Gnadenlos

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„Aha. Sie sagten, Sie wären in der Nähe gewesen. Wo denn da?“

„Als mich die Information ereilte, dass ich nach Siegen-Wittgenstein muss, war ich gerade bei der Firma Düssmann in Allendorf/Eder. Das ist ja nun wirklich nicht weit weg.“

„Düssmann Heizungen?“

„Genau. Heizung, Klima und so weiter. Einer unserer Premium-Kunden. Mit solchen Kunden telefoniert man nicht mal eben so, wenn Neues ansteht. Zu solchen Gesprächen fährt man persönlich hin. Wir haben da ein komplett neues Projekt im Köcher. Da sollte jetzt bald ein Knopf dran gemacht werden.

Und dann platzt mitten in diese Gespräche der Anruf von meiner Assistentin, die mich über Papas Bitte informierte.“

„Ja, gut. Ihre Assistentin rief an“, zuckte Sven mit den Achseln. „Und weiter?“

„Das hat mich gestört. Wissen Sie?! Wenn es um solch komplexe Verhandlungen geht, dann kann ich solch halb private Telefonate nicht besonders gut haben. Darum habe ich meiner Assistentin gesagt, ich würde mich später melden, sie aber gebeten, schon mal alles Weitere in die Wege zu leiten und vorzubereiten.“

„Was gab es in die Wege zu leiten?“

„Naja, beispielsweise passende Kleidung. Ich hatte keinen dunklen Anzug dabei. Also hat sie Kontakt mit einem Herrenausstatter aufgenommen, der mir diese Sachen hier“, er zeigte auf Hose und Hemd, „direkt vor die Firmentür gefahren hat. Gott sei Dank hab’ ich Idealmaße und kann alles in meiner Größe von der Stange tragen. Ich hab’ mich dann bei Düssmann auf der Toilette umgezogen.“

Der ‚Freak‘ hörte nur kopfschüttelnd zu und fragte schließlich hämisch: „Ja, ja, und die anderen Klamotten, gegen die Sie diese hier getauscht haben, wurden im Firmenklo runtergespült, oder was?“

„Nee, Herr Kommissar, derlei Blödeleien können Sie sich sparen. Die liegen im Kofferraum meines Wagens. Direkt neben dem Kranz, den meine Assistentin noch extra in Allendorf hat machen lassen.“

„Also ein Kranz im Kofferraum – und keine Leiche“, flüsterte Klaus dem ‚Freak‘ zu. „Die Kollegen sollten doch nachgucken, verdammt.“

„Wie bitte?“ Radtke schaute von einem zum anderen. „Was für eine Leiche im Kofferraum?“, fragte er angefressen.

„Nichts, nichts. War nicht für Sie gedacht. … Was haben Sie denn gemacht, als Sie merkten, dass sich in Birkelbach in Sachen Beerdigung nichts abspielt?“

„Ich konnte gar nicht glauben, dass man mich so in die Wüste geschickt hat. Deswegen bin ich ausgestiegen, von meinem Wagen aus eine halbe Treppe hinaufgelaufen und habe auf den Friedhof geschaut. Aber da regte sich nichts. Nur ein paar Gräberreihen weiter oben war jemand dabei, ein neues Grab auszuheben. Ich hab’ den nicht gesehen, sondern habe immer nur eine Schaufel mit Erde hochkommen gesehen. Und mein Rufen hat er offenbar nicht gehört.“

Klaiser nickte. „Das muss wohl dieser… ääh Dörnbach gewesen sein“, flüsterte er wieder. „Mit seinem kaputten Headset in den Ohren.“ Sven nickte. „Und sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?“

„Was hätte mir sonst auffallen sollen?“

„Zum Beispiel ein Mann mit einem Blumenstrauß.“

„Nein. Niemand. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass dort niemand zu sehen war.“

„Wir glauben aber schon. Und zwar der Mann, der direkt vor der Friedhofskapelle umgebracht wurde. Und zwar von Ihnen!“

„Sie …, Sie … Sie sind ja total verrückt!“ Radtke schnappte nach Luft. „Warum hätte ich das tun sollen?“

„Weiß ich nicht. Sagen Sie’s uns.“

Der Verdächtige atmete mehrmals tief ein und ließ die Luft durch seinen gespitzten Mund wieder heraus. Mittlerweile war sein Hemd trotz der recht angenehmen Temperatur im Vernehmungsraum fast transparent und klebte wie eine zweite Haut an ihm.

