Hans Weigel

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Am 23. Oktober hielt er fest: „Es ist grauenhaft und doch wunderbar, was ‚die Liebe‘ aus einem Menschen machen kann, ich scheine wirklich ein ganz anderer geworden zu sein.“ Er wagte es, ihr einen Brief zu schicken, erhielt einen „Absagebrief“ zurück, der für ihn einen „Sturz aus allen Himmeln“ bedeutete, obwohl er sich eingestand, dass ihr Brief „vielleicht gar nicht bös gemeint“ war. Darunter litt er: „Ich habe Anwandlungen von Unglücklichkeit, dass es ärger nicht mehr vorstellbar ist“, doch träumte er von ihr, ihren „so lieben“ Briefen, was ihn nicht nur „versöhnlicher“ stimmte, sondern ihn „alles milder betrachten“ und ihn auch bei Tag von ihr ein wenig träumen ließ. Ein paar Tage später klagte er emotionsgeladen: „O warum habe ich niemanden auf der Welt, der mir Hänschen sagt, mir dabei sanft die Wange streichelt?“

Beim Schreiben dieses Tagebuches verspürte er Lust zum Schreiben, weshalb er am 8. November festhielt: „Immer wieder fühle [ich] in mir das Gefühl, zum Schriftsteller bestimmt zu sein, speziell in meinen Träumen kommt das zum Ausdruck, wo ich Geschehnisse gleichsam in der Form von Novellen oder Romanen höre (ich kann mich da schon richtig ausdrücken), indem es in mir erzählt und wo ich, wie z. B. heute, wieder Personen und Vorgänge, die in ihrem Wesen ganz außerhalb meines sonstigen Gedanken- und Erlebniskreises stehen, erlebe, die wie ein Roman anmuten. Es ist nicht, als ob der Traum von außen kommt, nein, ich bin halb bewusst daran beteiligt und heute hielt ich mich sozusagen gewaltsam vom Aufwachen zurück, um die Handlung noch zu einem folgerichtigen Ende zu führen. […] Immer wieder habe ich an das Leben anknüpfend, oder ganz von selbst Ideen, aber nachdem sie mich eine Zeitlang beschäftigt haben, entschwinden sie, ich vergesse sie. Nur ganz Weniges habe ich vor dem Vergessen bewahrt, weil ich mir vornahm, es wirklich auszuarbeiten, bin zwar nie über einige Seiten hinausgekommen, aber ich weiß wenigstens, was es war und komme oft in Gedanken darauf zurück.“ Dazu entwarf er das Exposé zu einer Novelle, in der ein junger Mann seiner Angebeteten Tagebuchblätter – ähnlich seinen eigenen – schickt und von ihr Tagebuchblätter, ihre abwartende Liebe gestehend, zurückerhält … Er schrieb die Novelle, schickte sie einer Redaktion, fügte aber gleich hinzu: „[…] aber da ist wohl so gut wie gar keine Aussicht.“

Im Jahresrückblick am 31. Dezember 1925 bekannte Hans Weigel nach dem Überfliegen des bisher im Tagebuch Geschriebenen: „Ich habe es gelesen wie irgend ein besonders kitschiges Buch und muss sagen, es hat mir gefallen, wenn ich ehrlich sein soll. […] Lisl hat nicht aufgehört, der Mittelpunkt meiner Gedanken zu sein.“ Er habe nicht aufgehört, „auf bessere Zeiten zu hoffen“ und ihr ein „leicht gestimmtes Neujahrsgedicht, das unter dem Motto stand: ‚Ärger kann nichts mehr werden, höchstens besser‘“ geschickt.

In der ersten Eintragung des Jahres 1926 hielt Weigel erkennend fest: „Ich möchte wirklich gerne Schriftsteller werden. Wenn ich auch Kaufmann werden soll, trotzdem. Ich mache ca. alle 2 – 3 Wochen dieselbe Entwicklung durch: 1) das Leben freut mich schon gar nicht mehr, 2) Selbstmord, 3) vielleicht den Selbstmord in Romanform festhalten, 4) der Roman wird nichts – abwarten! Wenn man diese Wiederkehr nicht recht deutlich festhalten kann, der Roman spielt eine große Rolle in meinem Leben. Ich sehe Menschen immer als Figuren, sehe alles auf seine Eignung festgehalten zu werden hin an. Ich möchte [mir in dem vorgestellten Roman] momentan so gerne die Leiden eines kleinen Jungen von der Seele schreiben, der vor der Matura steht, Familie hat, liebt etc. etc.; ich glaube, es müßte eine harmlose, schülerhafte aber doch ganz nette Erzählung werden …“

Eine Antwort oder Dank erhielt er auf seinen Neujahrsbrief an Lisl nicht. Er wertete dies, nachdem er sie auf der Straße getroffen hatte, in einem drei Seiten langen Gedicht – datiert mit 13. Jänner – als Ende:

[…] Kaum redet sie und drängt alsbald zum Gehen.

