Hätschelkind

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Als Doktor Jürgen Riemschneider, der gerade das Herz gereicht bekommen hat, Swensen in der Tür nach Luft schnappen sieht, gibt er ihm ein Zeichen, doch draußen zu warten. Doch der schüttelt den Kopf und tritt entschlossen an den Sektionstisch. Mit einem kurzen Blick überzeugt er sich von den leeren Augenhöhlen. Es ist die Tote von den Fotos. Die beiden Gerichtsmediziner unterbrechen ihre Arbeit, ziehen sich den Mundschutz herunter und streifen sich die blutigen Handschuhe ab.

»Na, Jan! Musst du dir das mal wieder antun?«, sagt Riemschneider und deutet dann mit einer Kopfbewegung zu seinem Kollegen. »Doktor Markgraf kennst du noch nicht, ist erst seit Kurzem bei uns.«

»Hallo, Hauptkommissar Jan Swensen, Kripo Husum!«

Markgraf schüttelt Swensen die Hand.

»Doktor Helmut Markgraf!«, sagt er und sieht Swensen bedeutungsvoll an. »Das Übliche, denk’ ich? Zeitpunkt des Todes. Natürlicher oder nicht natürlicher Tod. Anhaltspunkte für Fremdeinwirkung.«

»Das auch. Aber als Erstes würde mich interessieren, ob die Tote Edda Herbst ist.«

»Es scheint Edda Herbst zu sein!«, antwortet Riemschneider, bevor Markgraf den Mund aufmacht. »Wir haben gehört, dass heute Vormittag ein Kollege von dir mit einem Videothekbesitzer hier war, der die Leiche identifizieren konnte.«

Riemschneider deutet auf den unteren Halsansatz der Leiche.

»Hier, das Muttermal.«

Dann nimmt er die rechte Hand der Toten und hebt sie etwas in die Höhe. An den Fingernägeln sind Reste roten Nagellacks zu sehen.

»Und hier eine kleine, circa zwei Zentimeter lange Narbe auf dem Handrücken.«

Nachdem Swensen sich die Merkmale angeschaut hat, wendet er sich erleichtert von dem Gruselszenario ab. Sofort glaubt Doktor Markgraf, dass jetzt seine Stunde gekommen wäre. Wie für einen Bühnenauftritt bringt er sich vor ihm in Stellung.

»Trotz der avitalen Beschädigungen ist eine Fremdeinwirkung auf den ersten Blick nicht festzustellen. Alles deutet auf Ertrinken hin. Die genaue Bestimmung der Todeszeit ist nach so langer Zeit im Wasser durch die starke Wärmeableitung kaum noch möglich. Das gilt auch für eine Bestimmung über supravitale Reaktionen, die sind genauso temperaturabhängig.«

Swensen kneift die Augen zusammen und Riemschneider übersetzt darauf das Fachchinesisch mit knappen Worten.

»Es gibt nur Verletzungen, die erst nach dem Tod durch Tierfraß, in diesem Fall Vögel, verursacht wurden. Zur Todeszeit können wir noch nichts sagen. Aber eins scheint sicher, wenn die Frau ertrunken ist, dann ist sie nicht vor Ort ertrunken. Auf der Vorderseite der Toten haben sich sehr starke Totenflecken gebildet.«

»Ja, und?« Swensen schaut die Gerichtsmediziner fragend an.

»Nun«, erklärt Markgraf mit Genugtuung, »Leichenflecken bilden sich nach dem Tod durch das Absinken des Blutes in tiefer liegende Gewebezonen.«

»Schwerkraft, alles fällt zu Boden«, erklärt Riemschneider. »Die Leiche muss also ziemlich lange auf dem Bauch gelegen haben. Wer nach dem Ertrinken im Wasser treibt, bildet keine Totenflecken.«

»Und was heißt das?«, fragt Swensen.

»Nun, die Frau ist mit Sicherheit nicht im Meer ertrunken. Sie muss gleich nach dem Tod längere Zeit auf festem Boden gelegen haben und erst viel später ins Wasser geraten sein. Das würde bedeuten, sie ist vorher ermordet worden!«

»Wann wissen Sie das genau?«

»Wir schauen uns als nächstes die Lungen näher an.«

»Ich gebe Ihnen meine Handynummer. Rufen Sie mich bitte sofort an.«

*

Susan raunt in ihrem typischen Singsang gerade ein »ich dich auch« ins Telefon und küsst geräuschvoll die Sprechmuschel, als sie Swensen neben sich wahrnimmt. Sie errötet bis unter die Haarwurzeln. Hastig legt sie auf und spielt nervös mit dem Kugelschreiber. Swensen zieht eine Folie mit Negativen aus einem Umschlag.