„Hören Sie, auch wenn Sie es noch ein paar Mal probieren. Ich habe niemanden ermordet! Und ich habe auch keinen Mann mit einem Blumenstrauß gesehen. Weder auf dem Friedhof, noch sonst wo. Ist das klar?!“

Die Kriminalisten blieben ruhig. „Herr Radtke, Sie sind doch von der Zeugin gesehen worden“, insistierte Sven weiter.

„Dann lügt diese Frau. Ich war nicht auf dem Friedhof. Kapieren Sie das endlich!“

Wieder Getuschel zwischen den Kommissaren, die schließlich aufstanden und sich mit „einen Moment bitte, wir kommen gleich wieder“, nach draußen verabschiedeten. „Sie sollten vielleicht doch einen Anwalt hinzuziehen. Sie dürfen das Telefon hier benutzen.“

Draußen pulte der Chef sein Handy aus der Tasche und bat die Kollegen in Berleburg um eine kurze Recherche nach dem verstorbenen Gießereibesitzer Hans Völz und dessen Beerdigung und um einen klärenden Anruf bei der Assistentin von Jörg Rainer Radtke bei der BenRaMet in Hanau.

Außerdem sollte nachgefragt werden, ob der Totengräber schon vernehmungsfähig wäre. Falls ja, solle er von seinen Beobachtungen berichten, die er während seiner Arbeit gemacht habe.

Jörg Rainer Radtke hatte die gut zehn Minuten Pause genutzt, um mindestens eine halbe Flasche Mineralwasser in sich hineinzuschütten. Und um seine Firma in Hanau darum zu bitten, ihm einen brauchbaren Rechtsanwalt in Siegen auszugucken. Der möge zur Polizei in der Weidenauer Straße kommen und sich melden, wenn er da wäre.

Die Kommissare hatten sich draußen noch einmal vergegenwärtigt, dass die Zeugin den Festgenommenen nicht auf dem Friedhof gesehen hatte. Aber sie konnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dort ein Mann zu einer Beerdigung auftaucht, die nicht stattfindet und dann nicht mitbekommen haben will, dass dort ein paar Meter weiter ein Mann tot auf dem Weg liegt.

Zunächst wollten sie von dem Festgenommenen aber erst einmal seine Version der Vorkommnisse hören, um ihr Bild von der Sache zu vervollständigen.

„Nachdem auf dem Friedhof wirklich tote Hose war, bin ich zum Wagen zurück und habe mit unserer Firma telefoniert, um zu fragen, was da eigentlich schiefgelaufen war“, erklärte Radtke also. „Wie sich dabei herausstellte, war das Ganze ein Verständigungsfehler meinerseits. Ich hatte, wie ja bereits erzählt, während der Fahrt bei meiner Assistentin Ort und Zeit der Beerdigung erfragt.

Vierzehn Uhr habe ich ja noch verstanden. Aber das mit dem Ort muss ich total verbaselt haben. Frau Süderbrink hatte nicht Birkelbach gesagt, sondern Birlenbach.“

„Ich glaub’s ja nicht! BIRLENBACH?“, wurde Sven Lukas grob und laut. „Sagen Sie mal, wollen Sie uns hier verarschen?“

„Nicht im Mindesten“, blieb der Angebrüllte ruhig. „Das war einfach ein Hörfehler von mir.“

„Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen. Welcher Geschäftsmann aus Hanau kommt denn durch einen Hörfehler beim Namen Birlenbach ausgerechnet auf Birkelbach?“

Radtke schüttelte den Kopf. „Ein x-beliebiger Geschäftsmann aus Hanau vielleicht nicht.“

„Na sehen Sie“, triumphierte Sven.

„Aber einer wie ich, der knapp zwei Jahre Soldat in Erndtebrück war, schon.“

Klaiser tat verwirrt. „Wie jetzt? Sie waren zwei Jahre beim Bund in Erndtebrück? Waren Sie … ääh Panzerkommandant oder sowas?“

„Nee-he-he“, lachte der Unternehmer, der das Täuschungsmanöver durchschaut hatte, „Panzer bei der Luftwaffe … Was soll denn das? Mann, Mann, Mann. Ich war in ‚Elendsbrück‘, wie die Soldaten dort sagen, sowas wie ein Fluglotse für Militärflugzeuge. Im CRC, dem ‚Control and Reporting Center.‘ War ‘ne tolle Zeit. Ich erinnere mich gerne daran. Und deshalb hatte ich es schon fast als schicksalhafte Fügung gesehen, dass ich wenigstens mal wieder in die Nähe komme.“

Die Beamten schauten sich an. Sollten sie ihm das glauben? Oder wollte er ihnen einen Mordsbären aufbinden? ‚Der Typ ist mir eine Spur zu tough‘, dachte der ‚Freak‘ und startete noch einen Versuch.