So wußte ich denn, was ich nie gewagt zu ahnen,

Daß es vorbei, mit einemmal vorbei. […]

Für mich gibt es nur eines jetzt: Vergessen […]

Bei einem Kurzbesuch Mitte Februar 1926 in Gösing gegenüber dem niederösterreichischen Ötscher bei „herrlichem Wetter“ und „herrlicher Gegend“, die er voll genoss, glaubte er auf dem besten Wege zu sein, sich von „ihr innerlich loszutrennen. Vielleicht hat dazu auch mein erster Ball (am 11.) etwas beigetragen. Es ist gar nicht so unmöglich, daß ich mit der Zeit noch sogar ganz gerne tanzen werde“. Hans Weigels Stimmung hatte sich gebessert und er stellte „mit Vergnügen“ fest, dass seine „schriftstellerischen Produkte, welcher Art auch immer, nicht so schlecht sind und daß in letzter Zeit eine gesteigerte Produktivität im heiteren Genre eingetreten ist; man findet da ein Faustlibretto, Aphorismen, eine Wagnernachempfindung, ein Drama […] Vielleicht wäre das ein Weg“.

Abgesehen von seinem pubertären Liebesbekenntnis und den ersten Schreibversuchen gewährt dieses Tagebuchfragment noch weitere Einblicke in Weigels Jugendwelt. Wiederholt äußert er sich über die Schule und die Ungeduld, diese zu verlassen, wie dies etwa auch eine Eintragung vom 15. September 1925 einmal mehr zeigt. Und am Ende seiner Eintragung vom 23. Oktober ein Stoßseufzer: „Wie froh werde ich sein, die Mittelschule, trotz allem, hinter mir zu haben!“ Auffallend ist dabei, dass er dann jedoch nichts über die Matura selbst und das Gefühl der Erlösung danach berichtete.

Wesentlich interessanter sind Weigels Anmerkungen über seine anderen Aktivitäten. Er besuchte sehr häufig Theater, Oper, Vorträge und vor allem Konzerte, denn Musik war für ihn einerseits „die einzige Flucht und Rettung“, andererseits „ein Laster, wie Nikotin, ich kann ohne sie nicht sein, habe den Drang […] möglichst viel zu ‚konsumieren‘“. War seine Stimmung auch noch so schlecht, die Musik befreite ihn. Und wie auch in späteren Jahren war Franz Schubert „Regent auf allen Linien“. Seine Lieder spielte er auf der Flöte gelegentlich ganze Nachmittage und er war „immer auf ’s neue begeistert“. Das Gesehene und Gehörte beurteilte er in Stichworten, wobei schon seine kritische Vorliebe zum Vorschein kommt: „[…] das Stück [Pygmalion von George Bernard Shaw] als ganzes geschickt gemacht, aber ziemlich unbedeutend, einzelnes, wie immer bei Shaw hervorragend, Aufführung recht gut. Gestern Meistersinger Volksoper […] Die Oper hat nicht den erwarteten ganz großen Eindruck auf mich gemacht, einzelnes sehr schön, aber als Ganzes, als Eindruck kein Vergleich mit Tristan oder dem Ring.“ Nach solchen Worten nimmt es auch nicht wunder, dass Weigel seine Musikbegeisterung am 4. Oktober 1925 in Verse fasste:

O meine Liebe und meine Flöte,

Was tät ich, wenn ich Euch nicht hätte?

Dann gäbe es nichts auf der ganzen Welt,

Was mich bewegt, was mir gefällt

Und nicht vermöchte mir zu wehren,

Der bösen Welt den Rücken zu kehren.

Drum seid bedankt ihr lieben beiden,

Ihr meine einzigen irdischen Freuden,

Ich weiß nicht, was ich ohne euch täte,

Ohne die Liebe und ohne die Flöte.