»Susan, können Sie dafür sorgen, dass von diesen Negativen 40 x 50 cm Vergrößerungen gemacht werden, jeweils drei Abzüge?«

»Klar, Herr Swensen, schon erledigt.«

Über den Flur gehen Heinz Püchel und Silvia Haman, die ihren Chef um eineinhalb Kopf überragt, auf den Raum zu, in dem die Pressekonferenz stattfinden soll. Doch vor der Tür müssen sie warten, eine kleine Gruppe Presseleute blockiert gestikulierend den Eingang. Fred Petermann vom Lokalradio und Rüdiger Poth von der Husumer Rundschau sind Swensen bekannt. Als Püchel ihn sieht, winkt er hektisch zu ihm hinüber. Bevor Swensen reagieren kann, klingelt sein Handy.

»Swensen!«

»Oh, wo ist denn Ihre schöne Melodie geblieben?«, säuselt Susan.

Swensen legt einen Finger an seinen Mund. »Jürgen, was gibt’s Neues? Wasser in der Lunge? … Aha, also eindeutig ertrunken? Okay, … gut … du bist also absolut sicher. Gut … wenn ihr die Laborwerte habt, bekomme ich sie sofort … prima, danke Jürgen, Moin, Moin!«

Swensen schreibt auf einen Zettel »Edda Herbst ist ermordet worden« und eilt zur Pressekonferenz, die bereits begonnen hat. Auf einem Podium am Kopfende des Raums sitzen sein Chef Püchel, Staatsanwalt Doktor Ulrich Rebinger und Stephan Mielke hinter einem Tisch. Vor ihnen stehen einige Mikrofone. Der Staatsanwalt ist ein stämmiger Mann mit Hängeschultern, mittelgroß mit grauen Haaren, Seitenscheitel und leichtem Doppelkinn. Er hat das Wort ergriffen und referiert dabei so umständlich über den Ermittlungsstand im Fall Edda Herbst, dass selbst bei der Darstellung des Leichenfundes auf dem Krabbenkutter die gesamte Presse schläfrig auf den Stühlen hängt. Swensen pirscht sich an Püchel heran und legt ihm den Zettel vor die Nase. Der zuckt zusammen, stößt Rebinger in die Seite und schiebt ihm den Zettel hin. Rebinger verstummt und räumt den Platz hinter den Mikrofonen für Swensen. Der setzt sich und spricht mit klarer, lauter Stimme: »Meine Damen und Herren, es gibt neueste Erkenntnisse über die Tote aus der Nordsee. Es besteht jetzt der dringende Verdacht, dass diese Frau ermordet wurde. Die genaue Tatzeit ist allerdings noch nicht bekannt, liegt aber höchstwahrscheinlich zwischen dem 13. und 17. November. Unsere bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass die Ermordete vermutlich bei Sankt Peter-Ording ins Watt gebracht wurde. Wir bitten die Bevölkerung deshalb um sachdienliche Hinweise. Dabei interessiert uns besonders, ob jemand in der fraglichen Zeit einen Geländewagen beobachtet hat, der auf den Strand vor Sankt Peter-Ording gefahren ist. Wenn sie noch weitere Fragen haben, dann fragen Sie bitte!«

»Woher wissen Sie, dass die Frau ermordet wurde?«

Püchel versucht mit einer kurzen Handbewegung, Swensen vermeintliche Auskunftsfreudigkeit zu stoppen.

»Genau auf diese Frage können wir zum jetzigen Zeitpunkt keine weiteren Auskünfte geben. Die laufenden Ermittlungen dürfen nicht gefährdet werden.«

Den Unmutsbekenntnissen der Journalisten begegnet Heinz Püchel, indem er seine Brust aufbläht und mit ausgebreiteten Armen beschwichtigende Gesten in den Raum schickt.

»Meine Damen und Herren, ich bitte Sie. Lassen Sie uns doch in Ruhe unsere Arbeit machen. Sie werden von uns weiter auf dem Laufenden gehalten.«

Während die Presseleute murrend den Raum verlassen, beugt Rebinger sich zu Swensen herüber. Sein rechtes Augenlid zuckt in regelmäßigen Abständen nervös herab.

»Herr Swensen, ich würde Sie bitten, mir Ihren Bericht schnellstmöglich zukommen zu lassen.«

Der scharfe Unterton stößt Swensen unangenehm auf. Er empfindet ihn als persönlichen Angriff. Seine alte Aversion gegen Rebinger aktiviert sich, aber er bemüht sich um Gelassenheit.