„Sie wollen uns aber nicht weismachen, dass Sie während Ihres Dienstes in Erndtebrück nie etwas von Birlenbach gehört haben.“

„Doch, will ich“, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. „Ich kannte Birlenbach weder vom Namen her, noch von einem Besuch dort. Und auch die Birlenbacher Straße, in der mich Ihre Kollegen festgenommen haben, kannte ich nur vom Navi, das mich von Birkelbach aus dorthin gelotst hat.“

Klaus griff sich an den Kopf. Dem Manne war nicht beizukommen. Allerhöchste Zeit, dass sich die Kollegen endlich rührten und berichteten, ob und was sie über diesen ominösen Gießereibesitzer und seine Beisetzung herausbekommen hatten. Aber vorher musste noch eine ganz wesentliche Frage geklärt werden. „Wo hatten Sie eigentlich den Spaten her, den Sie da in die Hecke gefeuert haben?“

Radtke schaute ihn etwas blöde an. „Was? Das hat Ihre Zeugin etwa auch gesehen?“

„Ja, hat sie. Tatsächlich, das hat sie“, wiederholte der Chefermittler und freute sich, den Delinquenten endlich in die Bredouille gebracht zu haben.

„Sie brauchen gar nicht so dämlich zu grinsen“, entgegnete der aber ziemlich pampig. „Ich bin über dieses Scheißding gestolpert, als ich telefonierend vom Friedhof zum Wagen zurückkam. Ich hab’ den Spaten neben dem Auto einfach nicht gesehen.“

„Glaube ich Ihnen nicht.“

„Glauben Sie doch, was Sie wollen. Es war aber so.“

„Das ist doch Blödsinn. Wenn der Spaten wirklich neben dem Wagen gelegen hätte, dann wäre er Ihnen doch spätestens nach ihrer Fahrt auf den Parkplatz beim Aussteigen aufgefallen.“

„Das sehe ich auch so. Aber scheinbar hat mich die Stille dort dermaßen irritiert, dass ich das Ding einfach übersehen habe.“

„Ach, übersehen …“, wiederholte Sven mit zynischem Unterton.

„Ja, übersehen“, flüsterte Radtke, hielt die Hände vor seine Augen und verschwand für ein paar Sekunden in Gedanken.

„Ach so, stimmt ja!“, rief er plötzlich. Offenbar war ihm die Szene wieder ins Gedächtnis zurückgekommen. „Ich bin nämlich nach dem Aussteigen nach hinten zum Kofferraum, also linksherum gegangen, um den Kranz dort herauszunehmen. Hab’ mich aber dann doch entschieden, ihn erst noch drin zu lassen und nachzusehen, was da eigentlich los ist, beziehungsweise, warum da nichts los ist.“

 

„Dann hätten Sie den Spaten ja spätestens dann sehen müssen. Der lag doch auf Ihrem Weg.“

„Nein. Ich bin vom Kofferraum aus diagonal über den kleinen Parkplatz zum Friedhofstor gelaufen. Da stand ja sonst kein anderes Auto. Ich habe das Ding erst gesehen, als ich schon drüber gestolpert war.“

„Und? Wie sah der Spaten aus?“

„Was ist das denn für eine Frage? Wie ein Spaten eben so aussieht.“

„Ich wollte wissen, ob da Blut dran war“, nervte es Klaiser mittlerweile, dem CEO jede Antwort wie einen Wurm aus der Nase ziehen und dabei zusehen zu müssen, wie seine Hoffnungen auf einen schnellen Fahndungserfolg den Bach runtergingen.

„Hab’ ich nicht drauf geachtet. Ich hab’ den einfach vor Wut gegen die Hecke gefeuert, bin eingestiegen und losgefahren. Dabei hatte ich die Hoffnung, den Angehörigen von Herrn Völz wenigstens noch am Grab kondolieren und den Kranz loswerden zu können.“

Wieder steckten die Kriminalisten die Köpfe zusammen und tuschelten. „Das klingt alles viel zu schlüssig“, meinte Lukas, „der wars nicht, verdammte dicke Hacke.“ Der Chef nickte.

„Hören Sie“, unterbrach Radtke die beiden, „wenn Sie am Ende sind mit Ihrem Latein, dann würde ich jetzt gerne wieder fahren.“

„Hätten Sie gerne, was?!“ Klaiser war noch unentschlossen.

„Ja, hätte ich gerne“, antwortete sein Gegenüber ziemlich barsch. „Ich habe meine Zeit nämlich nicht gestohlen.“

„Wir auch nicht“, antwortete Klaus bissig.

