Hätschelkind

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Wie ihr erkennen könnt, sind auf den Fotos Reifenspuren abgelichtet, die eindeutig von einem Geländewagen stammen. Herr von Wiggenheim hat sie in unmittelbarer Nähe der Leiche aufgenommen. Wir wissen in der Zwischenzeit, dass vieles im Todesfall Edda Herbst für Mord spricht. Die Fotos bezeugen, dass die Leiche wahrscheinlich mit einem Geländewagen ins Watt geschafft wurde. Das hilft uns allerdings auch nicht viel weiter, denn solche Autos gibt es mittlerweile hier an der Nordsee wie Sand am Meer. Außerdem können wir vom Reifentyp nicht automatisch auf den Fahrzeugtyp schließen.«

Swensen lässt seinen Blick über die Gesichter gleiten. Er spürt, was alle denken. Sie stecken fest. Es gibt nicht einen verwertbaren Schritt nach vorn. Kein Motiv, keinen Verdächtigen. Nur die Frage, warum wurde Edda Herbst ermordet?

»Edda Herbst führte ein unscheinbares Leben«, setzt Swensen seine Überlegungen laut fort. »Sie ist in der Nachbarschaft kaum bekannt, wird nicht vermisst. Als wir ihr Haus durchsuchen wollten, war die Haustür abgesperrt. Nur die Tür zum Hof war bloß zugezogen. Schlüssel wurden bei der Leiche nicht gefunden. Ihren früheren Freund Peter Stange hat Silvia in Wobbenbüllfeld aufgespürt. Er fällt als Verdächtiger aber wahrscheinlich aus, denn er ist seit drei Monaten verheiratet. Seine Frau hat eine sichtbare Kugel. Nach eigener Aussage hat er Edda Herbst schon über sechs Monate nicht mehr gesehen.«

»Eine Frage!«, meldet sich Rudolf Jacobsen. »Ich hab noch nicht kapiert, warum wir bei Edda Herbst mit einem Mal von Mord ausgehen?«

»Kannst du auch noch nicht wissen, Rudolf. Das haben wir selbst erst gestern Abend von den Kieler Kriminalmedizinern erfahren«, trägt Swensen vor. »Eins ist sicher bestätigt, die Frau ist ertrunken, aber nicht in der Nordsee. Sie hatte ausgeprägte Leichenflecken auf ihrer Vorderseite. Die bilden sich, wenn jemand nach dem Tod lange Zeit in derselben Stellung liegt. Wer im Wasser treibt, kann keine Leichenflecken ausbilden. Daraus schließen die Mediziner, dass die Leiche nachträglich bewegt wurde. Die Tote ist vermutlich ins Watt gebracht worden und dann ist sie mit der nächsten Flut dem Krabbenkutter ins Netz geraten. Der Täter wollte bestimmt einen Unfall im Meer vortäuschen.«

»Gibt es Hinweise auf eine Sexualtat?«, fragt Peter Hollmann.

»Die genauen Ergebnisse bekommen wir in den nächsten Tagen.«

Die entstehende Pause nutzt Silvia Haman, um das allgemeine Gefühl laut auszusprechen.

»Ich schätze, wir hängen fest!«

»Das sehe ich genauso!«, bestätigt Swensen. »Aber das ist nicht ungewöhnlich, zu einem so frühen Zeitpunkt. Außerdem sind viele Tage verstrichen, bevor wir die Leiche gefunden haben. So schnell gelingt es unter solch komplizierten Bedingungen kaum, einen Zugang zu einem Fall herzustellen. Das Wichtigste ist, dass wir uns nicht zu früh auf etwas fixieren und die Ermittlungen weiterhin offen halten. Doch was wir tun können, sollten wir auch tun. Peter, du schnappst dein Team und kämmst noch einmal das Haus von Edda Herbst durch. Lass keinen Raum aus, stell’ alles auf den Kopf!«

Sie beenden die Sitzung. Doch der allgemeine Aufbruch kommt bereits im Flur wieder zum Stocken.

