu. Wenn wir die empirischen Sätze (c) bis (f) tatsächlich für wahr halten dürfen, dann haben wir (a) in (c) und (d) sowie (b) in (e) und (f) analysiert, denn (c), (d) ⇒ (a) und (e), (f) ⇒ (b) sind offensichtlich syllogistisch gültige Schlüsse.

Empirische Anwendungen von Analysen dieser Art machen verständlich, warum Aristoteles fordern muss, dass der erste Schritt bei der Etablierung einer angemessenen wissenschaftlichen Theorie darin besteht, universelle empirische Fakten festzustellen. Und wir haben ein empirisches universelles Faktum der Art AaB festgestellt, wenn wir so viele B-Dinge wie möglich empirisch untersucht und herausgefunden haben, dass jedes untersuchte B-Ding die Eigenschaft A hat. Die Aufzählung endlich vieler solcher Beispiele in einer Liste nennt Aristoteles »Anführung«; das ist seine Auffassung von »Induktion«. Eine [29]induktive endliche Liste ohne Gegenbeispiel ist dann natürlich ein exzellenter Grund dafür, den universellen Satz AaB (»Alle B-Dinge sind A« oder »A kommt allen Bs zu«) für wahr zu halten (Aristoteles redet hier allerdings nicht von einem induktiven Schluss). Erst die Fakten, dann die Erklärung – das ist die Devise, die Aristoteles nicht müde wird zu betonen (APo. II 1–2). So hat er auch selbst ein großes biologisches Werk verfasst, das eine reine Faktensammlung beinhaltet und sich aller Analysen und Erklärungen enthält – die Historia Animalium (die Erkundung der Tiere) in zehn Büchern.

Doch welche Rolle spielt die empirische Erfahrung für die Konstatierung empirischer Regularitäten und Prinzipien genauer? Nach Aristoteles entsteht die empirische Erfahrung in vier kognitiven Schritten (APo. II 19):

(1) Wahrnehmung: das Erfassen und Unterscheiden verschiedener Qualia (etwa das Gelbe, Große, Kalte oder Bewegte).

(2) Speicherung und Erinnerung an vergangene Wahrnehmungen der Stufe 1.

(3) Induktion, empirische Erfahrung: Mengen singulärer Fakten der Form »x ist B« (geschrieben B(x)), wobei Träger x und Eigenschaft B auseinandertreten und die verschiedenen Instanzen B(x), B(y), B(z) (oft auch in der komplexen Form B(x) ⇒ A(x), B(y) ⇒ A(y), B(z) ⇒ A(z) …) als ähnlich empfunden werden. Dabei kommt das B und gegebenenfalls das A in der Seele zum Stehen.

(4) Wissen, Einsicht: Vernetzung der empirischen Erfahrung durch logische Analyse.

[30]Diese Stufen folgen genetisch aufeinander, stellen also eine genetische Epistemologie dar. Die Stufen 1 bis 3 sind kognitive Prozesse auf nicht-sprachlicher Ebene, die dem Wahrnehmungsprozess inhärent sind.

Aristoteles ringt an dieser Stelle mit einem ewigen Problem der Wahrnehmungstheorie und des Empirismus: Inwieweit greifen in einen zunächst passiv verstandenen Wahrnehmungsprozess strukturierende Mechanismen ein? Die genetische Epistemologie spiegelt die bedeutende Einsicht, dass empirische Erkenntnis auf der grundlegendsten Ebene nicht auf Prozessen beruht, die sich in Begriffen von Sprache, Logik und Begründung fassen lassen, sondern auf eingespielten und verlässlichen natürlichen Prozessen (die aus heutiger Sicht Strukturerfassung, Merkmalanalyse und Gestaltgesetze umfassen). Damit sind für Aristoteles die tiefsten Grundlagen des Empirismus skizziert.