In seiner Antwort ist eine gewisse Süffisanz unüberhörbar.

»Spätestens morgen Mittag liegt er auf Ihrem Schreibtisch. Versprochen, Herr Doktor Rebinger.«

Rebinger nickt, er nickt kurz zurück und sieht gerade noch, wie Stephan Mielke den Raum verlässt. Er beeilt sich, ihn einzuholen und erwischt ihn kurz vor seinem Büro.

»Heh, Stephan. Ich hab gehört, du warst mit Hajo Peters bei der Identifizierung von Edda Herbst.«

»Es war ja sonst niemand da, der das gemacht hätte.«

»Ist ja gut! Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen! Ist dir was an ihm aufgefallen? Hat er sich irgendwie auffällig verhalten?«

»Nee, eigentlich nicht!«

Swensen sieht Mielke fragend an.

»Denk’ bitte genau nach, Stephan!!«

»Ach ja, zuerst wollte er auf Teufel komm raus nicht da mit hin. Ich musste ziemlichen Druck ausüben. Merkwürdig, oder?«

»Wieso?«

»Dort war er dann mit einem Mal völlig cool!«

4

Der kahlköpfige Jugendliche trägt eine braungrün-gesprenkelte Militärhose. Am Gürtel hängt eine Metallkette, die in einem Bogen bis zum rechten Knie hinunterreicht. Unter dem Kragen der schwarzen Bomberjacke lugt ein Spinnweben-Tattoo auf dem Nacken hervor. Mit den weinroten Springerstiefeln schreitet er die Videowand ab, greift sich eine Kassettenhülle heraus und liest den Covertext laut vor.

»Eeeh, Torte! Was meinst du?«

Vom Verkaufstresen kommt ein Kopfschütteln. Ein spindeldürres Mädchen mit knallrot gefärbten Haaren sitzt dort auf einer Art Barhocker. Der Glatzkopf stellt die Hülle zurück. Hajo Peters mag diese Art Kunden zwar nicht besonders, aber meistens leihen sie bis zu drei Filme pro Tag aus und er kann auf diese Einnahmen nicht verzichten. Um das Pärchen möglichst schnell wieder loszuwerden, deutet er auf die Neuerscheinungen.

»Den Film ganz links solltet ihr nehmen. Sleepy Hollow mit Johnny Depp. Der ist echt toll.«

Der Glatzkopf schnappt sich die Kassettenhülle und mustert sie.

»Ein kopfloser Reiter. Das ist ja ’n Horrorfilm. Auf so was steht die Torte nun überhaupt nicht.«

 

Er greift sich zwei andere Hüllen von den Neuerscheinungen und wirft sie nacheinander zu seiner Freundin hinüber, die sie jeweils mit einer Hand auffängt. Nachdem sie die Inhaltsangabe durchgelesen hat, nickt sie.

»Die nehmen wir.«

Hajo Peters atmet erleichtert durch, lässt sich die Nummern reichen und holt eilig die dazugehörigen Kassetten. Derweil rattert schon der Nadeldrucker und spuckt den Verleihzettel aus. Eine Unterschrift und gut. Er zündet sich eine Zigarette an und nimmt einen tiefen Zug. Gerade heute Vormittag ist er nicht besonders erfreut über die übliche Kleckerkundschaft.

Beim Zeitunglesen heute Morgen wurde ihm angesichts der Schlagzeile: »Husumerin ermordet« ganz schlecht und ihm geht das Wort Mord seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Er kann nicht begreifen, wie die Bullen so schnell darauf gekommen sind.

Mit einem Mal merkt er, wie sehr ihm der gestrige Tag noch immer in den Knochen steckt. Dieser grausliche Kellerraum. Der aufgebahrte Leichnam. Das Tuch, das heruntergezogen wurde. Der aufgeblähte Körper, die weiße Haut mit den blauen Adern. Die beiden Pappstücke, die man über die Augen gelegt hatte. Dieser grüne Junge von der Polizei, der ihn so fragend ansah. Am Anfang, als dieser Typ ihn hier in der Videothek abholen wollte, hatte er sich dagegen gewehrt mitzukommen, um die Identifizierung vorzunehmen. Auf alle Situationen hatte er sich vorbereitet, nur auf diese nicht. Eine undefinierbare Angst durchzudrehen, setzte sich in ihm fest. Angst vor der Leiche und dass man ihm auf die Schliche käme. Aber dann war alles halb so schlimm gewesen. Der Körper lag getrennt von ihm hinter einer großen Glasscheibe und hatte einfach nichts mit ihm zu tun, da er mit Edda keine Ähnlichkeit mehr aufwies. Er schaute einfach durch sie hindurch. Ihm kamen Bilder von ertrunkenen Schafen in den Sinn, die mit prallen Bäuchen auf dem Rücken liegend ihre Beine in die Höhe streckten. Edda existierte nicht mehr. Dort lag ein totes Schaf. Er merkte, dass es in seinem Herzen eiskalt wurde. Mit knappen Worten identifizierte er Edda an dem Muttermal im Nacken und an ihrer kleinen Narbe an der Hand. Jetzt, dachte er, war er der Polizei sogar wieder überlegen. Er fühlte sich nicht schuldig, weil der Mordabend in weiter Ferne lag und gar nicht wirklich passiert war.