„Jetzt werden Sie leider etwas unverschämt, Herr Klaiser. Ich habe Sie nicht gebeten, mich festzusetzen und mir eine halbe Ewigkeit dieses Theater hier vorzuführen.“

„Also …“, setzte Klaus an und schnappte nach Luft. Doch Radtke fuhr ihm einfach lautstark in die Parade.

„Nix! Jetzt bin ich dran! Ich habe wirklich viel Verständnis dafür, dass die Polizei ihren Job ordentlich macht, um Kapitalverbrechen wie dieses möglichst schnell aufzuklären. Aber sowas wie hier habe ich noch nicht erlebt. Erst die Festnahme – mit Publikum und so. Vielen Dank dafür. Ließ sich wohl nicht vermeiden.

Aber der anschließende Aufenthalt in der Zelle ohne jede Information und dann dieses Rumgeeiere bei der Vernehmung. Das ist wirklich eine Zumutung. Mir reichts! Sie haben doch nichts in der Hand. Absolut nichts!“

„Was hätten Sie denn an unserer Stelle gemacht, wenn Ihnen eine solche Zeugenaussage präsentiert worden wäre?“, fragte Sven fast hilflos und fing sich dafür einen bösen Blick seines Chefs ein.

„Was ich gemacht hätte? Ich hätte mich eins zu eins an die Fakten gehalten. Die Frau hat mich schließlich nicht auf, sondern am Friedhof gesehen.“

„Also jetzt aber …“, begehrte Klaiser auf, „wer seinen Wagen auf einem Friedhofparkplatz abstellt, das Fahrzeug eindeutig verlassen hat und Trauerkleidung trägt, tat dies mit Sicherheit nicht, um von dort aus einkaufen zu gehen. Wir müssen gründlich ermitteln. Ob es dem Betroffenen passt oder nicht. Und Sie sind nun mal der einzige Mensch, der etwa zur Tatzeit dort gesehen wurde. Von einer durchaus glaubwürdigen Zeugin.“

„Da sagen Sie was“, erwiderte Radtke und runzelte die Stirn, „war das etwa eine Frau mit einem grünen Golf oder Polo? Habe ich der das alles hier zu verdanken?“

„Wie kommen Sie darauf? Haben Sie die Frau etwa gesehen?“

„Natürlich habe ich sie gesehen. Vier, fünf Sekunden lang vielleicht. Sie kam vom Berg herunter am Parkplatz vorbei, als ich gerade einstieg. Und sie war nicht langsam unterwegs. Vier, fünf Sekunden. Überlegen Sie mal. Es ist doch schon irre, dass sie gesehen hat, wie ich den Spaten weggeworfen habe.“

„Da haben Sie recht. Das ist in der Tat bemerkenswert. Aber war es wirklich nur das eine Mal, dass Sie die Frau gesehen haben?“

„Nee, ich hab’ sie kurz danach unten im Ort nochmal kurz gesehen.“

„… und mit Ihrem Überholmanöver fast zu Tode erschreckt“, ergänzte Klaus, als sich plötzlich piepend eine Nachricht auf seinem Handy bemerkbar machte. Die Kripo-Männer steckten die Köpfe zusammen, um zu lesen.

‚Hans Völz, Gießereibesitzer, beigesetzt heute, Dienstag, 14 Uhr, auf dem Friedhof in Siegen-Birlenbach, NICHT IN BIRKELBACH. Sehr große Beerdigung, Sekretariat der BenRaMet bestätigt Nachfrage von Radtke wg. Irritation Birkelbach – Birlenbach,

Gemeindearbeiter Dörnbach noch nicht vernehmungsfähig. Gruß Petra.‘

„Ich sag ja, er wars nicht“, raunte Sven. „Die Nummer war für die Katz’ und unser Mörder genießt die Freuden der Freiheit.“

„Stimmt“, antwortete Klaus knapp, gab noch zwei, drei Anweisungen per WhatsApp an die Kollegen in Berleburg durch und sagte schließlich im Aufstehen: „Herr Radtke, wir haben Ihre Angaben überprüft. Sie können gehen. Ich entschuldige mich bei Ihnen ausdrücklich für die entstandenen Unannehmlichkeiten und wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.“

Jörg Rainer Radtke lächelte fast gütig, als er sich ebenfalls erhob und meinte, „schon in Ordnung. Ich muss mich auch bei Ihnen entschuldigen für mein teilweise doch recht harsches Verhalten. Man kommt halt nicht so oft unvermittelt in eine Situation, in der man völlig zu Unrecht für einen Friedhofskiller gehalten wird. Ich muss zugeben, das war schon eine nervenzehrende Geschichte.