Wenn nun auf diese Weise für einen bestimmten Gegenstandsbereich möglichst viele Fakten gesammelt und mittels Induktionen in Behauptungen über universelle Fakten überführt worden sind, muss für den Aufbau einer guten Theorie in einem zweiten Schritt die Analyse und Synthese dieser Fakten erfolgen. Damit werden die Sätze über gefundene Fakten, wie beschrieben, in eine logische Ordnung gebracht. Es ist von großer Bedeutung, dass die Analyse grundsätzlich eine Bottom-up-Prozedur ist – von den Konklusionen hoch zu den Prämissen und gegebenenfalls zu den Prämissen der Prämissen, bis wir zu den unvermittelten Prämissen gelangen. (In der Syllogistik wurden die Zeilen formaler Beweise, wie in der heutigen Logik und Mathematik, vertikal von den höchsten Prämissen bis hinunter zur Konklusion geschrieben.) Diese Prozedur stellt [31]kein logisches Verfahren dar, denn im Allgemeinen können wir nicht von den Konklusionen rein logisch auf die Prämissen schließen. Vielmehr handelt es sich um eine kreative Theorienkonstruktion. Allerdings unterliegt die Auffindung der Prämissen zu einem gegebenen universellen Satz der logischen Bedingung, dass diese Prämissen den gegebenen Satz logisch herzuleiten gestatten. Diese logische Herleitung wurde später auch Synthese genannt, weil sie den gegebenen Satz, etwa AaB, aus den Prämissen, etwa AaC und CaB, »zusammensetzt«, z. B. in der Form A(a) – AaC, CaB – B. Eine vollzogene Analyse enthält also bereits einen Teil der Synthese, die dadurch komplettiert wird, dass wir aus den gefundenen Prämissen möglichst viele weitere Konklusionen über die Ausgangssätze hinaus ableiten. Dadurch entsteht ein komplexes logisches Netz von empirisch akzeptierten Sätzen über die Welt.

Aristoteles nennt den epistemischen Zustand, in dem wir uns befinden, wenn wir die Analyse für einen Untersuchungsbereich abgeschlossen haben, Einsicht (nous) (Metaph. IX 10, An. III 6). Dieser epistemische Zustand beinhaltet unter anderem die Kenntnis der höchsten unvermittelten Prämissen, die in der Analyse auftauchen (APo. I 23; I 33). Aber es wäre grundfalsch zu sagen, dass das Vermögen der Einsicht die Fähigkeit ist, unvermittelt die höchsten Prämissen zu erfassen, aus denen dann »top-down« alle Theoreme der Theorie logisch abgeleitet werden. Die Einsicht entsteht nicht am Beginn einer Synthese ohne vorherige Analyse, sondern am Ende von Analyse und Synthese. Man könnte sagen, dass am Ende von Analyse und Synthese die Theoreme einer Theorie axiomatisiert worden sind, denn sie sind in eine logische Ordnung [32]gebracht. Aber es handelt sich nicht um eine Axiomatisierung im modernen Sinne, die mit der Idee verbunden ist, die Menge der obersten Prämissen möglichst klein zu halten und damit den gesamten Inhalt einer Theorie in wenigen Theoremen zu komprimieren. Eine analytische Axiomatisierung im aristotelischen Sinn wird ungefähr ebenso viele oberste Prämissen wie unterste Konklusionen enthalten (APo. I 32). Ihr Ziel ist nicht Komprimierung, sondern im Gegenteil analytische Entfaltung des Gehalts der komplexeren Theoreme, so dass wir durchschauen können, aus welchen Elementen unser Untersuchungsbereich besteht und wie er aus diesen Elementen zusammengesetzt ist. Die leitende Idee der klassischen antiken Philosophie zur allgemeinen Struktur des Wissens kommt in diesem Entwurf also voll zum Tragen und wird im Detail ausgearbeitet.