Begeistert fügte er am Abend desselben Tages hinzu: „Es gibt doch noch etwas Schönes auf der Welt, z. B. den heutigen Nachmittag: zuerst musiziert […], dann improvisiert, etc., dazwischen unterhalten (auch das Blödeln hat oft etwas Befreiendes).“ Weigel sollte auch später als Erwachsener bekannt für sein „geistreiches“ Blödeln sein, das in dem schmalen Bändchen Blödeln für Anfänger (1963 bei Diogenes erschienen) mit Zeichnungen von Paul Flora seinen Höhepunkt fand. Für Weigel war Blödeln „höherer Blödsinn: Blödsinn, welcher im Idealfall derart erhöht wird, dass er nicht mehr blöd und nur noch Sinn ist – Unsinn zum Zweck der Überwindung des Unsinns“, wie er am Buchrücken vermerken ließ.22

Im Tagebuchfragment folgten darauf nur mehr zwei unbedeutende Eintragungen. Es endete am 14. Mai 1928 mit der relativierenden Selbsterkenntnis: „Ich finde ja, damals ein recht dummer Junge gewesen zu sein, mit unwirklichen Vorstellungen romanhafter Art von ihr.“ Über seine Matura, seine Aufenthalte in Hamburg und Berlin schrieb er nichts mehr, er ließ aber in seine späteren Schriften mehrfach Erinnerungen an diese Schulzeiten bis zur Matura einfließen.

In den Osterferien 1926 besuchte Hans Weigel zusammen mit einem gleichaltrigen Freund mit großem Interesse die Museen, Konzertsäle und Theater von München. Für ihn war es die erste fremde Großstadt, die ihm sehr gut gefiel. „Vielleicht“, so meinte er in Das Land der Deutschen mit der Seele suchend, „imponierte mir die Regelmäßigkeit, die Übersichtlichkeit der breiten Straßen und Plätze. Das Deutsche sprach mich an. […] Ich war ein Freund des Deutschen und der Deutschen geworden. Und das mag damit zusammenhängen, dass mir Deutschland nicht nur sauberer schien, sondern daß mir auch das Deutsch der Deutschen sauberer schien, als das, was rund um mich gesprochen wurde.“23

Das Hauptereignis dieses Jahres war jedoch die Matura: Es war damals am Beethoven-Gymnasium obligatorisch, die schriftliche Reifeprüfung in den Fächern Latein, Griechisch, Deutsch und Mathematik abzulegen und eine „Matura-Arbeit“ zu verfassen, vergleichbar einer Seminararbeit. Zur mündlichen Prüfung musste ein Gegenstand der vier schriftlichen und ein frei ausgesuchtes Fach gewählt werden. Weigel entschied sich für Geografie und Deutsch. Das Thema der Arbeit lautete: „Die Alpenbahnen Österreichs.“ Dafür recherchierte er in Archiven, auch im damaligen Eisenbahnministerium. Diese Arbeit machte ihm Spaß, umso größer war seine Enttäuschung, darauf nur ein „Gut“ erhalten zu haben, weil er die 28 Kilometer lange Strecke von Friedberg nach Hartberg nicht erwähnt hatte. Diese – ihm bestens bekannt – hatte für ihn im engeren Sinn nicht zu den Alpenbahnen (wie etwa die Bahnen über den Semmering, den Brenner, den Arlberg, die Tauern- und die Mittenwaldbahn) gezählt. Das ärgerte ihn so, dass er – für ihn typisch – kurz nach der Matura eigens von Hartberg nach Friedberg fuhr und feststellte, dass dies seiner Definition nach keine Alpenbahn wäre.

 

Maturaklasse, Hans Weigel in der Mitte der 2. Reihe (mit Brille)

Bei den schriftlichen Prüfungen hatte er, wie er sich in seiner Autobiografie erinnerte, außer in Mathematik keine Schwierigkeiten. Von den vier Beispielen, die hier zu lösen waren, war eines relativ einfach, zwei schob er von Beginn an als für ihn unlösbar zur Seite und beim vierten, einer Gleichung, wusste er nicht weiter. Er drehte sich in einem unbeobachteten Augenblick zu seinem Hintermann, der ihm „Subtrahieren!“ zuflüsterte, sodass er die Gleichung lösen konnte und daher die – wie er festhielt – lebensgefährliche Klippe einer mündlichen Mathematikprüfung umschiffen konnte.24

Das Thema in Deutsch lautete „Der dritte Stand im deutschen Drama – von Lessing bis Gerhart Hauptmann“. Die Beurteilung „Genügend“ zeigt, dass sich bei Weigel eine schriftstellerische Laufbahn noch keineswegs abzeichnete; bekanntlich stand er mit dieser schulischen Beurteilung in Deutsch nicht allein unter den Schriftstellern da. Sein vorrangiges Interesse lag zu dieser Zeit, gefördert von seiner Mutter, sicherlich bei der Musik. Nicht nur, dass er, wie bereits geschildert, Konzerte und die Oper besuchte, er konnte ein wenig Klavier spielen, vor allem aber sehr gut Flöte, die er auch wirklich gerne spielte.