»Bin ich froh, dass wir im Moment nicht in Flensburg ermitteln müssen!«, wirft Silvia Haman in die Runde.

Das Gesicht von Jacobsen versteinert sich. Sein Blick streift mit unübersehbarer Verachtung die Kollegen. Dann murmelt er kaum hörbar: »Wenn die das Schwein da oben kriegen, sage ich nur: Rübe runter!«

Silvia schlägt sich fassungslos mit der Hand an die Stirn.

»Oh Gott, Rudolf! Verschone uns bloß mit diesem wüsten Gedankengut!«

»Du musst dich ja gerade melden!«, zischt Jacobsen zurück. »Gerade du, als Frau. Denk’ doch mal nach! Da hat jemand ein kleines, unschuldiges Mädchen abgeschlachtet!«

»Unschuldig, das ist doch romantischer Quatsch! Der Mensch wird gut geboren und nur die Gesellschaft macht ihn böse!«, mischt Hollmann sich in das Gespräch. »Das ist das Märchen von den unschuldigen Kindern. Ich bin der Meinung, dass der Mensch schon als Bestie geboren wird.«

»Ich hab im Fernsehen mal diesen Klassiker Bestie Mensch gesehen. Da ging es eindeutig um Erwachsene und nicht um Kinder, lieber Peter. Als Bestie geboren, so ein Schwachsinn!«, faucht Jacobsen dazwischen.

»Und wo kommt das Böse her? Das liegt hier nach unserer Geburt wohl irgendwo rum. Lass doch mal alle diese unschuldigen Menschen hier nur drei Monate frei entscheiden und sie werden mit ihren Gesinnungsgenossen in kürzester Zeit unsere gesamte Zivilisation dahinmeucheln. Nur die Gesetze unserer Gesellschaft halten alle diese geborenen Unschuldslämmer im Bann, und wir, die Polizei, die diese Gesetze durchsetzen. Schaut euch doch um, womit wir es täglich zu tun haben.«

Silvias Augen funkeln bedrohlich.

»Ja, ja! Wir sind alle kleine Bösewichter und wollen die Welt vernichten, oder?«

»Zumindest sind wir nicht automatisch gut, liebe Silvia!«, entgegnet Stephan Mielke. »Peter hat schon recht. Der Mensch ist von Natur aus egoistisch. Er braucht Anleitung und Erziehung, um aus ihm auch einen guten Mitbürger zu machen. Moral ist eine Errungenschaft unserer Zivilisation.«

»Jan, nun sag’ du doch mal was!«, Silvias Stimme klingt schrill.

»Was denn? Braucht ihr einen Schiedsrichter, der für euch entscheidet, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist?«

»Nein, deine Meinung würde mir genügen!«, stichelt Silvia.

Swensen merkt, wie sich die Blicke auf ihn richten. Er fühlt sich mit einmal zutiefst unwohl.

»Ich glaube, in eurer Diskussion prallen einfach nur liberale und konservative Meinungen aufeinander.«

»Ja und? Vertrittst du nun liberales oder konservatives Gedankengut?«, legt Peter Hollann nach.

Jetzt war es passiert. Er hätte lieber die Klappe halten sollen. Die Nachricht über das tote Mädchen aus Glücksburg machte ihm schon genügend zu schaffen. Während der Sitzung hatte er wieder die alten Bilder vom Mord im Sternschanzenpark gesehen. Und jetzt stehen die Kollegen vor ihm und wollen kluge Sprüche.

»Ich finde beide Meinungen haben ihre Stärken und ihre Schwächen«, beginnt er, um Zeit zu gewinnen. »Die Lösung liegt auf einer übergeordneten Ebene. Die Trennung zwischen Gut und Böse ist nämlich eine Täuschung. Das Gute und das Böse ist nichts, was unabhängig von uns selbst existiert.«

Als ihn alle mit großen Augen anschauen spürt er, dass seine Äußerungen für die Kollegen wohl etwas zu abgehoben geraten sind. Er ahnt, dass er nur keine Schwäche zeigen wollte. Wenn er vor sich hin philosophieren kann, sieht er zumindest keine Bilder von toten Kindern.

