Winterwahn

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Z serii: Weltengrau #3
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»Faszinierende Geschöpfe«, sagte Torga nachdenklich. »Ich frage mich, ob diese Dinge mit dem Strom der Magie zu tun haben oder tatsächlich weltlichen Ursprungs sind. Aber wenn schon niemand weiß, woher diese Wesen stammen, dann sind solche Details selbstverständlich ohnehin reine Spekulation. Hat es eigentlich außer dem natürlichen Engpass aufgrund der Landzunge hier einen Grund, warum das Bollwerk gegen die Bedrohung durch die Bestien in einer so lebensfeindlichen Umgebung steht? Den Klabautern scheint die Kälte ja wenig auszumachen, wenn sie noch weiter von Norden kommen.«

»Die sind völlig resistent dagegen«, nickte Varg. »leider macht sie das offenbar trotzdem nicht anfälliger für Hitze. Sie fürchten das Feuer nicht und kämpfen noch, wenn sie in Flammen stehen. Der Engpass hier ist der Grund für den Bau an dieser Stelle, ja. Als mein Ahne das Bollwerk errichten ließ, war es hier zwar schon unwirtlich, doch war die Witterung noch nicht ganz so tödlich, wie sie es nach dem Grau geworden ist. Ich habe zeitweise mit dem Gedanken gespielt, eine Alternative zu suchen, es aber vor Jahren aufgegeben. Die Zahlen der Angreifer schwanken, aber langfristig werden es immer mehr. Sowohl der Aufwand als auch das Risiko, sie weiter im Inland an mehreren Stellen aufzuhalten, ist einfach zu groß. Wenn diese Verteidigungslinie fällt, werden Eure Gerüchte zur Wahrheit. Dann wird mein Jarltum überrannt und vermutlich bald darauf ganz Norselund. Ein paar Angriffswellen in freiem Feld zu überleben wäre, wenn auch vielleicht möglich, furchtbar verlustreich. Und im Gegensatz zu den Klabautern verdoppelt oder verdreifacht sich die Zahl meines Volkes nicht in jedem Jahr.«

»Und kein Mensch weiß, was diese Wesen jedes Jahr auf die Schlachtbank des Walls hier führt?«, wollte Torga wissen.

Varg schüttelte den Kopf. »Vermutlich vermehren sie sich so schnell, dass ihr natürlicher Lebensraum einfach voll ist. Das wäre zumindest eine Erklärung, wenn sie gewöhnliche Tiere wären. Aber auch das kann niemand sagen. Sie können ein Relikt aus längst vergangenen Tagen sein, oder bloß eine garstige Laune der Natur.«

»Meine Chance, einen von ihnen zu Gesicht zu bekommen ist wohl eher gering«, meinte der Erzdiakon bedauernd. »Könntet ihr mir wohl zumindest für meine Unterlagen eine korrekte Zeichnung von ihnen überlassen? Es hat zwar nichts mit meinem Auftrag zu tun, aber ihr wisst ja, der zwanghafte Wissensdurst. Außerdem könnte ich das eine oder andere kirchliche Archiv von falschem Wissen säubern. Darüber hinaus bin ich auch schlichtweg neugierig, wie sie aussehen.«

»Selbstverständlich«, antwortete Varg, »ich werde euch eine Auswahl an Zeichnung zur Verfügung stellen, wenn wir wieder auf Snaergarde sind. Das Äußere der Klabauter ist nicht einfach zu beschreiben. Man sagt, sie glichen vom Körperbau den Riesenaffen der südlichen Dschungel von Haquadelaor. Ich persönlich kann das weder bestätigen noch dementieren, denn ich habe diese Affen nie gesehen und war nie auf dem Kontinent im Süden. Aber wartet auf die Zeichnungen, ich bin sicher, dass sich im Nachlass meines alten Majordomus reichlich brauchbares Material für euch finden wird.«

»Ich danke euch, wie so oft, sehr, Lord Ulfrskógr. Wenn ihr mich nun entschuldigen wollt, ich sollte Lombardo und Bridges in Bewegung setzen, bevor sie mir einfrieren. Ihre Ausbildung war bei weitem zu aufwendig, um sie durch eine solche Unachtsamkeit zu verlieren. Wäre es euch genehm, wenn wir das Abendessen gemeinsam einnahmen würden? Ich würde euch gerne noch mit einigen weiteren Fragen über diesen Ort und seine Entstehung auf die Nerven gehen, wenn ihr gestattet.«

»Ihr werdet diese Insel noch als der größte Kenner Norselunds verlassen, den das Königreich zu bieten haben wird«, meinte Varg. »Aber ich stehe euch selbstverständlich zur Verfügung.«

Der Erzdiakon deutete lächelnd eine Verbeugung an und zog die Kapuze wieder auf seinen Schädel. Er öffnete die schwere Tür offenbar mit der gleichen Leichtigkeit, wie es zuvor der Jarl getan hatte, und schlüpfte in die eisige Kälte hinaus.