In In die weite Welt hinein berichtete der erwachsene Hans Weigel rückblickend: „Die Mündliche in Geographie ist gut ausgegangen, war aber doch blamabel. Ich wusste nicht, wie hoch der Mount Everest ist. Wozu auch? Man kann ja nachschauen. – Die Mündliche in Deutsch war fulminant. Ich war zum ersten- und letzten Mal im Leben ein wirklich guter Schüler, das heißt: nein, im Gegenteil. Ich wurde nach Gottfried Keller gefragt, ich liebte Gottfried Keller, hatte alles Erforderliche gelesen, kannte auch die Biographie, diese vielleicht aus der Deutschstunde, aber alles andere: ‚Die Leute von Seldwyla‘, ‚Das Sinngedicht‘ und vor allem den ‚Grünen Heinrich‘ hatte ich aus Eigenem zu mir genommen. […] Man soll, finde ich, lernen […]: einen Stoff zu bewältigen, man sollte Lernen lernen, etwas Nicht-Naheliegendes lernen […]“25

Am Abend der bestandenen mündlichen Matura begleiteten ein Klassenkollege und Hans im Orchester im Floridsdorfer Arbeiterheim die Solistin Gertrud Schiff bei Mozarts Violinkonzert in A-Dur, sein Freund auf der Klarinette, er selbst auf der Flöte. „Konnte man die Reife schöner feiern als durch die Mitwirkung an dem A-Dur-Violinkonzert? […] Bis zu diesem Abend war alles, was mich betraf“, schreibt Hans Weigel in seiner Autobiografie, „in vorbildlicher Übersichtlichkeit verlaufen, immer in Wien, sechs plus vier plus acht, sechs Jahre Vorkriegszeit, vier Jahre Volksschule und Krieg, acht Jahre Gymnasium und Nachkriegszeit.“26 Die Zeit bis 1945 sollten diese „Übersichtlichkeit“ und Stetigkeit nicht mit sich bringen.

Lehrjahre in Hamburg, Berlin, Paris und Wien

„Mein Vater wünschte sich für mich einen kaufmännischen Beruf; er war bereit, mich studieren zu lassen, was ich wollte.“1 Außerdem sollte der Maturant Hans Weigel die Welt kennenlernen. Da sein Vater alles Britische verehrte, sollte er zunächst die Londoner School of Economics besuchen. Diese und andere Handelshochschulen sagten ihm jedoch nicht sonderlich zu. „So kam die undezidierte Entscheidung zustande: Jus-Studium, das kann man immer brauchen, und zwar in Hamburg, wo eine kaufmännische Atmosphäre herrschte.“2

Mit gutbürgerlichem Taschengeld wohnte Hans Weigel in seinem ersten Semester von September 1926 bis zum Frühjahr 1927 bei zwei alten, für Thomas Mann schwärmenden Damen in einem möblierten Zimmer in Harvestehude, Isestraße 51. Er belegte alle Rechtsfächer, die für die Erstsemestrigen vorgesehen waren, aber auch Philosophie und Psychologie. Darüber hinaus besuchte er Musikvorlesungen und einige über russische Literatur, hatte zum letzten Mal Flötenunterricht, besuchte Symphoniekonzerte und die Oper. Großen Eindruck hinterließ eine Orpheus-Aufführung von Jacques Offenbach im Thalia Theater mit singenden Schauspielern wie Gustaf Gründgens und Viktor de Kowa als Hans Stix.

Auch begann Weigel in Hamburg zu schreiben, „nur so für mich und gar nicht begabt“.3 In Das Land der Deutschen mit der Seele suchend war er 1978 der Ansicht: „Hätte es damals den Hans Weigel gegeben und ich hätte ihm Arbeitsproben geschickt, er hätte mich nicht zum Weiterschreiben animiert.“ Ebendort hielt er fest, dass ihm immer, wenn er später nach Hamburg kam, wegen der Erinnerungen an 1926 „das Herz aufging“, er seinen Glauben an Deutschland wiedergefunden habe, da es dort nicht nur nach See, sondern vor allem „nach Demokratie duftet“.4

Am Ende dieses ersten und einzigen ernst genommenen Wintersemesters 1926/​27 reiste Weigel – seiner Erinnerung nach im Februar 1927 – nach Berlin, um in einem Verlag eine Stelle zu finden, die Literatur und kaufmännischen Beruf verband. Nachdem er bei S. Fischer und anderen „freundlich unverbindlich abgefertigt“ worden war, fand er ab April 1927 eine Anstellung für 28 Mark im Monat als Lehrling bei Die literarische Welt, einer von Ernst Rowohlt und Willy Haas 1925 gegründeten Wochenzeitschrift, dem Unabhängigen Organ für das deutsche Schrifttum, die sich zum Zeitpunkt seiner Vorsprache gerade als selbstständige GmbH von Rowohlt gelöst hatte und daher für zusätzliche Mitarbeiter offen war.