 

Selbst eine vollständige und abgeschlossene Analyse und Synthese im bisher skizzierten Sinne bietet aber noch keine Erklärungen, denn sie verweist aus sich heraus noch nicht auf Ursachen. Zum Aufbau einer erklärungskräftigen Theorie ist jedoch auch die Erforschung der Ursachen erforderlich. Was sollen wir nun genauer unter Ursachen verstehen? Aristoteles entwickelt die historisch erste präzise Antwort auf diese Frage – die Theorie von den vier aristotelischen Ursachen. Wir dürfen allerdings aristotelische Ursachen nicht mit kausalen Ursachen im modernen Sinne verwechseln. Die moderne Standardtheorie zum Ursachenbegriff beruht auf der Idee, dass Ursachen (a) früher als ihre Effekte sind, (b) hinreichende Bedingungen für ihre Effekte sind und (c) in naturgesetzlichen Beziehungen zu ihren Effekten stehen. Wenn wir eine Ursache und das [33]entsprechende Naturgesetz kennen, können wir dieser Idee zufolge den Effekt vorhersagen.

Aristotelische Ursachen erfüllen diese Bedingungen nicht. Beispielsweise ist (i) das Faktum, dass Statuen aus Bronze sind, eine aristotelische Ursache für das Faktum, dass diese Statuen schwer sind; oder (ii) das Faktum, dass die Erde zwischen der Sonne und dem Mond steht, ist eine aristotelische Ursache für eine Mondfinsternis; oder (iii) die Erhaltung der Gesundheit ist eine aristotelische Ursache für Spaziergänge nach dem Essen oder vergleichbare Maßnahmen zur Förderung der Verdauung; und schließlich ist (iv) das Faktum, dass die Saite einer Laute im Verhältnis 1 : 2 geteilt wird, eine aristotelische Ursache für die Erhöhung des Tons um eine Oktave. Diese aristotelischen Ursachen sind nicht früher als ihre Effekte, und sie sind notwendig für ihre Effekte. Wenn wir eine aristotelische Ursache kennen, können wir im Allgemeinen ihre Wirkung nicht vorhersagen; eher können wir aus Effekten auf aristotelische Ursachen schließen (APo. II 11–17). Aristoteles’ Kernidee ist, dass jeder Verweis auf die Ursache einer Wirkung die Frage beantworten muss, warum die Wirkung zustande gekommen ist. Und seine These ist, dass es vier verschiedene Arten von Antworten auf Warum-Fragen gibt: Die eine Antwort verweist auf das Material der betrachteten Dinge (wie in Fall (i)), eine zweite auf den Bewegungsursprung (wie in Fall (ii)), eine weitere auf das Ziel (wie in Fall (iii)) und eine vierte auf die formale Struktur (wie in Fall (iv)). Dementsprechend sind nach Aristoteles vier Arten von Ursachen auszumachen: die materiale, die effiziente, die finale und die formale Ursache (APo. II 11; Phys. II 3).

[34]Der Begriff der finalen Ursache ist von der Frühen Neuzeit an heftig kritisiert worden. Der wichtigste Einwand lautete, dass finale Ursachen einen Einfluss zukünftiger Ziele auf frühere Ereignisse ausüben würden, und das scheint absurd zu sein. Dieser Einwand beruht aber auf einem tiefgreifenden Missverständnis der aristotelischen Ursachenlehre. Die allgemeinste Idee einer finalen Ursache sieht für Aristoteles so aus: Das Faktum »B kommt C zu« ist eine finale Ursache des Faktums »A kommt C zu«, falls es eine empirisch feststellbare reguläre Reihe von Zuständen der C-Dinge gibt, derart dass diese Zustände zunehmende Reifegrade darstellen und gewöhnlich mit der Entwicklung der B-Eigenschaft ihr reifstes Stadium erreichen, und wenn der Zustand »A kommt C zu« einer der früheren Zustände der Reihe ist, dessen Erreichen für die Realisierung des Ziels notwendig ist; man denke etwa an die Stadien der Entwicklung vom Hühnerembryo zum reifen Huhn, die Aristoteles selbst empirisch untersucht hat. Das ist eine der möglichen Erklärungen dafür, dass C-Dinge zuweilen die Eigenschaft A annehmen. Aber damit ist keinesfalls behauptet, dass das Endstadium einen zeitlich inversen Einfluss auf frühere Stadien ausübt. Man kann in diesem Sinne ohne Probleme von finalen Ursachen sprechen.7