Ich muss das hier irgendwie beenden, denkt er. Ein kleiner Scherz und dann nichts wie weg.

»Mit anderen Worten«, sagt er mit einem Grinsen, »machen wir doch einfach unsere Arbeit gut und alles wird gut!«

Mit einem befreienden Gelächter geht die Gruppe auseinander.

Wahrscheinlich ist der Mensch immer dann wirklich gut, wenn er lacht, denkt Swensen. Doch das behält er für sich.

*

Als Swensen in seinem Büro sitzt, geht er die Szene auf dem Flur noch einmal durch. Die Rolle, die er vor den Kollegen spielen musste, ist ihm unangenehm. Ihm wird klar, er wollte allen nur weismachen, dass er über den Dingen steht. Swensen, der alte Hase mit buddhistischem Anstrich, ist ungerührt von allem, was ihn ängstigt, verwirrt und quält. Er hat sein altes Trauma überwunden. Er kann den Tod eines kleinen Mädchens nüchtern und emotionslos betrachten.

Swensen, Swensen, denkt er. Anstatt mit selbstlosen Weisheiten deinen Nächsten zu bekehren, wolltest du doch nur deinem eigenen Ego schmeicheln.

Und immer wenn ihm seine egoistische Haltung bitter aufstößt, ist er davon überzeugt, dass er diesen Widerspruch von seinem Vater übernommen hat.

So schließt sich der Kreis. Papa ist schuld!

Er erinnert sich, mal in einem Buch gelesen zu haben, dass die meisten Menschen nicht bereit sind, ihre gegenwärtigen Meinungen um nur fünf Prozent zu ändern.

Manchmal könnte man zu dem Schluss kommen, dass das ganze Leben nur in alten Mustern dahinplätschert. Du wolltest alles anders machen als deine Eltern und machst doch nur dasselbe. Du bist zu einem buddhistischen Meister gegangen, um Weisheit zu finden. Doch deine alten Muster sind stärker. Sie sind eben über Generationen an dich weitergegeben worden, vom Großvater, vom Vater. Und wenn du am Ende einmal zurückschaust, wirst du in deinem Umfeld nicht mal fünf Prozent bewegt haben.

Auch dieses Muster kennt er genau. Wenn eine Ermittlung nicht richtig läuft, sieht er die gesamte Welt negativ. Er weiß, in so einem Zustand klafft bei ihm eine dicke Lücke zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung.

»Das ist der Zeitpunkt, den großen Irrtum zu erkennen!«, sagte Lama Rhinto Rinpoche ihm damals immer, wenn er ihn mit dieser negativen Ausstrahlung erwischte. »Würden sich die Dinge immer gemäß unserer Erwartungen darstellen, dann wüssten wir niemals, was wir unter einer Illusion verstehen sollten.«

Parallel zu seinen Gedanken sieht Swensen nochmals die Vorderfront seines Elternhauses zusammenbrechen. Verlangsamt, wie in Zeitlupe, stürzen die Ziegelsteine in eine sich auftürmende Staubwolke. Er taucht ein in den Nebel. In der Ferne hört er ein rhythmisches Piepen. Da liegt sein Vater vor ihm im grünen Krankenkittel mit Schnüren und Schläuchen. Er ist ohne Bewusstsein. Sein Gesicht aschfahl, seine Haut wie zerbrechliches Pergament. Swensen steht hilflos im Raum. Durch seinen Beruf glaubte er schon fast nicht mehr daran, dass der Tod auch etwas Natürliches haben könnte. Er setzt sich auf einen Stuhl neben das Bett und will hier so lange warten, bis sein Vater sich rührt, so wie er seine ganze Jugend auf ein Zeichen seines Vaters gewartet hat.