Als er am selben Abend die Wohnungstür aufschloss, war er sich sicher, dass das Thema Edda für ihn ein für allemal erledigt sein würde. Schon fast rituell zog er erst einmal die Schublade auf, in der er das Storm-Manuskript aufbewahrte, um sich zu vergewissern, dass es noch am Platz lag. Dann ließ er sich auf einen Stuhl plumpsen und dachte noch einmal über seinen Plan nach. Zuerst wollte er Kontakt mit diesem Wraage aufnehmen, der in der Zeitung immer über den Storm-Roman geschrieben hatte. Die Adresse konnte er ja bei der Husumer Rundschau erfragen. Der Reporter von der Zeitung gab ihm auch gleich die Telefonnummer des Experten, hakte aber so lange nach, bis er sich verplapperte und ihm von dem Roman erzählte. Er wollte dann unbedingt sofort einen Termin haben. Hajo Peters versuchte, ihn abzuwimmeln, war der Rhetorik des Zeitungsmannes aber nicht gewachsen. Rüdiger Poth ließ nicht locker und klingelte 20 Minuten später an der Tür, um das Manuskript anzusehen. Der Journalist war sofort wie elektrisiert und bot ihm 8.000 DM bar auf die Hand für eine Veröffentlichung in der Husumer Rundschau. Auch einen entsprechenden Vertrag hatte er blitzschnell formuliert. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag in der Videothek. Bis dahin hätte er den endgültigen Vertrag dabei. Peters blieb mit einem unguten Gefühl zurück. Obwohl es schon spät war, rief er doch noch bei Ruppert Wraage an. »Sie sind ja mehr als ein Glückspilz, Herr Peters!«, hatte der Experte ausgerufen, ihn nach dem Zeitungsmann ausgehorcht und ihm gleichzeitig jede Unterstützung zugesichert. »Ich hoffe, Sie haben noch nichts unterschrieben!«, insistierte er und war hörbar erleichtert, als Peters verneinte. Hajo Peters schlägt das Herz bis zum Hals, als er die Szene noch einmal im Geiste durchlebt. Er sieht sich schon als reichen und berühmten Mann.

Wo bleiben die nur, denkt er und sieht auf die Uhr, es ist 11.17 Uhr.

Die robuste Gestalt, die in diesem Moment in die Tür tritt, zeichnet sich im Gegenlicht nur als Umriss ab. Sie bleibt jählings stehen, um die Augen an das Dunkel zu gewöhnen. Hajo Peters registriert daran, wie der Mann den Raum mustert, dass er wohl noch nie eine Videothek von innen gesehen hat. Außerdem trägt seine Kundschaft gewöhnlich nicht solche picobello Anzüge.

»Ruppert Wraage! Sind Sie Herr Peters, der mich gestern angerufen hat?«

»Ja, der bin ich!«

Der Mann tritt an den Tresen heran und reicht Hajo Peters die Hand, wobei sein Blick ihn unmerklich von oben bis unten abtastet.

»Der Herr von der Zeitung ist noch nicht da?«

»Nein, aber der kommt sicher bald. Ich hatte ihn auf 11.30 Uhr bestellt.«

»Das ist gut so! Fangen wir doch einfach schon mal an! Ich würde natürlich gerne als erstes das Corpus delicti sehen!«

»Das was?«

»Na, den Roman von Theodor Storm«, sagt Wraage mit einem etwas mitleidigen Blick. »Sie haben ihn doch hoffentlich da, oder?«

»Selbstverständlich!«, entgegnet Peters und denkt im Stillen, alter Lackaffe!

Die arrogante Art seines Gegenübers ist ihm nicht entgangen.