Weigel wohnte in einer Pension am Nürnberger Platz und war überwältigt von dem, was er in Berlin vorfand: Er sah Werner Krauß, wie er sich zu erinnern glaubte, in Fritz von Unruhs Bonaparte in der Regie von Gustav Hartung mit Dagny Servaes als Joséphine sowie den ein Jahr zuvor, am 14. Dezember 1925, unter Erich Kleiber an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführten Wozzeck von Alban Berg. Weigel fühlte sich wohl in dieser Stadt, „von der man sofort adoptiert wurde“.5 Doch nicht allein Theater, Opern und Konzerte ließen ihn in Berlin seine „Menschwerdung“ widerfahren, sondern auch die Tatsache, dass diese Hauptstadt der Künste Begabungen und Genies anzog: Musiker, Schauspieler, Regisseure, Sänger und Schriftsteller wie Arnold Schönberg, Franz Schreker, Max Reinhardt, Robert Musil, Alfred Polgar, Erich Kästner, Bert Brecht … Weigel gefiel, „dass in Berlin auf den Strassen spät abends ein so dichter Verkehr wimmelte wie in Wien am späten Nachmittag. Berlin war hell, Berlin war schnell, Berlin hatte einen höheren Blutdruck und einen besseren Tonus, Berlin war, und das gehört zu seiner Attraktivität, von Berlinern bewohnt“.6 Ähnliches sollte er 21 Jahre später an seinem ersten Abend in New York feststellen.

In diesen Monaten war er begierig darauf, Theater und Musik zu konsumieren, und kam bei all den Berliner Größen der damaligen Zeit voll auf seine Kosten: bei Erwin Piscator am Nollendorfplatz, im Staatlichen Schauspielhaus, bei Fritz Kortner als Oscar in Gespenster, Werner Krauß in Peer Gynt von Henrik Ibsen mit Frida Richard als Aase in Bertold Viertels Inszenierung, im Schillertheater mit Frank Wedekinds Musik mit Maria Koppenhöfer, den beiden Opernhäusern, den Konzerten unter Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Erich Kleiber und Otto Klemperer … Doch war er auch als „reiner Konsument“ schon kritisch, zählte die eine oder andere Piscator-Inszenierung zu den dummen, Fritzi Massary sah er als überschätzte Diva an. Er sah schreckliche Klassikeraufführungen wie Heinrich VI. mit Eugen Klöpfer, Paul Wegener und Ernst Deutsch, ebenso langweilig zelebrierten Naturalismus wie die von Karlheinz Martin „fad“ inszenierte Rosa Bernd mit Käthe Dorsch … Dagegen aber standen: Werner Krauß, Grete Mosheim, Carola Neher, Curt Bois, Oskar Homolka, Fritz Kortner, Maria Koppenhöfer, Paul Bildt, Aribert Wäscher, Walter Franck, Rosa Valetti, der schon erwähnte Wozzeck von Alban Berg, die 3. Sinfonie von Gustav Mahler unter Erich Kleiber, die Sinfonietta von Leoš Janáček im Beisein des Komponisten, Troilus und Cressida, inszeniert von Heinz Hilpert etc. All die Kammerrevuen am Kurfürstendamm gingen ihm so nahe wie zuvor der Hamburger Orpheus und bildeten den Nährboden für Weigels Tätigkeiten in der Wiener Kleinkunst wenige Jahre später.