Aristotelische Ursachen sind mit ihren Effekten zwar nicht über Naturgesetze verbunden (der Begriff des Naturgesetzes wurde erst von den Stoikern entwickelt), wohl aber über universelle empirische Regularitäten. Wenn »B kommt C zu« eine aristotelische Ursache für »A kommt C zu« ist, muss zugleich gelten, dass A allen Bs zukommt. Wenn beispielsweise das Material Bronze von erzernen Statuen eine aristotelische Ursache für ihr großes Gewicht [35]ist, muss natürlich dem Material Bronze großes Gewicht zukommen. Und wenn die Stellung der Erde zwischen Mond und Sonne eine aristotelische Ursache für die Mondfinsternis ist, dann muss die Verfinsterung jedes Sterns die Stellung eines undurchsichtigen Körpers zwischen Stern und Sonne implizieren.

Diese Bedingungen ermöglichen es gerade, den Verweis auf Ursachen in eine syllogistische Form zu gießen. Und damit kann Aristoteles den Begriff einer Demonstration an der Idee einer deduktiven Erklärung ausrichten: Der gültige Syllogismus AaB, BaC ⇒ AaC ist eine Demonstration oder wissenschaftliche Erklärung, wenn seine Prämissen für wahr gehalten werden dürfen und wenn die zweite Prämisse BaC als eine der aristotelischen Ursachen für die Konklusion AaC klassifiziert werden kann (APo. I 2). Im Allgemeinen sind die Konklusionen von Demonstrationen, wie bereits bemerkt, selbst universelle Fakten, die zunächst induktiv zu etablieren sind. Aber Aristoteles erkennt auch Demonstrationen singulärer Fakten an, obschon sie nicht so »schön« sind wie Demonstrationen von universellen Fakten (APo. II 11; I 24; I 34). Das singuläre Faktum beispielsweise, dass die Perser Athen militärisch angegriffen haben, lässt sich nach Aristoteles durch die beiden Prämissen demonstrieren, dass (a) eine mächtige selbstbewusste Militärmacht mit Krieg reagiert, wenn sie von einer schwächeren Stadt angegriffen wird, und (b) das schwächere Athen mit dem Angriff auf Sardis die Perser als mächtige, selbstbewusste Militärmacht attackiert hat. In Demonstrationen von singulären Fakten ist die aristotelische Ursache selbst ein singuläres Faktum.

Wenn wir uns an den oben skizzierten Beispielen [36](i)–(iv) orientieren, sehen einfachste Demonstrationen, also deduktive Erklärungen, die auf aristotelische Ursachen verweisen, so aus:

(i)* Statuen aus Metall sind schwer, weil (a) Bronze schwer ist und (b) Statuen aus Metall aus Bronze bestehen (Prämisse (b) verweist auf eine materiale Ursache); syllogistische Notation (mit a = kommt allen zu, b = kommt zu):

(a) schwer a aus Bronze bestehen

(b) aus Bronze bestehen a Statuen aus Metall

(c) schwer a Statuen aus Metall

(ii)* Der Mond ist zur Zeit t verfinstert, weil (a) immer wenn ein Stern am Himmel im Sonnenschatten der Erde liegt, verfinstert ist und (b) der Mond zur Zeit t im Sonnenschatten der Erde liegt (Prämisse (b) verweist auf eine effiziente Ursache); syllogistische Notation:

(a) verfinstert a im Sonnenschatten der Erde sein

(b) im Sonnenschatten der Erde sein b Mond zur Zeit t

(c) verfinstert b Mond zur Zeit t

(iii)* Die Verdauung erfordert Spaziergänge nach dem Essen usw. (usw. steht für: vergleichbare Empfehlungen der Mediziner zur Förderung der Verdauung), weil (a) die Erhaltung der Gesundheit Spaziergänge nach dem Essen usw. erfordert und (b) die Erhaltung der Gesundheit das Ziel der Verdauung des Essens ist (Prämisse (b) verweist auf eine finale Ursache); syllogistische Notation:

(a) Spaziergänge nach dem Essen usw. a Erhaltung der Gesundheit

[37](b) Erhaltung der Gesundheit a Verdauung des Essens

(c) Spaziergänge nach dem Essen usw. a Verdauung des Essens

(iv)* Eine Saite S produziert Töne in einer Oktave, weil (a) die Produktion von Tönen in einer Oktave die Teilung der Saite im Verhältnis 1 : 2 erfordert und (b) die Saite S im Verhältnis 1 : 2 geteilt wurde (Prämisse (b) verweist auf eine formale Ursache); syllogistische Notation:

(a) Produktion von Tönen in einer Oktave a Teilung im Verhältnis 1:2

(b) Teilung im Verhältnis 1:2 b Saite S

(c) Produktion von Tönen in einer Oktave b Saite S

In allen diesen Beispielen ist (i) der Schluss von den Prämissen (a) und (b) auf die Konklusion (c) ein logisch gültiger Syllogismus, (ii) der kursiv geschriebene Begriff der Mittelbegriff, und (iii) Prämisse (b) die Prämisse, die auf eine aristotelische Ursache verweist (mit dem Mittelbegriff als erklärender Eigenschaft). Im Übrigen erklären die Demonstrationen (i)* und (iii)* universelle Fakten, die Demonstrationen (ii)* und (iv)* dagegen singuläre Fakten.

Damit hatte Aristoteles das Konzept der deduktiven wissenschaftlichen Erklärung erfunden.

Wir können nun den letzten Schritt im Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie Aristoteles sich ihn vorstellt, leicht beschreiben: Unter allen Deduktionen, die in einer vollständigen Analyse auftauchen, müssen diejenigen ausgewählt werden, die zugleich Demonstrationen und damit deduktive wissenschaftliche Erklärungen sind – deren zweite Prämisse sich folglich als eine der aristotelischen Ursachen klassifizieren lässt.

[38]Aristoteles bemerkt des Öfteren, dass die Einsicht in die obersten Prinzipien oder Definitionen das höchste Ziel wissenschaftlicher Aktivität ist und dass sich die obersten Prinzipien oder Definitionen nicht selbst noch einmal demonstrieren lassen (APo. I 2; II 19). Wir dürfen diese logisch triviale Bemerkung nicht missverstehen – so als wollte er sagen, dass wir die obersten Prinzipien und Definitionen direkt und unmittelbar, also ohne weitere rationale Begründung, erfassen könnten. Ganz im Gegenteil können wir sie nach Aristoteles nur am Ende eines zum Teil langen Begründungsganges erkennen.

Allerdings unterscheidet er verschiedene Arten von Prinzipien (APo. 1 2). Die wichtigste Art sind die obersten erklärungskräftigen Prämissen, die an der Spitze einer ausgearbeiteten wissenschaftlichen Theorie stehen. Einige dieser Prinzipien nennt Aristoteles auch Definitionen, und zwar jene, die syllogistisch konvertieren und somit wahre syllogistische Sätze der Form AaB sind, für die auch die Umkehrung BaA wahr ist. Natürlich handelt es sich dabei nicht um Definitionen im modernen Sinne – also nicht um bloße analytische Sätze oder Analysen von Wortbedeutungen, sondern um empirisch oder mathematisch gehaltvolle Sätze über die Welt. Prinzipien dieser Art können trivialerweise nicht selbst demonstriert werden, d. h., sie könnten nicht innerhalb der Theorienkonstruktion deduktiv erklärt werden. Aber ein Erfassen dieser Prinzipien setzt ersichtlich die Konstruktion einer abgeschlossenen Theorie voraus; erst nach der Theorienkonstruktion können wir erkennen, welche universellen Sätze in ihrem Gegenstandsbereich Definitionen sind. Daher sind genau diejenigen vielfältigen Gründe, die für die Konstruktion und [39]Annahme einer Theorie im Ganzen sprechen, auch die Gründe, die dem Postulat ihrer Definitionen zugrunde liegen. In diesem Sinne ist das Erfassen dieser Art von Definitionen nicht unbegründet. Aristoteles bemerkt ausdrücklich, dass die Angabe oberster Definitionen und oberster erklärungskräftiger konvertierbarer Prämissen in Analysen auf dasselbe hinausläuft (APo. II 10).