Du musst vorsichtig sein, denkt er bei sich und fragt: »Aber wollen wir nicht lieber noch auf den anderen Herrn warten?«

»Nur einen kurzen Blick, Herr Peters! Ich bin sehr gespannt, wie Sie sicher verstehen.«

Die mondäne Überlegenheit des Mannes erstickt Peters aufkeimende Abwehr. Er öffnet die Schublade, schiebt die Pistole mit einem raschen Griff nach hinten, greift die Leinendeckel, in denen das Storm-Manuskript steckt und legt sie vorsichtig neben die Computerkasse. Kaum sind sie für Wraage sichtbar, saust der wie von allen guten Geistern verlassen um den Tresen herum direkt an Peters Seite, wartet ungeduldig, bis der die Stoffbänder aufgezogen hat und den oberen Leinendeckel abhebt. Er schaut Wraage fragend an.

»Das ist doch die Schrift von Theodor Storm?«

»Hallo, guten Morgen Herr Peters!«

Erschreckt blicken die beiden Männer hoch. Rüdiger Poth steht direkt vor ihnen.

»Herr Wraage, wir kennen uns ja schon von einigen dieser Storm-Symposien.«

»Ich erinnere mich nur schwach. Doch ja, Rüdiger Poth. Stimmt’s?«

»Genau!«

»Ach, Sie sind also der nette Journalist, der sich nicht gerade reizend über meine These eines existierenden Storm-Romans geäußert hat. Sind die alten Vorurteile so schnell verflogen?«

»Lassen wir doch die ollen Kamellen, lieber Herr Wraage. Jeder Mensch kann sich mal irren. Oder sind das keine Originale?«

»Ja, ja, die Pressegeier, die ahnen anscheinend immer den großen Knüller!«

»Heißt das, der Roman ist echt?«, bricht es aus Hajo Peters heraus. Er stiert gebannt auf Ruppert Wraages Lippen. Der stellt sich in Pose und versinkt in bedeutungsvollem Schweigen. Hajo Peters Stimme nimmt einen aggressiven Unterton an.

»Nun sagen Sie doch endlich was!«

»Das ist natürlich nur ein erster Eindruck, aber eine innere Stimme sagt mir, dass dieser Fund eine wahre Sensation ist, besonders wenn sich die Schriftstücke als ein zusammenhängender Roman herausstellen sollten. Das ist eindeutig Storms Handschrift.«

Hajo Peters reißt die Arme hoch wie ein Fußballer, der gerade das entscheidende Tor verwandelt hat. Rüdiger Poth verfolgt überlegen grinsend den Jubelausbruch. Dann geht er auf ihn zu und klopft ihm auf die Schulter.

»Meinen Glückwunsch zu Ihrer Entdeckung, Herr Peters.«

Während der angebliche Finder über das ganze Gesicht strahlt, zieht Rüdiger Poth einen Umschlag aus seiner Ledermappe.

»Hier ist er, der Vertrag, wie wir ihn gestern besprochen haben!«

Der Angesprochene weicht jedoch argwöhnisch zurück.

»Ich versteh’ da nicht viel von. Geben Sie ihn doch bitte Herrn Wraage.«

»Wie bitte?«

»Ja, Herr Poth, Sie hören richtig!«, meldet sich der Experte zu Wort.

»Wir sind übereingekommen, uns gemeinsam um den Roman zu kümmern. Wir sind in der Zwischenzeit sozusagen Partner geworden, nicht wahr, Herr Peters!«

»Genau, wir sind Partner, Herr Poth!«

»Geschickt, geschickt, Herr Wraage!«, meint Poth ironisch.

»Dann zeigen Sie doch mal Ihren Vertrag, Herr Poth!«

Ruppert Wraage nimmt den Umschlag, zieht den Papierbogen heraus und liest ihn durch. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen.

»Oh! Alle Rechte bei der Zeitung? Das würde ich schon mal nicht unterschreiben, Herr Peters.«

Der Journalist gibt sich zwar gelassen, aber sein Gesicht nimmt vor Zorn eine puterrote Farbe an.

»Passen Sie auf, Herr Poth. Ihr Vertrag beschränkt sich zwar richtiggehend auf eine einmalige Veröffentlichung und die gebotene Summe ist, na ja, in Ordnung, aber es muss da schon noch eine Kleinigkeit geändert werden.«

Wraage schaut Peters fragend an und der nickt heftig.