Er schrieb weiterhin, „doch es blieb quantitativ und qualitativ unbedeutend. Unbegabt.“7 Eine kleine Blödelei und Aphorismen erschienen in den Lustigen Blättern und im Tagebuch, doch fehlte ihm die Ermutigung weiterzuschreiben. Dies sollte noch einige Jahre andauern, weshalb er über sich selbst bis zum Beginn seiner Tätigkeit in der Wiener Kleinkunst – als 24-Jähriger – in seiner Autobiografie bekannte: „Ich betrieb allerlei Brotloses und sehnte mich sehr danach, dass jemand mir sagen möge, was ich eigentlich tun sollte. Wenn ich je etwas werde, nahm ich mir vor, würde ich begabten jungen Leuten so helfen, wie ich mir damals gewünscht habe, dass mir geholfen werde.“8 Diesen Vorsatz sollte er nach 1945 mit seinem Einsatz für junge österreichische Literaten einlösen, nicht nur mit der Herausgabe der Anthologiebände Stimmen der Gegenwart

Bei der Literarischen Welt, wo Weigel von 1. April 1927 bis 1. April 1928 arbeitete, schrieb er Adressen und Aufforderungen für Inserate, bearbeitete Einzelbestellungen und betreute das Mahnwesen. Doch seine wichtigste und für ihn lohnendste Aufgabe war es, Besuchern die Tür zu öffnen und sie anzumelden. Wen sah er da nicht alles: Bekannte Literaten der Vorkriegsjahre wie Ernst Toller, Walter Hasenclever, Joachim Ringelnatz, Felix Braun, Jakob Wassermann oder Hugo von Hofmannsthal bekam er neben vielen anderen zu Gesicht. Fast alle von ihnen konnte seine Erinnerung viele Jahre später in seiner Autobiografie mit einer Anekdote verknüpfen.

Wenn er etwas für die Literarische Welt schreiben sollte, Buchbesprechungen, einen Weihnachtsratgeber für Musik oder über einen stürmisch verlaufenen Abend mit Adolf Loos, so war das nicht nur in seinen Augen „unterdurchschnittlich“, denn er war „mit zwanzig noch ein miserabler oder gar kein Schriftsteller“.9

Weigel belegte zwar weiterhin Jusvorlesungen für den Fall, dass er wirklich weiterstudieren sollte, spielte sogar kurzfristig mit dem Gedanken, zur Germanistik zu wechseln, doch sein Schutzengel, „auch sonst nicht faul“, sollte ihn vor der Germanistik bewahren, denn in seinen Augen verhielt sich „Germanistik zu Literatur wie Gynäkologie zu Liebe“.10

Erst im Frühjahr 1928 kehrte Hans Weigel nach über einem Jahr in Berlin nach Wien zurück. Im Zeugnis, das sich im Nachlass in der Wienbibliothek befindet, wurde ihm „gern bestätigt, dass er alle ihm übertragenen Arbeiten und Aufgaben zu unserer vollsten Zufriedenheit durchgeführt hat, aber darüber hinaus, durch eigene Initiative, eigentlich vielmehr ein wertvoller Mitarbeiter für uns war, als eine untergeordnete Hilfskraft“.

Die Vorgänge des Jahres 1927 in Österreich – die Erschießung zweier sozialistischer Schutzbündler durch christlichsoziale Frontkämpfer in Schattendorf und deren Freispruch, der Brand des Justizpalastes und die Niederschlagung der sogenannten Julirevolution durch die christlichsoziale Regierung von Ignaz Seipel – hatte er in den Zeitungen in Berlin genau mitverfolgt. Mit scharfen Worten verurteilte er viele Jahre später in seiner Autobiografie Ignaz Seipels Reaktion sowie das Vorgehen des verantwortlichen Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober und fragte sich, warum er nach Wien zurückgekehrt war, während Ödön von Horváth, Karl Kraus, Alfred Polgar und Robert Musil zu dieser Zeit Berlin vorzogen. Er gab sich selbst nach längerem Nachdenken eine Antwort: „[…] vermutlich aus Loyalität gegenüber jenen vierzig Prozent Verfolgter, denen ich mich verbunden fühlte“.11 Schon hier zeigt sich, dass er als eingefleischter Österreicher Österreich sein Leben lang liebte und gleichzeitig daran litt. Es war für ihn keine Kunst, dass er Österreicher war, wohl aber eine, dass er es nach diesen Vorfällen und dem späteren „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich nicht nur blieb, sondern auch nach seiner Emigration mit Überzeugung wieder Österreicher wurde, „was ihm so viele Österreicher mosaischer Konfession [sein Leben lang] übelnahmen“.12 Dabei war er aber, so oft er konnte, noch vor 1933 in Berlin, wie er in Das Land der Deutschen mit der Seele suchend vermerkte: „[…] so, wie man sonst eine geliebte Landschaft immer wieder aufsuchte. Ich wollte das Hier-zu-Hause-Sein wiedererleben, auskosten, ich wollte versuchen, ob es nicht doch eine Möglichkeit gab, hier zu arbeiten. Im Sommer 1932 zum letzten Mal. Hätte ich damals eine Stelle gefunden, wäre ich gewiß, freudig und erfüllt, um diese Fünf-Minuten-vor-zwölf-Zeit nach Berlin übersiedelt. Ich riet noch damals allen Wiener Freunden, doch unbedingt nach Berlin zu gehen.“ Und: „[…] seit ich damals, 1932, von Berlin weggefahren bin, war nun doch dieses Berlin die Stadt meiner Träume geworden. – Eine Sehnsucht, die sich niemals erfüllte.“13 Berlin hatte ihn auf seinem ersten großen Umweg „von Wien nach Wien“14 zu sich selbst geführt. Später sollte er es als persönlichen Affront empfinden, dass trotz seiner Liebe zu Berlin durch die Nürnberger Gesetze des Dritten Reichs ein „unüberwindliches Ehehindernis“ zwischen ihm und Berlin gleich einer Mauer aufgerichtet worden war.