 

Irgendwie ist er für mich nie erreichbar gewesen, denkt Swensen. Immer gab es eine Mauer zwischen ihm und mir.

Solange er seinen Vater kannte, ging der jeden Morgen pünktlich zum Husumer Bahnhof zur Arbeit. Er redete nie über etwas, was ihn bewegte oder gar über seine Gefühle. Er war nur immer da, unnahbar, ein Mann ohne Worte und Vergangenheit, wenn da nicht dieses Fotoalbum gewesen wäre. In der unteren Schublade im Stubenschrank lag es mit schwarzem Deckel, darauf rechts unten, eingeprägt in silberner Schrift »Infanterie-Regiment 76«. In der Mitte der Reichsadler mit dem Hakenkreuz in den Krallen. Dieses Fotoalbum hatte Swensen die gesamte Kindheit magisch angezogen. Da standen Männer in Uniformen. Sein Vater mit Verdienstkreuz an der Brust neben seiner Mutter im Brautkleid. Das Brandenburger Tor. Der Führer Adolf Hitler stehend mit erhobenem Arm in einem offenen Mercedes. Und weiter hinten Soldaten mit Helmen auf Lastwagen, zerstörte Häuser, zwei Tote am Straßenrand, ein zerschossenes Flugzeug. Das Kind ahnte, dass da etwas Schreckliches passiert sein musste, so schrecklich, dass darüber nie gesprochen wurde.

Wahrscheinlich, denkt Swensen neben dem Krankenbett, wurde zu diesem Zeitpunkt tief in mir verborgen der Wunsch geboren, etwas gut zu machen in dieser Welt, etwas abzutragen von der unausgesprochenen Schuld des Vaters, die gleichzeitig eine deutsche Schuld war und jetzt meine ist.

Vor ihm läuft der Lichtpunkt mit gleichmäßigen Sprüngen über den Monitor. Sein Schweif zieht ein zackiges Muster hinter sich her.

»Das Muster des Lebens!«, schießt es ihm durch den Kopf und Rinpoches Worte über die Illusion der Wirklichkeit füllen sich urplötzlich mit Erkenntnis.

Vielleicht hat mein Vater mir gar keine Schuld vererbt und ich hab die ganze Zeit nur eine eingebildete Schuld übernommen, eine Illusion. Vielleicht muss ich gar nichts wiedergutmachen und einfach nur Polizist sein, weil ich es sein will.

Das Muster verwandelt sich in einen Schlussstrich. Der stete Piepton geht in einen Dauerton über. Swensen schreckt hoch. Der Ton wird immer lauter, verändert sich in ein gellendes Klingeln.

Er greift zum Hörer.

»Swensen!«

»Riemschneider hier!«

»Jürgen! Hallo! Was macht der Fall Edda Herbst?«

»Ich fax dir gerade den Autopsiebericht rüber. Also, ums kurz zu machen, fass ich das Ergebnis schon mal grob zusammen. Wir haben Salzwasser in den Lungen gefunden.«

»Salzwasser! Dann ist sie ja doch da draußen ertrunken!«

»Halt stopp! Es handelt sich dabei um gechlortes Leitungswasser, dem Kochsalz hinzugefügt worden sein muss. Edda Herbst ist also mit Sicherheit nicht im Meer ertrunken, sondern höchstwahrscheinlich in einem Wasserbehälter. Ich tippe auf eine Wanne. Es gibt am ganzen Körper keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Aber das besagt nichts, denn wir haben außerdem in ihrem Blut Rückstände von Barbituraten gefunden, die in starken Schlafmitteln vorkommen. Edda Herbst ist vor dem Tod betäubt worden. Das spricht zwar im ersten Moment für Selbstmord, aber ein Selbstmörder fährt nach seiner Tat nicht mehr spazieren.«