»Also, alle Rechte an dem Roman bleiben natürlich auch weiterhin bei Herrn Peters. Das sollte auf jeden Fall mit im Vertrag stehen.«

»In Ordnung. Aber wir müssen erst von einem unabhängigen Sachverständigen prüfen lassen, ob Ihre Einschätzung von der Echtheit auch wirklich stimmt.«

»Selbstverständlich! Die Kosten müssen aber von der Zeitung übernommen werden.«

»Sie denken an alles!«

»Sie wollen doch eine Erstveröffentlichung, oder?«

»Gut, gut! Dann kann ich das Manuskript sofort mitnehmen?«

»Was meinen Sie, Herr Wraage?«, fragt Hajo Peters unschlüssig. Der nickt bestätigend und rät: »Sie wissen, wie wertvoll dieses Schriftstück ist. Herr Peters, drucken Sie bitte eine Quittung aus, die einen Passus enthält, dass die Husumer Rundschau bei Verlust und Beschädigung die volle Haftung übernimmt. Herr Poth kann sie dann ja gleich unterschreiben.«

Hajo Peters geht an seinen Geschäftscomputer und tippt umständlich auf der Tastatur. Ruppert Wraage beugt sich an sein Ohr und flüstert: »Herr Peters, wir zwei beiden sollten ebenfalls einen Vertrag machen. Ich kenn’ mich bestimmt besser aus im Umgang mit Verlagen und Medien, das kann Ihnen ziemlich nützlich sein. Sie werden den Roman mit meiner Hilfe nicht unter Preis vermarkten.«

Während die eingegebene Quittung unten ratternd aus dem Nadeldrucker fährt, mustert Hajo Peters seinen unverhofften Geschäftspartner eindringlich von der Seite. Dieses ausgeprägte Gesicht mit dem leichten Haken in der Nase, den stechenden Augen und den fast schwarzen, zurückgekämmten Haaren, so hatte er sich immer die dunkle Figur des Deichgrafen Hauke Haien aus Storms Schimmelreiter vorgestellt. Unheimlich und unnahbar.

Der Mann ist mir ganz und gar nicht geheuer, denkt er. Auf der anderen Seite wäre ich ohne ihn jetzt wahrscheinlich schon von diesem Zeitungsheini übers Ohr gehauen worden. Es ist vielleicht gar nicht so schlecht, sich mit jemanden zusammenzutun, der Erfahrung in solchen Verkaufssachen hat.

Trotzdem wird es Hajo Peters mulmig in der Magengegend. Augen aufhalten, sagt seine innere Stimme und er erinnert sich dabei an den Satz aus dem Schimmelreiter: Zwei Augen hat man nur, und mit hundert soll man sehen.

*

Swensen betritt verstört die Husumer Polizeiinspektion. Mit leerem Blick, ohne einen Gruß, marschiert er an der Rezeption vorbei. Susan Biehl und Rudolf Jacobsen sehen ihm erstaunt hinterher.

»Vollkommen weggetreten!«, säuselt Susan und Rudolf Jacobsen ergänzt ihren Spruch trällernd mit: »Völlig losgelöst!«

Swensen schließt nach dem Betreten seines Büros die Tür und tritt an das Fenster. Gerade fahren mehrere Streifenwagen vom Hof. Kurz danach hört er, wie ihre Martinshörner aufjaulen. Das goldene Licht der Herbstsonne gleitet über den ramponierten Asphalt, erreicht die brüchige Mauer, die den gesamten Hinterhof umfasst und legt einen übernatürlichen Glanz auf die Blätter des Efeus, der den größten Teil des Gemäuers überwuchert.

Ein wenig Sonne und sogar das Morbide hat seinen Charme, denkt er. Jahrelang guckt man hier hinaus und plötzlich ist alles Hässliche für einen Moment schön. Da fragt man sich, ob die Physiker mit ihrer These von der Thermodynamik der Zeit wirklich richtig liegen. Wie war der noch? Ach ja, ein geschlossenes System zeichnet sich in der Zeit durch zunehmende Unordnung aus, was dazu führt, dass jedes System seine Vergangenheit vergisst. Da ist natürlich schon irgendwie was dran.

Parallel zu seinen Gedanken hat er die eisernen Zähne einer Planierraupe vor Augen, die in die Ziegelfront seines Elternhauses stoßen. Das berstende Geräusch stürzt durch seinen Körper. Er fühlt tief im Inneren, wie vor ihm seine Kinderzeit zerbricht, ein Teil seiner Geschichte, endgültig und unwiederbringlich.

 

Swensen war auf seinem Weg zur Arbeit wie immer durch den Jebensweg gekommen, in dem sein Elternhaus steht.