Varg sah dem schlanken Mann einen Moment lang nach und schüttelte dann den Kopf. Er würde aus ihm nicht schlau werden, und wenn er noch zehn Jahre hier verbrachte. Was er nicht hoffte.

Der Aufenthalt der Delegation der Kirche war bislang erfreulich entspannt abgelaufen. Die Gäste konzentrierten sich darauf, die Fälle der Verderbnis zu dokumentieren. Die häuften sich seit dem Ende des kurzen Sommers zunehmend. Inzwischen meldeten die Waldhüter beinahe jede Woche ein missgebildetes Stück Wild. Auch die örtliche Flora war offenbar weitaus umfangreicher betroffen, als man zunächst angenommen hatte. Was die Pflanzen anging, waren die Veränderungen allerdings meist weniger spektakulär als bei den Tieren. Obwohl sich die Priester als geringeres Übel herausgestellt hatten, als befürchtet, fand Varg dieser Tage kaum Frieden.

Aus Falksten wusste er, dass die Dinge dort bislang ebenfalls ohne Zwischenfälle liefen. Stian ließ ihm regelmäßig kurze Nachrichten zukommen. Mit Krakebekk stand er nicht direkt in Verbindung, auch hier diente das südöstliche Jarltum, oder vielmehr Falkehaven, als Verbindungspunkt. Noch verlief die Zusammenarbeit zwischen Norselund und der Kirche vorbildlich.

In Falksten hatte man den teilweisen Befall des Fischbestandes in den ersten Wochen verheimlichen können. Inzwischen war das Auftreten der Zeichen der Verderbnis so häufig geworden, das man kaum Repressalien zu befürchten hatte, wenn herauskam, dass auch die Fische an den Küsten von Falkehaven betroffen waren. Im Westen war die geheime Werftanlage nach wie vor verborgen geblieben. Darum hatte Varg sich allerdings auch die geringsten Sorgen gemacht. Sie lag einfach zu weit von allem, was für die Priester von Interesse sein konnte.

Sein eigenes Geheimnis, die Existenz seiner neuen Vasallen, war ebenfalls bislang nicht zum Problem geworden. Bis vor kurzem waren die Meldungen von der im Bau befindlichen Siedlung der Vannbarn durchweg positiv gewesen. Drei Briefe hatte er von Chatikka ith Vallandor erhalten, seit er durch die Anwesenheit der Priester an einem Besuch beim Steinwald gehindert wurde. In den Ersten beiden berichtete die Lady von Vestrgadda von den Erfolgen im Aufbau ihrer neuen Heimat. Von dem Gedeihen des Köttsten, das in Zukunft eine wichtige Nahrungsquelle für die ganze Insel darstellen mochte. Von dem Fortschritt, den der Bau und die Sicherung der Stadt Nemunadej machte. Diese Ersten beiden hatte er bereits beantwortet. Zwischen den Zeilen hatte er, mit einer Mischung aus Unbehagen und Freude, die gleiche wachsende Vertrautheit herauszulesen geglaubt, die er inzwischen empfand, wenn er an die ehemalige hohe Wächterin dachte. Was viel zu oft vorkam.

Der dritte Brief war von ihm bislang unbeantwortet geblieben. Er hatte ihn dreimal gelesen und wusste noch nicht, wie er seine Antwort formulieren sollte. Der Inhalt war auch der Grund für seine wachsende Beunruhigung und zugleich dafür, dass er beinahe verzweifelt die Rückkehr des alten Zauberers herbeisehnte. Dass er sich der Tatsache bewusst war, dass dessen Anwesenheit ob der Präsenz der Kirche eine Unmöglichkeit darstellte, änderte nichts daran.

Während er in die Kälte hinaustrat, streifte seine Hand unwillkürlich über die rechte Brustseite, wo er den letzten Brief von Chatikka bei sich trug. Er nahm sich fest vor, eine Antwort zu schicken, sobald er nach Snaergarde zurückgekehrt war. Vielleicht konnte er ihr zumindest ein wenig Trost und Halt mit seinen Worten spenden, wenn ihm eine persönliche Anwesenheit schon unmöglich war.