 

Die literarische Situation in Österreich in der Zwischenkriegszeit schilderte Weigel rückblickend so: Es gab die Etablierten wie Anton Wildgans, Franz Karl Ginzkey, Rudolf Hans Bartsch, Franz Werfel, Stefan Zweig, Felix Salten, während Robert Musil, Hermann Broch und Franz Kafka in den Dreißigerjahren kaum wahrgenommen wurden und die Jungen in Weigels Alter keine Chance hatten. Friedrich Torbergs Roman Der Schüler Gerber dürfte die Ausnahme der Regel gewesen sein: „Wäre ich der nächste Rilke oder der nächste Schnitzler gewesen, wäre dies nicht bemerkt worden und hätte nichts bewirkt.“15 Doch war er nach eigener Aussage damals noch weit davon entfernt.

In einem undatierten Manuskript für ein Interview mit der Kärntner Tageszeitung, im Nachlass erhalten, antwortete Hans Weigel auf die Frage, welche Kontakte er mit den „jüdisch-österreichischen Intellektuellen“ der Zwischenkriegszeit gepflegt hatte: „Ich war befreundet mit Medizinern und Ärzten, die mit Freud und Adler sympathisierten und war selber von deren Theorien sehr fasziniert. Ich stand aber in leidenschaftlicher Opposition zum literarischen Establishment der 1. Republik, also Leuten wie Franz Werfel, Stefan Zweig und Hugo von Hofmannsthal […, da ich sie] wahrscheinlich für die schreckliche Zeit mitverantwortlich machte, obwohl Bundeskanzler Prälat Seipel das Judentum beschimpfte, unternahmen diese Literaten nichts gegen ihn. Die Literatur stagnierte […] Die neue Musik war im Ghetto. Nur wenige wirklich bedeutende Denker konnten erfolgreich arbeiten. Werfel und Zweig waren Exponenten des Systems und mussten für mich als einen jungen Oppositionellen als Galionsfiguren der Seipel-Ära erscheinen.“

Bis 1932 war Weigel Hörer und Leser von Karl Kraus, der ihn sehr beeinflusste und auf den er sich später des Öfteren berief. Zeugnis dafür ist sein viel beachtetes, 1986 Elfriede Ott gewidmetes Buch Karl Kraus oder die Macht der Ohnmacht, ein Versuch eines Motivberichtes zur Erhellung eines vielfachen Lebenswerks, wie der Untertitel erläutert. Doch unterstützte er die polemischen Angriffe seines kritischen Vorgängers nicht immer und wandte sich von ihm ab, als dieser mit dem Dollfuß-Regime sympathisierte.

Durch die Freimaurerbeziehungen seines Onkels erhielt Hans Weigel in der Abteilung für Herstellung und Vertrieb im Paul Zsolnay Verlag in den Jahren 1929 und 1930 eine Stelle. Dafür hatte er sich mit einem Buchdruckkurs an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt, damals noch in der Westbahnstraße, weiters mit einem Kurs für Prinzipale und einem ergänzenden Volontariat in der Druckerei Waldheim-Eberle vorbereitet. Auch später sollte Weigel sicher noch so manche Druckerei besuchen, denn noch 1983 betonte er in Das Schwarze sind die Buchstaben: „Ich war so gern in Setzereien und Druckereien, ich sah in jedem, der dort arbeitete, meinen Freund und Helfer.“16