Als seine Mutter 1997, zwei Jahre nach seinem Vater gestorben war, hatte er das Häuschen mit den völlig verwinkelten Räumen schweren Herzens an einen älteren Eisenbahner, einen langjährigen Kollegen seines Vaters, verkauft. Er selbst konnte sich nicht vorstellen dort einzuziehen und die ständige Instandhaltung des Gebäudes wollte er auch nicht leisten.

Normalerweise registrierte er diese morgendliche Vorbeifahrt nur noch in seinem Unterbewusstsein. Doch heute war die Hälfte der Fahrbahn gesperrt. Der Zaun war niedergewalzt und schweres Gerät stand im Vorgarten. Swensen bremste und starrte fassungslos durchs Seitenfenster. Der alte Herr schien gestorben zu sein und der neue Eigentümer machte jetzt kurzen Prozess. Swensen traf das makabere Schauspiel aus heiterem Himmel. Tränen kullerten ihm die Wange hinab. Dieses Haus war, obwohl er es bereits vor einer Ewigkeit verlassen hatte, immer so etwas wie sein geschlossenes System gewesen. Jetzt hatte der thermodynamische Zeitpfeil dieses heile System erreicht und durchbohrt. In diesen Mauern hatte sich das entwickelt, was er heute war. Nun waren dort nur noch Trümmer, Unordnung, der Vergessenheit preisgegeben.

Das Telefon klingelt. Der Kommissar schreckt auf und greift nach dem Hörer.

»Püchel hier! Moin, Moin, Jan, wir haben die Frühbesprechung um zwei Stunden verschoben. Randale in einer Kneipe am Hafen. Nur, dass du Bescheid weißt, bis dann!«

»In Ordnung, bis später!«

Swensen lässt seinen Computer hochfahren, lädt sich das Programm mit den polizeilichen Suchsystemen auf den Bildschirm, gibt dann den Namen »Irene Hering« ein und klickt auf »suchen«. Es klopft an der Tür, die schon im selben Moment aufgerissen wird. Silvia Hamans massive Gestalt steuert auf Swensens Schreibtisch zu.

»Moin, Moin, Jan! Seit wann hältst du denn deine Tür geschlossen?«

»Weiß ich auch nicht! War wohl in Gedanken. Was gibt’s?«

»Der Freund von der Herbst, du erinnerst dich, heißt Peter Stange, wohnt draußen in Wobbenbüllfeld und ist 45 Jahre. Ich hab ihn ausfindig gemacht und war gleich da um ihm auf den Zahn zu fühlen. Ist aber seit drei Monaten verheiratet und hat Edda Herbst nach eigener Aussage schon über sechs Monate nicht mehr gesehen. Wenn du mich fragst, scheint das wahr zu sein. Ich glaube, wir können ihn als Verdächtigen streichen.«

»Wäre ja wohl zu einfach gewesen«, kommentiert Swensen und verfolgt gleichzeitig mit einem Auge seine Sucheingabe. Gerade baut sich das Bild einer jungen Frau auf, die selbst als digitale Abbildung aufgedonnert wirkt.

»Bingo, Treffer!«, jubelt er los. Silvia macht ein verwundertes Gesicht, worauf Swensen sofort seine Stimme dämpft. »Sorry Silvia, einen Moment!«

Er dreht sich zum Bildschirm und liest murmelnd vor:

»Irene Hering, geboren am 20. Mai 1973 in Bredstedt, ein Meter 79, Augenfarbe blau, wohnhaft in Husum, Nordbahnhofstr. 24. Wurde am 17. Juni 1998 wegen offensichtlicher Straßen-Prostitution polizeidienstlich erfasst. Führt auch den Namen Lola Lalou und arbeitet im Klub 69.«

»Wer ist das denn?«, fragt Silvia.

»Irene Hering, alias Lola Lalou, ist die vermeintliche Geliebte dieses Künstlers Sylvester von Wiggenheim. Das ist der Mann, der uns heimlich die Fotos von der toten Edda Herbst zugeschickt hat. Den Namen hab ich gestern in Hamburg erfahren. Ich gehe mal davon aus, dass er nichts über ihren Broterwerb hier in Husum weiß.«

»Wer weiß, wer weiß? Künstler sind doch in solchen Fragen eher liberal oder finden so was gerade schick.«

»Wie dem auch sei. Ich befürchte, die Dame bekommt bald Besuch von uns. Ich hätte dich gern dabei Silvia!«