Dieser Brief enthielt Kunde von Tod, Verlust und einer weiteren Gefahr für Norselund. Einer von vielen, die dieser Tage über seiner Heimat drohten, wie ein erhobenes Richtschwert.

4. Kapitel 3

Westmark, Königreich von Stennward

Louanne konnte nicht anders, als dem alten Mann immer wieder verstohlene Blicke zuzuwerfen. Dabei war der Greis, der sich ihnen vor Kurzem angeschlossen hatte, in keiner Weise sonderlich eindrucksvoll. Er war wohl früher einmal hochgewachsen gewesen, wirkte aber durch den mittlerweile stark gekrümmten Rücken nun eher knorrig. Er schien unter dem dunklen Mantel spindeldürr zu sein, und sowohl der struppige, eisgraue Bart, der ihm bis auf die Brust fiel, als auch das Haar wirkte ausgeblichen und leblos. Er trug einen grob geschnitzten Wanderstab, der etwa so lang war wie er selbst, stützte sich aber scheinbar mehr auf seinen vierbeinigen Begleiter als auf das Holz. Dieses Tier war es im Grunde auch, dass Louannes Aufmerksamkeit immer wieder auf sich zog.

Mit seinem dichten Fell und den langen, gebogenen Hörnern war die schwarze Ziege das größte Tier seiner Art, dass sie je gesehen hatte. Und es gab reichlich Ziegen im Umland. Es war noch etwas anderes als seine Größe an dem Tier, das sie zugleich faszinierte und mit einem vagen Unbehagen erfüllte, aber sie vermochte nicht zu sagen, was genau dieses Gefühl auslöste. Das Tier stapfte stoisch neben seinem Herrn her und schien sich nicht daran zu stören, dass er sie die meiste Zeit über als Stütze benutzte. Ebenso wenig nahm sie in irgendeiner Form Notiz von Gerard, dem betagten Esel, den ihr Vater führte. Diese Gleichgültigkeit beruhte auf Gegenseitigkeit, wobei das alte Lasttier zwar noch immer kräftig und wohlgenährt, aber halbblind und fast völlig taub war. Ihm war im Grunde alles gleichgültig, solange er sein Futter bekam.

Für gewöhnlich mied ihr Vater jeden Kontakt zu anderen Wandersleuten, wenn sie von ihrem kleinen Heimatdorf in die Stadt reisten. Louis war kaum einen halben Kopf größer als Louanne, die mit ihren fünfzehn Jahren nach ihrer zierlichen Mutter kam, die starb, als sie selbst gerade fünf Jahre alt war. Dafür hatte er den Körperbau eines Bären. Nach dem Tod seiner Frau hatte er darüber hinaus ein dazu passendes Gemüt entwickelt. Sein Äußeres trug dazu bei, dass die meisten es sich zweimal überlegten, bevor sie einen Streit mit ihm vom Zaun brachen. Mit dem frühzeitig kahl gewordenen Schädel, der von den Schlägereien zahlloser Tavernenbesuche in seiner Jugend gebrochenen Nase und seinen tiefliegenden Augen, wirkte er trotz seiner geringen Größe bedrohlich. Bei aller Bitterkeit darüber, seine Frau so früh zu verlieren und sein einziges Kind allein großziehen zu müssen, war er jedoch trotzdem kein schlechter Kerl.

 

Sie waren des Morgens vor drei Tagen auf den Greis getroffen, der wie sie auf der Straße nach Petit-Ruisseau unterwegs war. Es war nach einem kurzen Gespräch der Vorschlag von Louis gewesen, den Rest des Weges gemeinsam zurückzulegen. Der Alte hatte sofort freudig zugestimmt. Wie sich herausstellte, hielt er sie nicht einmal auf. Er war so alt und wirkte auf den ersten Blick so gebrechlich, dass er Louanne beinahe ätherisch erschienen war. Dieses Äußeren zum Trotz schien er jedoch über eine gewisse innere Rüstigkeit zu verfügen. Er kam mit Hilfe von Ziege und Stock kaum weniger langsam voran, als es Gerard mit dem Wagen tat, den er hinter sich herzog.