Wenn wir eine wissenschaftliche Theorie konstruieren, müssen wir nach Aristoteles auch davon ausgehen können, dass die fundamentalen Gegenstände, die mithilfe der Theorie untersucht werden sollen, tatsächlich existieren: etwa das Heiße und Kalte in der Physik, die natürlichen Arten von Tieren in der Biologie oder Kreis und Gerade in der Geometrie (APo. I 10). Prinzipien dieser Art heißen Hypothesen. Im Einzelfall sind auch die Hypothesen begründungsbedürftig – als Existenzannahmen naheliegenderweise im Rahmen der ersten Philosophie oder Ontologie. Beispielsweise ist es Aufgabe der Ontologie zu zeigen, ob und in welchem Sinne fundamentale geometrische Gegenstände oder lebende Organismen existieren (Metaph. XIII).

 

Und schließlich benutzen wir zum Aufbau einer Theorie logische Regeln, gelegentlich auch mathematische Formeln. Diese Voraussetzungen sind im Gegensatz zu Definitionen und Hypothesen nicht spezifisch für bestimmte Wissenschaften oder Theorien, sondern kommen gleichermaßen in allen Wissenschaften vor. Prinzipien dieser dritten Art nennt Aristoteles Postulate (griechisch Axiome). Ihre Begründung erfolgt im Rahmen der formalen Logik und Mathematik.

Von allen drei Prinzipienarten lässt sich also sagen, dass sie zwar nicht demonstrierbar und in diesem strengen [40]Sinne nicht erklärbar sind, dass sie aber in einem weniger strengen Sinne nicht nur begründbar, sondern sogar begründungsbedürftig sind. Von einem unmittelbaren Erfassen der Prinzipien kann im Rahmen der aristotelischen Wissenschaftstheorie nicht die Rede sein.

Aristoteles war zweifellos davon überzeugt, dass es selbst für endliche menschliche Wesen prinzipiell möglich ist, die Wahrheit und oberste Prinzipien zu erfassen; in diesem Sinne war er kein Skeptiker. Zugleich betont er jedoch, dass es schwierig ist zu wissen, ob wir etwas wirklich wissen (APo. I 9). Tatsächlich vertritt er die Auffassung, dass endliche menschliche Wesen in ihrem ehrlichen Bemühen um Wissen in der Regel einer Reihe von Irrtümern ausgesetzt sind und nie endgültig sicher sein können, die Wahrheit ein für alle Mal erfasst zu haben. Im einfachsten Fall können wir induktiv etablierte universelle Sätze der Form AaB nur so lange für wahr halten, wie wir empirisch kein B-Ding entdecken, das nicht A ist. Und wenn wir behaupten, dass eine universelle Prämisse der Form AaB unvermittelt, d. h. nicht weiter deduzierbar oder demonstrierbar ist, dann können wir diese Behauptung nur so lange aufrechterhalten, wie wir empirisch keine Eigenschaft C entdecken derart, dass die universellen Sätze AaC und CaB wahr sind. Sofern wir also nicht allwissend sind und einige Fakten im Kosmos noch nicht kennen – und davon ging Aristoteles mit Sicherheit aus (APo. I 12, 78a) –, können wir nicht ausschließen, dass sich unsere bislang empirisch gut gestützte Behauptung, universelle Sätze seien wahr oder unvermittelt, aufgrund der Entdeckung weiterer Fakten am Ende noch als falsch erweist.