Er zieht seinen Notizblock heraus und überlegt widerwillig, wie er den Bericht formulieren soll, den er Rebinger versprochen hat. Swensen weiß, dass er ihn vor der Konferenz fertig haben muss, weil danach wahrscheinlich keine Zeit mehr bleibt. Doch es ist wie verhext. Wenn von außen etwas verlangt wird, fühlt er sich fast immer blockiert. Sein Vater kommt ihm in den Sinn der, ähnlich wie Rebinger, immer absolute Disziplin und Pünktlichkeit forderte. Swensen ist der Überzeugung, dass ihm die Unterordnung gegenüber der Obrigkeit im Elternhaus gründlich eingetrichtert worden war. Er erinnert sich noch an eine Situation, als er mal wieder den Satz »Man kann ja doch nichts ändern« von seinem Vater hören musste. Er hatte ihn daraufhin angebrüllt: »Dich haben die da oben doch schon damals beschissen. Du bist sogar freiwillig für das braune Pack in den Krieg gezogen, obwohl du als Beamter vom Militärdienst befreit warst.« Da war der alte Mann aufgesprungen und wollte seine Wohnung verlassen. Nur seine Mutter war in der Lage gewesen, ihn zurückzuhalten. Später tat Swensen seine Äußerung leid. Er hatte die Nazi-Zeit schließlich nicht mitgemacht. Was konnte er schon wissen.

So ist das, wenn ich was schreiben muss, denkt Swensen. Erst kurz vor dem Konferenztermin gelingt es ihm endlich, seine Gedanken in Worte zu fassen. Er druckt den Bericht aus und faxt ihn an Rebinger. Fünf Minuten später eröffnet Püchel die Besprechung.

»Kollegen, bevor wir beginnen, die neueste Entwicklung im Fall der kleinen Beatrix. Vor gut einer Stunde wurde das Mädchen in einem Waldstück bei Glücksburg tot aufgefunden. Wahrscheinlich ein Sexualdelikt. Das bedeutet für uns, dass wir unseren Mordfall sehr wahrscheinlich allein bis zum Ende durchziehen müssen. Ich installiere hiermit ab sofort die SOKO Watt. Swensen übernimmt die Leitung und hat das Wort.«

In der gesamten Runde herrscht betroffenes Schweigen. Püchel lässt die lähmende Situation allerdings nur einen kurzen Moment zu. Danach schaut er eindringlich auf Swensen. Als der sich nicht rührt, trommelt Püchel so lange penetrant auf die Tischplatte bis der sich erhebt und mit belegter Stimme beginnt.

»Ich kann natürlich verstehen, dass jetzt keinem nach Arbeit zumute ist.«

»Alles richtig, Kollegen!«, fährt ihm Püchel dazwischen. »Der Mord an einem Kind schockt sicher jeden von uns, aber wir arbeiten hier nicht bei der Heilsarmee. Noch haben wir selber einen Mord in unserem Ermittlungsgebiet an der Hacke. Also bitte, Jan, fasse unsere bisherigen Erkenntnisse für alle noch einmal zusammen!«

Swensen nimmt einen Schluck Tee und lässt seine innere Stimme rezitieren, ich atme ein und fühle mich ruhig. Ich atme aus und fühle mich friedlich. Es wirkt, das Bild des toten Mädchens verschwindet. Er ist konzentriert.

»Am Dienstag, dem 14. November, wird Edda Herbst zum letzten Mal lebend vom Videothekbesitzer Hajo Peters an ihrem Arbeitsplatz gesehen. Wir bekommen am Samstag, dem 18., anonym Fotos von ihrer Leiche zugeschickt. Diese Fotos stammen von einem gewissen Sylvester von Wiggenheim, einem international bekannten Fotokünstler aus Hamburg, den Peter anhand seines Aufnahmestils erkannt hat. Dieser Fotograf schickt uns die Bilder, weil er mit seiner Geliebten in Sankt Peter abgestiegen ist und Angst hat, dass ihn seine vermögende Ehefrau vor die Tür setzt. Der Name der Geliebten ist Irene Hering, ist bei uns wegen Straßenprostitution aufgefallen und erhält demnächst einen Besuch von uns.«

Swensen klappt seine Mappe auf und zieht drei Fotos hervor, die er in die Runde reicht.

»Diese Fotos hat der Fotokünstler unterschlagen, diese und die gesamten Negative habe ich bei ihm in Hamburg sichergestellt. Was machen übrigens die Abzüge, Susan?«

»Noch nicht fertig, Herr Swensen. Das Labor ist überlastet!«, singt Susan Biehl. Die aufkommende Heiterkeit bringt Swensen aus dem Konzept. Mit einer Handbewegung versucht er, die Konzentration wieder herzustellen. Als das nicht wirkt, klopft er mit dem Löffel an den Teebecher.