Louanne begleitete ihren Vater seit drei Jahren auf den Reisen zur Stadt. Drei bis vier Mal im Jahr unternehmen sie die Fahrt, je nachdem, wie viel Waren sie zusammenbekamen, die sich zu verkaufen lohnten. Louis war ein in vielen Dingen bewanderter und begabter Mann, dem es jedoch immer am Durchhaltevermögen gemangelt hatte, es bei irgendeiner Arbeit zu echter Meisterschaft zu bringen. So befanden sich Töpferwaren in ihrem Gepäck, die er gemeinsam mit Louanne herstellte, ebenso wie Kupfergeschirre, die er in seiner schlichten Hofschmiede fertigte, wann immer er günstig an Metall kam. Auch einige Säcke Korn hatten sie dabei, außerdem zwei Ballen grob gewebten Stoffes. Die stammten von der Wolle der anderen Gehöfte des kleinen Dorfes, die von den Frauen gemeinschaftlich gewoben wurde.

Noch vor ein paar Jahren waren mehrere Dorfbewohner gemeinsam mit zwei oder mehr Wagen aufgebrochen, doch das Dorf war fortschreitend vergreist. Vermutlich würde es nur noch eine oder zwei Generationen dauern, bis es ausstarb. Der Boden war in den sechs Dekaden seit dem Grau immer schlechter geworden, und mit ihm die Ernten. Louanne hatte so wenig Perspektiven, wie ein armes Bauernmädchen von fünfzehn Lenzen nur haben konnte. Allzu viele Sorgen bereitete ihr das freilich nicht, denn sie liebte ihren Vater und der war zwar beinahe vierzig Jahre alt, aber dafür noch stark und gesund.

Sorgen machten ihr, wie jedermann, hingegen die Gerüchte, die sich langsam aber hartnäckig in der Gegend verbreiteten. Der Sohn des Königs sei an einer Seuche erkrankt, die in der Königsmark Mensch und Tier gleichermaßen befiel und sich weiter ausbreitete. Für gewöhnlich tat ihr Vater solche Geschichten als Unfug ab. Die Missbildungen an den Tieren, die in diesem Frühjahr zum ersten Mal auch das Dorf betroffen hatten, schienen diese Schauermärchen jedoch zu bestätigten. Drei Schweine und zwei Kälber hatte man von Mai bis Juli unmittelbar nach der Geburt getötet und verbrannt. Ihr Vater sagte ihr nicht genau, was mit den Tieren nicht gestimmt hatte. Verwachsen seinen sie gewesen und niemand bei klarem Verstand wolle das Fleisch dieser Geschöpfe verzehren oder ihre Haut an sich tragen.

Wieder ging ihr Blick zu der Ziege hinüber, deren langes, dichtes Fell schwarz wie Pech im fahlen Mittagslicht schimmerte. Es war für September bereits außergewöhnlich kühl, aber wenigstens war der heftige Wind am gestrigen Morgen abgeflaut. Jetzt war es beinahe windstill und die von kleinen Wäldchen unterbrochene, sanft geschwungene Hügellandschaft lag friedlich im Gesang vereinzelter Vögel da. Der Süden der Westmark mochte nicht mehr so fruchtbar sein wie vor dem Grau, aber das Land war jetzt im Herbst ebenso schön anzusehen, wie vor sechzig Jahren.

Ein leichter Schauer überlief Louannes Rücken und sie löste ihren Blick von dem gehörnten Tier. Sie zog den Kragen des dicken Wollumhangs, den sie über ihrem Oberteil und dem Hosenrock trug, enger um ihren Hals. Es war das Tier, das sie frösteln ließ, nicht die Kühle, aber das war zu kindisch, um es sich einzugestehen. Es war eine merkwürdige, viel zu große, hässliche Ziege. Aber eben eine Ziege, weiter nichts. Sie konzentrierte sich für einen Moment auf den Greis, der neben dem Tier dahinstapfte. Er ging weit übergebeugt und die Wölbung seines nach vorne gekrümmten Rückens wirkte beinahe wie ein Buckel. Obwohl er stets etwas zittrig wirkte, hielt er offenbar mühelos mit Gerard und ihrem Vater Schritt und wirkte dabei am Abend nicht erschöpfter als am Morgen. Jetzt drehte er den Kopf, als die Stimme ihres Vaters ertönte. Er hatte sich die eine Mannslänge zurückfallen lassen, die er zuvor vor dem Alten gegangen war.

»Ihr habt mir noch immer nicht gesagt, was ihr in Petit-Ruisseau sucht, alter Mann«, sagte Louis nicht unfreundlich. Er klang ruppig und leicht ungeduldig, aber das war sein normaler Duktus, wie seine Tochter zu ihrem Leidwesen wusste. Wenn ihr Vater wirklich verärgert war, wurde er laut und, wenn auch nicht ihr gegenüber, schnell gewalttätig.