»Wisst ihr, wann sie gestorben ist?«

»Die genaue Todeszeit lässt sich leider nicht bestimmen. Wir haben uns auf den 14. November geeinigt, plus minus zwei Tage.«

»Gibt es irgendwelche Anzeichen für eine Vergewaltigung?«

»Nein! Eine sexuelle Straftat kann definitiv ausgeschlossen werden!«

»Danke Jürgen, ich les’ mir euren Bericht durch.«

»Okay, Jan! Wenn ihr noch Fragen, habt ruft an. Bis dann!«

»Moin, Moin!«

Swensen legt auf und nimmt den Hörer sofort wieder ab. Er wählt die Handynummer von Peter Hollmann. Es klingelt ellenlang, bis jemand abnimmt.

»Hollmann!«

»Hier Swensen! Hallo Peter, ihr seid doch gerade im Haus von Edda Herbst. Ich hab eben den Obduktionsbericht aus Kiel erhalten. In Edda Herbsts Lungen hat sich Salzwasser befunden. Nehmt euch bitte mal die Badewanne vor, ob ihr da Rückstände von Kochsalz findet. Außerdem könnten sich in Tassen oder Gläsern Spuren eines Schlafmittels befinden.«

»Schon in Arbeit! Sonst noch was?«

»Nein!«

»Okay!«

Es ist 15.23 Uhr. Den weiteren Nachmittag sitzt Swensen in seinem Büro, starrt abwechselnd die Wand an, blättert wieder in seinem Notizblock und geht die Fakten im Kopf noch mal durch. Er kommt kein Stück voran. Edda bleibt für ihn ein unbeschriebenes Blatt. Kurz vor 6 Uhr ordnet er seinen Schreibtisch, fährt den Computer runter und geht rüber zu Silvias Büro. Die ist nicht am Platz. Swensen zückt seinen Kugelschreiber und schreibt ihr auf einen Zettel: 19.30 Uhr vor dem Klub 69.

*

Der Kommissar hebt erstaunt seinen Kopf. Flockige Schneekristalle schweben aus einem schwarzen Himmelsdach, von der Straßenlampe gelblich angestrahlt, auf ihn herab. Er zieht seinen Schal fester zusammen und schlägt seinen Mantelkragen hoch. Es ist plötzlich bitterkalt geworden. Er ist zehn Minuten zu früh und flüchtet sich in einen Hauseingang. Gegenüber liegt der Klub 69. Das alte Ziegelhaus gleicht den Häusern in der gesamten Straße. Die Fenster sind verdunkelt, kein Licht dringt nach draußen. Nur über der Tür leuchtet eine viereckige Lampe, auf der mit schwarzen Klebebuchstaben die Ziffern 69 angebracht sind. Langsam legt sich eine weiße Decke über den Asphalt. Knatternd fährt ein Moped vorbei, zeichnet einen schwarzen Strich in den jungfräulichen Schnee, der aber in kurzer Zeit wieder verschwindet. Von links, am Ende der Straße, sieht Swensen eine weibliche Gestalt herankommen. Gegenüber im Klub öffnet sich die Haustür. Ein roter Lichtschein wirft ein Rechteck auf Bürgersteig und Straße. Swensen drückt sich intuitiv in den Schatten des Hauseingangs. Ein dürrer Mann tritt aus der Tür, sichert sich mit einem kurzen Blick nach links und rechts ab, ordnet sein weißes Haar unter einem Hut, drückt diesen tief ins Gesicht und klappt den Mantelkragen hoch. Dann wendet er sich nach rechts und hastet davon. Die Tür vom Klub 69 fällt wie von Geisterhand ins Schloss. Die Dunkelheit kehrt zurück. Swensen weiß sofort, dass er den Mann von irgendwoher kennt. Der Name liegt ihm förmlich auf der Zunge, doch sein Gehirn scheint vorübergehend blockiert.

Silvia Haman ist nur noch wenige Schritte vom Hauseingang entfernt. Swensen tritt hervor und hebt die Hand, damit sie über sein plötzliches Auftauchen nicht erschreckt.