Aristoteles hat sich auch mit der Logik der Widerlegung [41]universeller Sätze beschäftigt: mit dem Irrtum durch Deduktion (APo. I 16–17). Wenn wir aus zwei Prämissen in logisch korrekter Weise eine Konklusion deduzieren, die sich als falsch erweist, dann, so Aristoteles, können nicht beide Prämissen zugleich wahr sein. In diesem Fall müssen wir zu klären versuchen, welche der beiden Prämissen falsch ist. Tatsächlich verwendet Aristoteles verschiedentlich selbst dieses Widerlegungsverfahren, indem er gegen gewisse Theorien seiner Vorgänger geltend macht, dass aus diesen Theorien falsche Konklusionen logisch korrekt folgen (Cael. III 7, 306a; II 13, 293a; II 14, 297a; Metaph. XII 8, 1073b–1074a). Und er weist auf eine Reihe weiterer Fehlerquellen beim wissenschaftlichen Arbeiten hin, von denen nicht alle leicht zu entdecken sind, beispielsweise auf zirkuläre Demonstrationen (APo. I 3), auf die Etablierung von Definitionen unabhängig von geeigneten Demonstrationen (APo. II 3–7), auf die falsche Meinung, platonische Begriffsteilungen wären logisch gültige Schlüsse (APo. II 5), oder auf die unzutreffende Vorstellung, es gäbe für jedes universelle Faktum genau eine einschrittige Demonstration (APo. II 16–18).

In den Analytiken findet sich auch die These, dass eine wissenschaftliche Theorie Prinzipien aufstellt, die immer wahr und unvermittelt sind, und dass das, was wahr ist, sich nicht als falsch erweisen kann (APo. I 2, 72a; II 19, 100b). Diese These beschreibt das Ideal einer perfekten wissenschaftliche Theorie. Gerade im Blick auf dieses Ideal können wir nach Aristoteles aber einsehen, dass wir als endliche menschliche Wesen stets in einer fragilen epistemischen Situation sind, die das Scheitern unserer Wissensansprüche niemals endgültig auszuschließen gestattet. [42]Unsere konkrete epistemische Situation in aktiver Forschung wird durch methodische Praktiken strukturiert, die dafür sorgen sollen, dass wir unsere Wissensansprüche möglichst gut begründen und eventuelle Fehler möglichst schnell entdecken können. Die Beschreibung der idealen Wissenschaft ist mit der fallibilistischen Diagnose unserer epistemischen Situation durchaus vereinbar.

Eine der verblüffendsten Entwicklungen der Aristoteles-Rezeption seit dem Mittelalter ist die axiomatische Lesart seiner Epistemologie und Wissenschaftstheorie. Dieser verbreiteten Lesart zufolge soll Aristoteles behauptet haben, dass wir uns der Wahrheit der obersten Prinzipien einer Wissenschaft durch das spezifische Vermögen der Einsicht unmittelbar und endgültig versichern und dann alle Theoreme aus den obersten Prinzipien deduktiv ableiten können – so dass sich auf diese Weise auch die Wahrheit aller Theoreme endgültig sichern lässt. Wir haben jedoch gesehen, dass diese Lesart falsch ist. Ihr Fehler besteht darin, nicht zwischen Wissensideal und konkreter epistemischer Situation bei Aristoteles zu unterscheiden und Bemerkungen über das Wissensideal als Aussagen über unsere konkrete epistemische Situation misszuverstehen. Bereits Aristoteles war im weitesten Sinne wissenschaftstheoretischer Fallibilist. Und auch die moderate fallibilistische Einstellung in der Wissenschaftstheorie zählte er zur Bildung – die Wissenschaftstheorie ist so wenig wie Topik oder Logik eine spezielle Wissenschaft. Wir können Aristoteles selbst kaum dafür verantwortlich machen, dass er viele Jahrhunderte lang – vermutlich unter dem Einfluss des christlichen Denkens – fälschlicherweise als epistemologischer Dogmatiker begriffen worden ist. Mit seiner [43]innovativen moderaten Epistemologie und Wissenschaftstheorie hat er entgegen dieser Deutung vielmehr die sokratische Proklamation des Wissens unseres Nichtwissens mitsamt ihrer argumentativen Technik im logischen Raum der Gründe (und damit im Raum der Bildung) auf theoretisch brillante und nachhaltige Weise umgesetzt. Seine wissenschaftstheoretische Position lässt sich am besten als nicht-fundamentalistischer logischer (genauer: syllogistischer) Empirismus kennzeichnen.