»Habe ich das in der Tat nicht getan?«, erhob sich die brüchige Greisenstimme des Alten. Es klang beinahe wie ein heiseres Falsett.

»Nein, das habt ihr nicht«, bekräftigte Louis. »Ihr sagtet, ihr kommt aus der Nähe des Grenzortes Sapinbois. Als ich euch fragte, welche Geschäfte euch herführen, haben wir plötzlich über die erkrankten Tiere gesprochen. Danach wart ihr müde.«

»Nun«, meinte der Alte und zog das Wort in die länge, bis er in einem Husten abbrach. »Das Mädchen, das sich um mich gekümmert hat, sie ist gestorben. Ich habe keine Verwandten mehr und kann auf dem Land nicht für mich alleine Sorgen. Jedenfalls werde ich dazu wohl nicht mehr besonders lange in der Lage sein. Ich hoffe, in der Stadt eine billige Bleibe finden zu können. Und selbst wenn ich auf der Straße enden sollte, stirbt es sich immer noch angenehmer unter Menschen, als alleine in einer Hütte am Wald.«

Er warf einen mürrischen Blick zu dem Tier, auf dem sein Arm ruhte, und fügte hinzu: »Nun ja, oder fast alleine jedenfalls.«

»Es war ein ziemliches Wagnis, in eurem Alter ohne Hilfe aufzubrechen. Ihr müsst doch schon seit Wochen unterwegs sein«, meinte Louis.

»Ah«, machte der Alte und klang, wie Louanne fand, dabei selbst ein bisschen wie eine Ziege. Sie hob schnell eine Hand vor das Gesicht, damit man das Grinsen nicht sah, dass sie unmöglich unterdrücken konnte. Ein wenig sah der Mann auch aus wie eine Ziege, wie eine große, alte und dürre.

»Noch bin ich ganz gut zu Fuß. Und überhaupt nur ein bisschen zittrig, aber ich kann nicht mehr richtig Essen. Irgendwas ist mit meinem verdammten alten Magen nicht in Ordnung. Hat letztes Jahr irgendwann angefangen, glaube ich. Oder war es vor zwei Jahren? Na, ist ja auch egal. Jedenfalls merke ich, dass ich langsam schwächer werde. Und ich bin vielleicht ein bisschen senil, aber ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass ich nicht mehr besonders lange zu leben habe. Das ist auch in Ordnung, denn ich bin schon sehr, sehr alt. Trotzdem würde ich den Zeitpunkt meines Abtretens gerne noch ein wenig hinauszögern. Und nicht unbedingt allein sterben. Sapinbois ist ein elendes Loch, kaum mehr als ein paar Dutzend Bauernhöfe. Petit-Ruisseau ist die nächste größere Stadt, oder jedenfalls die Einzige, die ich kenne.«

»Dann müsst ihr also Geld dabei haben«, sagte Louis. »Damit in eurem Alter schutzlos über so viele Landmeilen zu reisen, kann das Leben genauso verkürzen, wie die schlimmste Krankheit.«

»Meint ihr, dass Wegelagerer so tief im Reich unseres geliebten Königs eine Gefahr darstellen?«, gab der Greis zurück. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal davon gehört habe, dass jemand hier in der Gegend überfallen worden ist. Das muss in den Jahren nach dem Grau gewesen sein, als alle halb verhungert waren. Aber ansonsten haben die Menschen hier genug, um nicht zu hungern und gleichzeitig eben auch nicht viel mehr, das sich zu stehlen lohnen würde. Eine recht gesunde Situation würde ich sagen. Außerdem seid ihr ja auch hier unterwegs, ein Mann allein mit seiner bezaubernden jungen Tochter. Wenn eine Bande zerlumpter Wegelagerer über einen herfällt, ist ein kräftiger Mann auf sich gestellt genauso wehrlos wie ein Greis. Ihr würdet vielleicht ein wenig länger durchhalten, aber das Ergebnis wäre ebenso fatal, nicht wahr?«

Bevor Louis etwas erwidern konnte, kam Louanne ihm zuvor.

»Ihr müsst die Welt vor dem Grau noch kennen«, sagte sie mit leuchtenden Augen. Louis war ihr einen mürrischen Blick zu, sagte aber nichts. Er wusste, wie verrückt seine Tochter nach allem war, was vor dem Grau lag. Diese nichtsnutzigen Flausen im Kopf musste sie von ihrer Mutter haben, soviel war sicher.