»Eiskaltes Outfit, Kollegin!«, sagt er grinsend, weil seine Kollegin von einer leichten Schneedecke überzogen ist.

»Tscha«, sagt sie, »je heißer das Pflaster, umso cooler die Ermittlungen!« Nach einem kurzen Zögern, wer von beiden klingeln soll, ergreift er die Initiative. Von drinnen hört man Schritte, dann öffnet sich die Tür. Vor ihnen steht eine korpulente, dunkelhaarige Frau, die selbst Silvia Haman um einige Zentimeter überragt. Unter dem bodenlangen, schwarzen Ledermantel trägt sie eine nietenbesetzte Lederhose und ein trägerloses Ledertop, aus dem die Brüste hervorquellen. Sie blickt Swensen ärgerlich mitten ins Gesicht.

»Bullen!«

»Nicht ganz«, verbessert der Kommissar, »ein Bulle und eine Bullin!«

»Das Geschäft geht auch ohne euch schon schlecht!«

»Wir sind gleich wieder weg!«, beruhigt Swensen und zeigt seinen Ausweis. »Ich bin Hauptkommissar Jan Swensen und das ist meine Kollegin Hauptkommissarin Silvia Haman. Wir möchten gerne mit Irene Hering sprechen!«

»Hier ist keine Hafenbar. Hering gibt’s hier nicht!«

»Und wie wär’s mit einem Fisch namens Lola Lalou?«

»LOLA! Sagt das doch gleich! Lola kann gerade nicht!«

»Dürfen wir vielleicht drinnen warten?«, fragt Swensen freundlich und deutet auf den fallenden Schnee.

»Nur wenn Sie sich mit unserem Aufenthaltsraum zufrieden geben, unsere gute Stube ist besetzt. Außerdem möchte ich vorher von Ihnen eine Versicherung, dass unsere Kundschaft anonym bleibt!«

»Wir sind nicht an Ihrer Kundschaft interessiert!«

Mit einer Handbewegung bittet sie die Lederfrau herein. Der Flur ist in rotes Licht getaucht. An den Wänden hängen ovale Spiegel in verzierten Goldrahmen. Die markante Erscheinung verschwindet hinter einem roten Samtvorhang. Die beiden folgen in einen kleinen, schmucklosen Raum mit mehreren Plüschsesseln. Swensen blickt sich verwundert um. Auf einem gut erhaltenen Nierentisch aus den 50er-Jahren steht ein bis zum Rand gefüllter Aschenbecher, daneben liegt eine Reitpeitsche. Es riecht nach kaltem Rauch. Silvia Haman lässt sich in einen Sessel fallen, während Swensen sich bei einem anderen auf die Lehne setzt. Die Lederfrau bleibt stehen. Sie wirkt nervös und mustert die beiden mit heimlichem Blick. Nach längerem Schweigen stürzt sie aus dem Raum.

»Ich schau’ mal, ob ich Lola rauseisen kann!«

Man hört Türen klappen. Wenig später tritt eine junge, feminine Frau durch den Vorhang. Das makellose Gesicht ist dick mit Make-up belegt. Die Augen sind wie die der ägyptischen Nofretete schwarz umrandet. Auch sie ist von oben bis unten in Leder gekleidet, trägt aber lange Stiefel und einen Brustgurt, aus dem die festen Brüste herausschauen.

»Lola?«

»Sie wünschen?«

»Jan Swensen, meine Kollegin Silvia Haman. Wir haben eine kurze Frage«, übernimmt Swensen die Wortführung. »Wo waren Sie am 15. und 16. November?«

»Das ist alles, was Sie wissen wollen?«

»Das ist genug!«

»Am 15. und 16. November? Weiß ich nicht mehr!«

»Kennen Sie einen gewissen Sylvester von Wiggenheim?«

»Nie gehört!«

»Frau Hering!«, braust Silvia Haman auf.