Aber vielleicht sind Sie so nett und beschreiben mir den Weg zum Friedhof in Birlenbach. Den Kranz sollte ich schon noch auf das Grab von Herrn Völz legen.“

Doch die Aufgabe mussten sie an einen ortskundigen Kollegen von der Siegener Wache delegieren.

Noch bevor sie wieder in Klaus’ Audi einstiegen, der einem glühend heißen Backofen ähnelte, war dessen Besitzer innerlich längst auf Garstufe 3. „Was für ein gottverdammter Superscheißtag“, geriet er wieder in einer Form aus der Fassung, die Lukas bis zum Mittag noch fremd gewesen war.

Den Spruch vom total vermiesten Tag musste der Chef per Telepathie von Rüdiger Mertz übernommen haben. Denn der äußerte sich wortgleich, nachdem er Sarah gebeten hatte, auf der Birkefehler Höhe „mal rechts ran“ zu fahren und ausgestiegen war.

„Drei Todesnachrichten an einem Nachmittag“, stöhnte er, „das übersteigt alles, was ein Mensch ertragen kann.“

Die Kollegin empfand ähnlich. „So schlimm hatte ich mir das alles nicht vorgestellt. Ich glaube nicht, dass ich das so schnell wegstecke“, versuchte sie Konversation zu machen. Und ihr Blick irgendwohin ins Leere verriet, dass ihr fast fluchtartiges Verlassen Birkelbachs nicht später hätte kommen dürfen.

Luise Böttcher, die Mutter des Mordopfers hatte wohl schon seit Stunden auf die Rückkehr ihres Sohnes gewartet und war sehr erschrocken, als Sarah und Rüdiger ins Wohnzimmer kamen. Sie waren durch den traditionell unverschlossenen Stall in das alte Bauernhaus gelangt, nachdem sie vergeblich geklingelt und die Haustür verschlossen vorgefunden hatten.

„Wer sind Sie?“, hatte die alte Dame jammernd gefragt und ein Kissen schützend vor den Oberkörper gezogen. „Ich habe nichts, was ich Ihnen geben kann.“

„Die Minuten danach waren furchtbar“, erzählte Sarah später den Kollegen. „Wir dachten, die arme Frau stirbt auf der Stelle. Als sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr, entglitten schlagartig nicht nur ihre Gesichtszüge, das kleine Frauchen sackte vielmehr total in sich zusammen. Keine Bewegung, kein Schnaufer mehr. Ich war überzeugt, dass sie tot ist.“

Zum Glück aber hatte Mertz blitzschnell reagiert, sich hinter den Sessel gestellt, der fast federleichten Frau unter den Armen hindurchgefasst, sie hochgerissen und auf den Fußboden gelegt. Als er gerade mit Wiederbelebungsversuchen beginnen wollte, schlug Frau Böttcher die Augen wieder auf – und erschrak erneut, als sie Rüdigers Gesicht so dicht über dem ihren sah.

Von dem Moment an, so berichteten die beiden Beamten, hätten sie den Eindruck gehabt, die Frau habe durch die Nachricht vom Tod ihres jüngsten Sohnes einen Schock erlitten, der ihre Erinnerung komplett ausgelöscht hatte. In ihrer Hilflosigkeit riefen sie einen Notarzt und bemühten sich bis zu dessen Eintreffen abwechselnd, der alten Dame zu trinken zu geben.

„Was ist denn hier los – was machen Sie hier?“, rief plötzlich eine verstörte weibliche Stimme hinter ihnen. Völlig unvermittelt war eine Frau ins Wohnzimmer getreten und hatte die beiden Polizisten kniend rechts und links von Frau Böttcher angetroffen. Sarah, während sie ihr Schlückchen für Schlückchen Wasser aus einem Glas einflößte und Rüdiger, während er beruhigend die verhutzelte linke Hand des Frauchens streichelte.

Sie brauchten einen Moment, um der entsetzten Frau klar zu machen, dass sie von der Polizei wären und von ihr gerne wissen wollten, wer sie denn eigentlich sei. Denn so ganz hatten sie sich nicht vorstellen können, dass eine nahe Verwandte einen alten Menschen bei solch brutalen Temperaturen allein lässt.

„Erzählen Sie mir zuerst mal, was Sie hier wollen. Und wo ist eigentlich mein Bruder Daniel?“ Sie war also eine Tochter der alten Frau Böttcher.

„Hören Sie“, hatte Rüdiger Mertz eine Antwort versucht, musste dann aber erst einmal absetzen, um zu überlegen, wie er ihr den Mord an ihrem Bruder möglichst schonend beibringen sollte. „Daniel äääh“, er konnte doch um Gottes Willen jetzt nicht das Wort ‚war‘ benutzen. „Daniel ist also Ihr Bruder?“, stammelte Rüdiger.