»Wie war es damals? Habt ihr da auch schon hier gelebt oder seid ihr im Königreich herumgekommen, als ihr jünger wart? Die paar Alten im Dorf bei uns haben alle ihr ganzes Leben hier verbracht. Für die hat es außer dem Hunger gar keinen großen Unterschied gemacht, ob der Himmel grau oder blau war.«

»So viel anders als jetzt war es davor auch gar nicht«, meinte der Greis. »Es war heller, wärmer und die Sonne war natürlich noch zu sehen. Ein Ball aus strahlendem Licht, der bei klarem Wetter im endlosen Blau des Himmels schien. Das ist im Grunde das Einzige von damals, das sich die jungen Leute kaum vorstellen können. Die Sonne, und wie sich ihre Strahlen auf der Haut anfühlen, wenn sie direkt auf einen scheint.

Aber sonst war die Welt der Menschen vor dem Grau nicht viel anders, als sie es jetzt ist. Wirklich brutal, oder wie du es wohl sehen würdest, aufregend, war die Welt nur in den ersten Jahren danach. Die Jahreszeiten waren durcheinander, es war viel zu kalt und zu nass und die Ernte auf den Feldern ist verfault oder erfroren. Die Hungersnöte waren furchtbar. Und dadurch kam es überall zu einer Art Bürgerkrieg. Die Menschen haben sich wegen eines Stückes Brot gegenseitig erschlagen, und die Herren waren nicht viel besser als das Gesinde. Alles versank im Chaos, aber irgendwie ist es dem König gelungen, nach Jahren wieder Ruhe ins Land zu bringen. Und unter Randolf hat sich die Lage dann dauerhaft stabilisiert.«

Er lachte ein meckerndes Lachen, das erneut frappierend an eine Ziege erinnerte. Für einen Moment dachte Louanne, dass sein vierbeiniger Begleiter in das Lachen mit einfallen würde. Aber das Tier stapfte nur stoisch neben seinem Besitzer her.

»Wer wollte sich auch schon mit Randolf anlegen. Er war noch fast ein Kind, als er die Krone nahm, aber er hat seine ärgsten Widersacher gleich in der ersten Woche nach der Machtübernahme abschlachten lassen. Da wussten die ganzen Herzöge und Grafen, mit wem sie es zu tun hatten. Und bald darauf wussten das alle.

Deine Neugier auf die Welt vor dem Grau ist also ganz unbegründet, mein Kind. Du verpasst nichts, weil du jetzt lebst. Die Sonne konnte schön sein, aber sie konnte auch unbarmherzig vom Himmel brennen. Heute ersäuft oder verfault mal eine Ernte, früher konnte es sein, dass eine verbrannte oder verdorrte, jedenfalls in der Südmark. Macht keinen großen Unterschied. Die Menschen sind immer gleich, und das Leben ist es auch.«

»Also seid ihr in eurer Jugend herumgekommen? Ihr redet nicht wie jemand, der sein ganzes Leben in einem kleinen Dorf vergammelt ist.«

»Lou, mäßige dein Schandmaul«, knurrte Louis, doch der Alte lachte wieder leise unter seinem fahlen, struppigen Bart.

»Du hast recht, Mädchen. Ich war in meiner Jugend ein rastloser Geist. Ein Wanderer, wenn es je einen gegeben hat. Ich war in vielen Teilen des Reiches und auch in vielen Teilen der Welt. Aber das ist sehr lange her, und die letzten paar Jahrzehnte bin ich tatsächlich in Sapinbois vergammelt, wie du es so treffend bemerkt hast.«

»Erzählt mir von euren Reisen«, drängte Louanne aufgeregt. »In Petit-Ruisseau findet sich genauso wenig jemand, der Geschichten aus der Welt erzählen kann, wie in unserem Dorf. Jedenfalls keine, die nicht nur schlecht erfunden oder nachgeplappert sind. In der Stadt sind zehnmal so viele Leute, aber alle sind im Grunde genauso langweilig wie zu Hause.«

»Lou, nun ist es aber gut«, setzte Louis erneut an, verstummte aber, als etwas am Horizont seine Aufmerksamkeit erregte. »Was ist das denn«, murmelte er leise.

Die Straße, die leicht geschwungen gen Norden führte, erstreckte sich vor ihnen mehrere Landmeilen weit, bevor sie hinter der Kuppe eines Hügels verschwand, den sie an diesem klaren Tag gerade noch erkennen konnten. Auf diesem Weg kam man direkt bis nach Petit-Ruisseau und unmittelbar darauf zu einem Wegekreuz. Von dort aus führte die Straße im Westen zur Küste, während es nach Norden und Osten in das Herzland der Westmark ging. Über den Hügel, der für die kleine Gruppe Reisende den sichtbaren Horizont bildete, sah man in der Ferne nun mehrere schwarze Punkte gleiten. Louanne konnte sie gerade noch erkennen. Sie wusste, dass ihr Vater die Augen eines Falken hatte, war aber überrascht, als der Greis erneut seine brüchige Stimme erhob.