»Ich wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mich Lola nennen.«

»Lola? Wie Sie wollen, meine Liebe. Also überlegen Sie genau, Lola, was Sie uns sagen. Es geht bei unserer Befragung um Mord. Also!?«

»Ich will keinen Ärger!«

»Sie sind auf dem besten Weg, reichlich davon zu bekommen!«, zischt Silvia Haman und steht demonstrativ auf. Sie überragt die junge Frau um einiges.

»Wir überprüfen nur die Aussage von Herrn von Wiggenheim«, beruhigt Swensen die angespannte Lage.

»Ich möchte nicht, dass Sylvester das hier von mir erfährt.«

»Das bleibt unter uns! Nun reden Sie schon.«

»Also gut, Sylvester und ich lieben uns. Er will mich heiraten.«

Silvia Haman pfeift durch die Zähne.

»Ehrlich! Er will sich scheiden lassen.«

»Ihre Liebe interessiert uns weniger, Lola«, sagt Swensen. »Wir wollen wissen, ob Sie gemeinsam am 15. und 16. in Sankt Peter waren.«

Lola nickt mit dem Kopf.

»Wissen Sie etwas von einer Leiche im Watt?«

»Eine Leiche?«

»Ja, eine gewisse Edda Herbst.«

»Sie meinen die Frau, die man aus der Nordsee gefischt hat?«

»Ja, genau die.«

»Und was hat die mit einer Leiche im Watt zu tun?«

»Sie lag wahrscheinlich vorher im Watt. Herr von Wiggenheim hat nichts davon erwähnt, eine Leiche gefunden zu haben?«

»Sylvester soll eine Leiche gefunden haben?«

»Ja!«

»Deswegen war er mit einmal so durch den Wind, als er vom Fotografieren zurückkam. Er ist dann mit so fadenscheinigen Ausreden Hals über Kopf abgereist. Wir haben uns noch ziemlich gestritten.«

»Und Sie waren die ganze Zeit vorher mit ihm zusammen?«

»Ja, nur am 16. ist er morgens allein zum Fotografieren ins Watt gefahren. War dann gegen Mittag wieder zurück und ist, wie gesagt, überstürzt abgereist.«

»Können Sie uns sagen, mit was für einem Wagen Herr von Wiggenheim hier war?«

»So ein silberner Geländewagen.«

»Marke?«

»Keine Ahnung!«

»Das war’s schon, Frau Hering!«

»Lola!«

Silvia Haman verlässt den Raum, während Swensen stehen bleibt und sich verlegen die Hände reibt.

»Ich hab da noch eine Frage, Lola, eine private Frage. Gibt es in diesem verträumten Husum überhaupt genügend Bedürfnis nach einer Domina?«

»Fragen Sie das im Ernst?«

»Reine Neugier!«

»Wo leben Sie denn? Meinen Sie etwa, in Husum lebt man hinter dem Mond? Es gibt überall überforderte Führungskräfte, die auch mal so richtig schwach sein wollen.«

»Schwach sein?« Swensen sieht die Frau verwundert an.

»Genau, diese scheinbar starken Männer, die bei uns nach Schlägen betteln. Masochisten! Die der Schmerz erst so richtig antörnt.«

Mit einem Mal fällt es Swensen wie Schuppen von den Augen. Er erinnert sich wieder, wer vorhin dieses Etablissement verlassen hat. Das war eindeutig Doktor Kargel von der Stormgesellschaft gewesen.

 

»Danke für die Auskunft und auf Wiedersehn!«

»Hoffentlich nicht!«

Lola hat wohl recht, denkt Swensen, als er seine Kollegin eingeholt hat. Auch in Husum leidet die ehrenwerte Gesellschaft an zunehmender Doppelmoral!

Es schneit nicht mehr, dafür nieselt es. Die weiße Pracht hat sich in wässerigen Matsch verwandelt. Im Nu sind Swensens Schuhe durchgeweicht und seine Füße werden eiskalt.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?