„Ja, natürlich. Daniel ist mein jüngster Bruder. Die beiden älteren sind leider längst tot.“

‚Oh Gott, das ist ja grauenhaft.‘ Fieberhaft ersann der Kommissar einen Ausweg aus der katastrophalen Situation. Doch die resolute Frau ließ ihm keine Zeit.

„Also, was ist?“

„Es tut mir sehr leid, Frau … äääh …“

„Stremmel“, unterbrach sie sein Gestotter, „Brigitte Stremmel. Was tut Ihnen leid?“

„Es tut mir ausgesprochen leid, Frau Stremmel, Ihr Bruder Daniel ist … auch … tot.“

„Wie bitte? Erzählen Sie doch keinen solchen Quatsch! Das kann doch überhaupt nicht sein. Wir haben doch heute Mittag noch hier gemeinsam zu Mittag gegessen, Daniel, Mama und ich. Das ist doch ausgemachter Blödsinn“, reagierte sie brüsk. „Er ist doch nur kurz zum Friedhof gegangen, um Blumen auf Tante Hertas Grab zu bringen.“

„Und dort haben wir ihn tot aufgefunden“, erklärte Rüdiger. „Leider.“ Er flüsterte fast. Denn er wollte die alte Dame unter keinen Umständen noch mehr aufregen. Doch die saß völlig teilnahmslos in ihrem Sessel und blickte ins Leere.

„Nein, bitte nicht. Nicht auch noch Daniel. …“ Brigitte Stremmel begann leise zu weinen.

„Wir hätten Ihnen diese Nachricht lieber erspart, glauben Sie mir das. Aber es ist leider so.“

„Wie ist er denn gestorben? Er war doch topfit. Ein Sportler, wie er im Buche steht.“

Mertz hatte nicht den Nerv, der Schwester auch noch zu erklären, auf welch widerwärtige Art der Bruder ums Leben gekommen war. Hilfesuchend blickte er zu Sarah herüber. Doch die schüttelte nur fast unmerklich den Kopf und schaute zu Boden.

Vor Rüdigers Augen flimmerte es. ‚Unterzuckerung‘, dachte er, ‚gleich kippst du um.‘ Doch es half ihm alles nichts.

„Wie ist er gestorben?“, insistierte die Schwester erneut.

„Er wurde ermordet, Frau Stremmel.“

Sarah zog blitzschnell einen Stuhl aus der Essecke des Zimmers herbei, weil sie fürchtete, auch die Frau könne jeden Moment zusammenbrechen. Die ging jedoch zu einem der Fenster, riss es auf und schnappte nach Luft. „Hört das denn nie auf? Herrgott, warum strafst Du uns denn so hart?

Erst wird Florian beim Holzfällen von einem Baum erschlagen, dann verunglückt Clemens mit dem Motorrad und stirbt. … Und jetzt auch noch Daniel – auf dem Friedhof! Haben Sie eine Ahnung, was das mit mir und vor allem mit meiner Mutter macht?!“ Die letzten Worte schrie sie mit geweitetem Blick, während sie sich umdrehte und auf die zusammengesunkene alte Dame zeigte.

Draußen vor dem Haus fuhr ein Rettungswagen vor. Türen krachten ins Schloss. Dann klingelte es.

„Der Notarzt. Den haben wir bestellt“, rief Sarah regelrecht erleichtert und startete Richtung Hausflur. „Bleiben Sie, ich mache auf.“

Derweil hatten Klaus und Sven in Siegen mit einigem Widerwillen den grünen Audi bestiegen, dessen Innenraum es locker hätte mit einem türkischen Hamam aufnehmen können. Einzig der Dampf fehlte. Noch immer kartete Klaiser lautstark die Ereignisse des Tages nach: „Erst der ekelhafte Mord bei dieser Affenhitze, dann der nervige SpuSi-Futzi und jetzt dieses Dilemma mit einem Täter, der keiner war. Ich hab’ die Schnauze gestrichen voll. Und dann kommt auch noch dieser Schnaudigl hinterhergeeiert. Was für ein Brechmittel von einem Rechtsanwalt.“

 

Sven war geschockt. Plötzlich erschien ihm sein großes Vorbild in Sachen Ruhe und Selbstbeherrschung in einem Zerrbild. Er traute sich nicht einmal, begütigend auf den Mann einzuwirken, der während seiner Schimpftirade den Glutofen mit hochdrehendem Motor aus der Parklücke herausschießen ließ und mit gewagtem Manöver in den fließenden Verkehr der Weidenauer Straße einfädelte. „Leck mich am Buckel, was für ein Kotzbrocken“, motzte Klaiser lautstark weiter.