 

»Bewegen sich schnell, müssen Reiter sein«, sagte er halblaut und offenbar mehr zu sich selbst.

»Verdammt hätte ich doch meinen Mund gehalten und nicht von Wegelagerern angefangen«, sagte Louis gepresst. »Hier ist mir seit Jahren niemand begegnet außer anderen fahrenden Händlern. Im Süden endet diese Straße im Grenzland, in die Südmark kommt man über die Handelsstraße weiter im Osten.«

Er ließ Gerard anhalten und trat zum Wagen, in dem er einen Augenblick herumwühlte, bevor er unter einem Ballen Stoff ein Schwert hervorholte. Es steckte in einer schäbigen Lederscheide, die er mit raschen, geschickten Handgriffen an seinem Gürtel befestigte.

»Lumpenpack reitet keine Pferde«, meinte der Alte. »Ich weiß nicht, wie die Preise heutzutage aussehen, aber zu meiner Zeit waren ein halbes Dutzend Pferde zehnmal so viel Wert wie der Plunder, den ihr auf dem Wagen habt. Nicht, dass ich Eure Waren schlecht machen wollte.«

Louis zog eine Augenbraue hoch und schaute zu dem Greis hinüber. »Plunder, eh? Naja, wahrscheinlich habt ihr da nicht einmal ganz unrecht. Und trotzdem kann das da vorne nichts Gutes bedeuten. Aber egal. Gehen wir weiter und halten wir uns am Rand der Straße. Vielleicht reiten sie einfach vorbei und lassen uns in Ruhe.«

»Könnt ihr mit dem Ding da umgehen, wenn es sein muss?«, wollte der Greis wissen und deutete auf das Schwert. »Es sieht nicht gerade neu aus, scheint aber ganz leidlich gepflegt zu sein.«

»Gegen einen Mann? Gut genug«, gab Louis zurück. »Gegen mehrere Reiter? Nein. Aber wir werden sehen.«

Sie setzten ihren Weg fort, wobei Louanne sich auf den Wink ihres Vaters ein wenig zurückfallen ließ. Sie ging jetzt hinter dem Wagen und vor dem Greis, der mit seiner schwarzen Ziege das Schlusslicht bildete. Sie war für gewöhnlich nicht sonderlich ängstlich, aber je näher die Reiter kamen, je unbehaglicher war ihr zumute. Mit jedem Detail mehr, das sie erkennen konnte, wurde ihr klar, dass es sich nicht um einfache Reisende handelte. Und ganz gewiss nicht um Händler.

Sie zählte acht Reiter, die ihnen in zügigem Trab entgegenkamen. Die Pferde erkannte sie alsbald als einen bunt zusammengewürfelten Haufen aus allen Farben und Rassen. Als die Fremden näher herankamen, stellte sie fest, dass es sich bei den Reitern ebenso verhielt. Der Älteste von ihnen hatte mehr grau als braun im Bart und wirkte alt und verbraucht, der jüngste schien kaum älter zu sein als sie selbst. Es war keiner der unheimlichen schwarzen Männer aus dem fernen Kontinent im Süden dabei, von denen Louanne einmal in der Stadt einen gesehen hatte.

Ansonsten waren Haut und Haar von hell bis dunkel in unterschiedlichen Schattierungen vertreten. Sie trugen heruntergekommene, grobe Kleidung, die vor Dreck hart zu sein schien. Ihre Helme und Kettenhemden machten als Einziges an ihnen einen gepflegten Eindruck. Jeder von ihnen war bewaffnet. Sie erkannte Schwerter und Keulen an den Gürteln und Sätteln. Vier von ihnen hatten außer ihrem Schild einen Speer auf den Rücken geschnallt. Zwei von ihnen trugen einen der leichten Kreuzbögen, die sie bei den berittenen Soldaten des Grafen in der Stadt schon einmal gesehen hatte.