Für Weigel waren diese zwei Jahre bei Zsolnay eine ruhige, gemächliche Zeit, ein „Aschenputtel-Dasein“, wie er es nannte, in denen er jedoch Anstoß an der Kommerzialisierung der Literatur nahm. Einen Platz in diesem Verlag, „der mir zusagte, der mich und den ich ausgefüllt hätte“17, sah er nicht, er zog die Konsequenzen und verließ den Verlag. Im am 31. Dezember 1930 ausgestellten Zeugnis wurde er dennoch sehr gelobt: „Wir hatten in Herrn Weigel einen ungewöhnlich befähigten, hingebungsvollen und äusserst strebsamen Mitarbeiter, der der Abteilungsleitung dank seiner besonderen Begabung tatkräftigst zur Seite stand und ihr wertvolle Dienste leistete.“ Doch zumindest den Umgang mit dem grafischen Gewerbe empfand er als lehrreich. Zudem hörte er im Verlag zum ersten Mal den Namen Doderer, weil seine Kollegin Lisa Ludassy, Tochter eines heute vergessenen, doch zu seinen Lebzeiten am Beginn des vorigen Jahrhunderts beliebten Schriftstellers, ein Buch von Doderer ihrer Freundin Lili Bier empfahl. Über die Jahre und den Krieg hinweg blieb dieser nicht gerade gewöhnliche Name in Hans Weigels Gedächtnis hängen. Bei einer großen Kunstausstellung 1946 in der Ausstellungshalle Zedlitzgasse wurde er dem damals nur wenigen bekannten Heimito von Doderer schließlich vorgestellt. Seit damals, seit seinem aus der Erinnerung emportauchenden, bewundernden „Jöh!“ entwickelte sich eine über den Tod hinausgehende Freundschaft, die sich durch die „Einbeziehung des Ganzen in Zustimmung“, der „ganzen Person namens Heimito von Doderer mitsamt allen Schrullen und Menschlichkeiten“18 auszeichnete.


Im Café mit Heimito von Doderer, 1970er-Jahre

Im Zsolnay Verlag begegnete Weigel auch durch das Manuskript Der Schüler Gerber hat absolviert dem ihm bis dahin unbekannten Friedrich Torberg. „Das war ein Buch“, bekannte Weigel 1980 in Große Mücken, kleine Elefanten, „das ich gern geschrieben hätte.“19 Dieses Manuskript war dem Verlag von Max Brod empfohlen worden und Weigel hatte den genauen Umfang durch Zählen der Anschläge festzustellen. „Es war der Mittelschüler-Roman“, der „die Institution der Mittelschule genauso in Frage stellte wie ich.“20

Weigel bezeichnete Torberg und sich selbst später als „eine Art Vettern im Geist. (Vor allem, weil Polgar unser Vorbild war.) Unsere Beziehung war eine der bestentwickelten Hasslieben dieses Jahrhunderts“.21 Denn ihre Variationen des Themas Wiener Autor Jahrgang 1908 „berühr[t]en und kreuz[t]en einander immer wieder und rieben sich auch immer wieder aneinander. Wir sind fast immer einig, wenn auch, wie man zu sagen pflegt, oft nur darüber, dass wir uneinig sind. F. T. ist mein ältester literarischer Freund. […] Er kam gerade noch dran, erfreulich und erstaunlich früh. Aber kaum dass er Zsolnay-Autor geworden war, warf Zsolnay Ballast ab, welcher dem grossen Nachbarn missfiel, und hielt sich lieber an Jakob Schaffner [den Schweizer Schriftsteller, der die nationalsozialistische Ideologie unterstützte]. Torberg war auf einen Aussenseiterverlag in Mährisch Ostrau, dann auf einen Verlag in Zürich angewiesen. Schwer, ein Romancier zu sein! Wir sind durch alles hindurch und über alles hinweg in Kontakt geblieben. Es blödelt sich so gut mit ihm, es ist auch ein Vergnügen auf höherer Ebene, mit ihm verschiedener Meinung zu sein“.22

1931 wurde Hans Weigel durch die Geduld, das Verständnis und die Großzügigkeit seiner Eltern ein einjähriger Aufenthalt in Paris ermöglicht, den er, der „fanatische Admirateur der französischen Sprache“, die er „so gern hörte und sprach“23, vor allem dazu nutzte, die Stadt kennen und lieben zu lernen. Er wohnte im Hotel Riviera – 22, Rue Saint-Sulpice im 6. Arrondissement – in einem sehr kleinen Zimmer im fünften Stock, studierte nicht, las viel, faulenzte eigentlich, ging ins Theater und in Konzerte. Diese Liebe zu Paris und zur französischen Sprache sollte mit eine Voraussetzung für seine hinreißenden Molière-Übersetzungen nach 1962 sein.