Doktor Jeremias Schnaudigl schien ihm tatsächlich den letzten Nerv gezogen zu haben. Nicht nur, weil der sich erst nach beendetem Verhör und Freilassung des verdächtigten Jörg Rainer Radtke ins Spiel gebracht hatte. Unmittelbar nach seinem viel zu späten Auftauchen auf der Wache. Sondern vor allem deshalb, weil der Advokat massiv insistierend den ganzen Tatbestand noch einmal aufgeblättert haben wollte.

Er sei schließlich von der Firma des Herrn Radtke beauftragt worden und leider nicht früher abkömmlich gewesen, begründete der Fiesling seinen nachträglichen Informationsanspruch. Dass das aber nach Auskunft der Ermittler jeder Grundlage entbehrte, war für ihn unerheblich.

Nach einem knapp fünfminütigen Einzelgespräch mit seinem Mandanten hatte er schließlich auf eine Erklärung des Kripo-Chefs gedrängt, dass alle gegen Radtke erhobenen Vorwürfe fallen gelassen und weitere Ermittlungen gegen denselben eingestellt würden.

Als er das in Form eines Kurzprotokolls notiert und von Klaus unterschrieben haben wollte, war dem schließlich in einer Orgie von lautstarken Zurechtweisungen und Gesetzeszitaten der Kragen geplatzt.

„Das wird Konsequenzen für Sie haben“, hatte der Anwalt Klaiser hinterhergerufen, als der gemeinsam mit dem Kollegen das Polizeigebäude verlassen hatte.

„Ist mir schon klar“, war dessen fast lautstarke Antwort. „In Form einer satten Anwaltsrechnung zu Lasten des Steuerzahlers. Fürs Zuspätkommen. Adieu Herr …, ach, ich sag’s lieber nicht.“

Nach diesem deftigen Abgesang war Ruhe eingetreten im Auto. Sie hatten schon das Werk der Waggon Union in Dreis-Tiefenbach passiert, als der ‚Freak‘ sich schließlich traute, den Mund aufzumachen und zu fragen, ob es Klaus jetzt besser gehe.

„Ja, habe mich ausgekotzt. Musste sein. Sorry, dass Du’s abgekriegt hast. Aber jetzt weißt Du wenigstens, wie ich mich nach einem solchen Kack-Tag fühle. Im Übrigen hast Du Dir ja auch einen ganz schönen Bock erlaubt, mein Lieber.“

„Wieso? Was hab’ ich gemacht?“

„Das weißt Du doch selbst. Oder hast Du meinen ‚Anschiss-Blick‘ etwa nicht bemerkt. Wie kommst Du denn um alles in der Welt dazu, einem Verdächtigen zu erklären, wie hilflos wir bei der Ermittlung gegen ihn waren?“

„Hä?“ Lukas begriff nicht, worauf der Boss hinauswollte.

„Soll ich’s Dir vorbeten, oder fällts Dir wieder ein? ‚Was hätten Sie denn an unserer Stelle gemacht …?“, zitierte er langsam, mit weibisch verstellter Stimme und pendelndem Kopf.

„Seit wann müssen wir Verdächtigen gegenüber unsere Ermittlungsmethoden rechtfertigen? Das ist unprofessionell, Mensch!“

Der Zusammengestauchte wurde auf dem Beifahrersitz immer kleiner. „Ja, hast ja recht.“

„Hast recht, hast recht“, äffte Klaus nach. „Und? Warum hast Du’s dann gemacht?“

„Der …, der Radtke hat mir halt leidgetan. Weil zu dem Zeitpunkt eigentlich schon klar war, dass er’s nicht gewesen sein konnte und wir ihm den ganzen Nachmittag versaut haben.“

„Was haben wir?“

„Wir haben ihm den ganzen Nachmittag versaut.“

Klaus runzelte die Stirn und hätte um ein Haar eine rote Fußgängerampel übersehen. Als er schließlich abgebremst hatte, schaute er seinen Beifahrer an und meinte: „Hast recht, das haben wir. Handschellen, Zelle und Verhör statt Beerdigung …, das muss man nicht unbedingt haben, wenn man nix verbrochen hat.“

Mit einem nachhaltig brennenden Schlag mit der flachen Hand auf Svens Oberschenkel entschied er schließlich, „wir fahren jetzt nach Erndtebrück und hauen uns beim Eisdealer auf meine Rechnung ‘ne Riesenportion rein. Damit wir endlich mal wieder auf eine halbwegs ordentliche Betriebstemperatur runterkommen.“

„Ja, aber wie soll’s denn mit dem Fall weitergehen? Wir haben ja nichts, rein gar nichts auf der Pfanne.“