Um Männer des Grafen oder der Stadt handelte es sich bei den Kerlen dort jedoch mit Sicherheit nicht. Nicht nur, dass sie keine Wappenröcke mit den entsprechenden Farben oder Banner trugen. Sie sahen auch aus wie das gemeinste Räuberpack, bis auf die Tatsache, dass sie für Wegelagerer zu gut gerüstet waren. Louanne konnte die Qualität der Waffen nicht beurteilen, aber sie wusste, dass Kettenhemden teuer waren, genauso wie die robusten Helme auf den Köpfen der Fremden. Selbst die Stadtbüttel trugen zumeist nur gestepptes Leder.

Sie warf einen verstohlenen Seitenblick auf die beiden Männer an ihrer Seite, während die ihren Weg langsam fortsetzten. Ihr Vater starrte geradeaus und sie sah, dass seine Kiefer krampfhaft arbeiteten. Er schwitzte trotz der Kühle und sie konnte förmlich spüren, wie sich seine Gedanken um eine Möglichkeit drehten, die drohende Gefahr abzuwenden. Er war kein ängstlicher Mann, eher im Gegenteil, getrieben von Zorn und oft unbeherrscht, aber er war auch nicht dumm. Wenn diese Kerle dort Ärger machen wollten, standen ihre Chancen mehr als schlecht. Sie drehte den Kopf ein Stück, um den Alten anzuschauen und stellte verwundert fest, dass er von den nahenden Reitern völlig unbeeindruckt zu sein schien.

Er stapfte mit unverändertem Gesichtsausdruck dahin, den knorrigen Stab in einer Hand, die andere im Nackenfell der großen schwarzen Ziege, die ihm keinen Schritt von der Seite wich. Nachdem er die Männer ebenso früh bemerkt hatte wie ihr Vater, mussten seine Augen noch scharf sein. Er machte weder einen dummen noch senilen Eindruck und wusste demnach, was dort vorne für eine Gefahr auf sie zukam. Sie mochten Glück haben, und es handelte sich nicht um Räuber, sondern um Lohnschwerter, aber so wie sie aussehen, bedeuteten sie so oder so ärger.

Louanne glaubte nicht, dass sie einfach an ihnen vorbeireiten würden. Zum vielleicht ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber, dass sie nicht gerade als Schönheit zu bezeichnen war. Sie hatte die kleine Nase und die großen, hübschen Augen ihrer Mutter, aber auch den überbreiten Mund ihres Vaters und dessen grobe Physiognomie. Sie war nicht direkt hässlich, aber durch die flächigen Züge und die Asymmetrie ihres Gesichtes völlig unscheinbar. Auch was ihre Figur anging, war sie nicht eben zufrieden mit sich. Sie wusste, dass ihr Hintern zu breit war, genau wie ihre Hüften. Außerdem fand sie ihre Beine zu kurz und ihre Brüste sahen immer noch nicht viel anders aus, als sie es vor zwei Jahren getan hatten. Sie glaubte nicht, dass sie irgendeinen Mann dazu einlud, ihretwegen einen Streit anzufangen.

Warum der Alte so sorglos zu sein schien, verstand sie dennoch nicht. Wenn es zu Gewalttätigkeiten kam, würde er noch hilfloser sein als sie. Unfähig zu kämpfen oder auch nur den Versuch zu unternehmen zu fliehen. Und vor allem hatte er nichts zu bieten, was einen Räuber dazu bringen konnte, ihn zu schonen. Im Gegenteil, wenn er für seine letzten Jahre ein neues Leben in der Stadt beginnen wollte, musste er zumindest eine gewisse Menge an Geld oder Wertsachen bei sich haben. Dennoch erweckte seine Körpersprache den Eindruck, er befände sich auf einem Spaziergang.

Sie schaute ruckartig wieder nach vorne, als sie plötzlich die Hufschläge der Reiter hören konnte. Die Männer verschwanden für einen Moment hinter einem Hügel, aber der jetzt immer deutlicher werdende Lärm zeugte von ihrem unaufhaltsamen Näherkommen. Einen Augenblick später kamen sie an der Kuppel wieder zum Vorschein. Es war jetzt klar, dass sie nicht einfach vorbeireiten würden. Als sie in die Senke hinter den Hügel verschwunden waren, ritten sie noch in loser Formation hintereinander. Als sie jetzt wieder in ihr Sichtfeld kamen, bildeten sie eine Reihe, die sich über die volle Länge der Straße zog. Es gab keine Möglichkeit ihnen auszuweichen, keine Chance, ihnen zu entkommen. Sie hörte ihren Vater eine derbe Verwünschung ausstoßen und sah, wie er Gerard mit dem Wagen am Wegesrand zum Stehen brachte. Der Alte tat es ihm gleich und machte neben dem Esel halt.