„Überlegen wir beim Eis“, beendete Klaus die Diskussion und liebkoste förmlich die Armatur der Klimaanlage, die mittlerweile die Luft im Audi auf ein erträgliches Maß heruntergekühlt hatte. „Außerdem habe ich den Kollegen vorhin noch per WhatsApp ein paar Aufgaben gegeben.“

„Welche?“

„Erfährst Du auch beim Eis. Und jetzt is’ gut. Ich brauch’ mal ein paar Minuten Durchzug in der Birne.“ Sprach’s und startete seine allseits gefürchtete Deep-Purple-CD. „Bam-bam-baa, bam-bam-baraa, bam-bam-baa, ba-ba!“, dröhnte ‚Smoke on the water‘ aus der Klaiser’schen Musikanlage. In einer Lautstärke, die sogar manchen Passanten kopfschüttelnd hinter dem Audi herschauen ließ.

Klaus Dörnbach erwachte aus einem eigentümlichen Dämmerschlaf und hatte große Schwierigkeiten, seine Umwelt wahrzunehmen. War es finster, dort, wo er offensichtlich schwitzend auf einem Bett lag, oder war er auf dem Weg zur totalen Erblindung? Vorsichtig tastete er nach links. Da war nichts. Nur etwas mit dünnem Schlauch dran steckte in seinem Handrücken. Der Griff nach rechts dagegen ertastete ein nacktes Bein.

Ein spitzes „Huch“ ließ den Totengräber dermaßen zusammenfahren, dass ihm vom Genick aus ein beißender Stich unter die Schädelplatte jagte. Übelkeit stieg in ihm auf.

„Schatz, Gott sei Dank“, sagte eine wohlbekannte Stimme mit einem scheppernden Echo zu ihm. Als er noch einmal prüfend in dieselbe Richtung tastete, fühlte er nicht nur einen nackten Oberschenkel, sondern auch eine Hand, die die seine leicht umfasste. Es war die seiner Frau, die offenbar auf der Bettkante saß und selbst etwas eingedöst war.

„Maus, ich brauche bitte was zu trinken. Schnell, sonst muss ich kübeln“, flüsterte er. Doch selbst die verminderte Lautstärke trug nicht dazu bei, diesen widerlichen Hall aus seinen Worten zu reduzieren. Alles hörte sich so an, als riefe er in eine tiefe Höhle hinein, von deren Felswänden seine Worte hundertfach reflektiert wurden. ‚Besser den Mund halten!‘, befahl er sich.

Sekunden später spürte er, wie ihre linke Hand unter seinen Kopf glitt und ihn behutsam anhob, während ein eigentümlich starres Kunststoffrohr zwischen seine Lippen fuhr. „Hier Schatz, trink. Aber sei vorsichtig“, hämmerte es zwischen seinen Ohren.

Seine Frau Marie-Luise, die ihn immer zur Vorsicht gemahnte, war in diesem Moment seine Retterin. Oh Gott, war ihm schlecht! Gierig sog er an dem Rohr. Und bevor es bitter in seiner Speiseröhre aufsteigen konnte, spülte er kühles Wasser dagegen und wollte gar nicht mehr damit aufhören. Bis Marie-Luise die Tülle der Schnabeltasse aus seinem Mund zog.

„Weiter!“, bat er. Doch das büßte er sofort mit einem weiteren Stich im Denkgehäuse. Und wieder schepperte es in seinen Gehörgängen. Nur diesmal endete der Tumult nicht. Denn es war eine Tür aufgeflogen und seinem Empfinden nach eine ganze Elefantenherde trampelnd ins Zimmer gekommen. Der Krach wurde schier unerträglich.

Dörnbach umklammerte seinen Kopf und krümmte sich schreiend vor Schmerz bis zur Embryonalstellung.

Entsetzen im Blick des Stationsarztes, der gerade hereingekommen war. Schockstarr und hilflos schaute er erst auf den Mann auf dem Bett und dann auf dessen Frau. Dörnbach brüllte, was seine Stimmbänder hergaben. Die Ratlosigkeit im Gesicht des Mediziners war unübersehbar.

Aber dann, auf einmal, war alles vorbei. Das Schreien schien erstickt. Klaus lag, in Schweiß gebadet, auf der Seite. Hechelnd und schluckend schnappte er nach Luft. Doch sein Gefühl hatte sich schlagartig gebessert. Kein Stechen mehr im Kopf, kein Klang und kein Gepolter mehr in den Ohren. Plötzlich war alles verstummt. Als sei das Kabel zu seinem inneren Lautsprecher abgeknipst worden.