Hätschelkind

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Erst war er stinksauer gewesen und wollte Karl Begier zur Rede stellen, ihn fragen, was ihn sein Privatleben anginge. Doch seine nächtlichen Traumattacken ließen ihn dann verstummen. Am 23. schlich er nach über 20 Jahren wieder auf das Unigelände. Er fühlte sich fast wie ein geprügelter Hund, als er in den Vorlesungssaal trat und das versammelte Jungvolk ihn anstarrte. Sein erster Impuls war sofort wieder umzudrehen. Nur der Anblick einer attraktiven, schon etwas älteren Rothaarigen, die allein, etwas abseits in einer der hinteren Reihen saß, hielt ihn dann doch davon ab. Die beiden Fremdkörper zogen sich an. Er steuerte entschlossen auf sie zu und setzte sich mit einem »ist hier noch frei?«, direkt neben sie.

»Jetzt nicht mehr!«, entgegnete sie schnippisch.

»’Schuldigung! Swensen, Jan Swensen. Ich bin das erste Mal hier und brauche solidarische Unterstützung. Sie sind doch auch keine Studentin, oder?«

»Nein, ich bin glücklicherweise schon einige Jahre in Arbeit!«

»Und weshalb sind Sie dann hier?«

»Psychologische Fortbildung, Herr Swensen, ein wenig psychologische Fortbildung!«

Das war sein erstes Gespräch mit einer Psychologin. Nach dem Vortrag gelang es ihm, sie noch zu einem Wein einzuladen und das soeben Gehörte regte ihn an, innerhalb von einer halben Stunde seinen gesamten Seelenmüll einer völlig wildfremden Frau zu erzählen. Er erfuhr ihren Namen und spürte, Anna Diete war ein Mensch, der wirklich mitfühlend zuhören konnte. Am Ende des Abends hatte er Schmetterlinge im Bauch, eine Telefonnummer aus Witzwort in Schleswig-Holstein und die Adresse einer Kollegin von Anna in Hamburg.

*

Über dem Festland geht die Sonne glutrot auf. Hinnak Hansen hat dafür keinen Blick übrig. Er nimmt die täglichen Kapriolen der Natur nur noch nebenbei wahr. Seit über 15 Jahren fischt er jetzt in der Nordsee nach Krabben und Plattfischen. Ein schöner Tag wie heute verspricht um diese Jahreszeit endlich volle Netze, aber nur wenn man weiß, wo man jetzt hin muss.

Der gestrige Tag, oberhalb der Lorenzplatte, war wesentlich unangenehmer gewesen. Peitschender Regen, stark bewegte See bei 5 bis 6 Windstärken. Außerdem lief der Job so mies wie schon lange nicht mehr. Erst waren fast mehr Krebse und Knurrhähne als Krabben im Fang, sodass er und sein Gehilfe Peter Müller ewig rumackern durften, dieses lästige, unnütze Zeug auszusortieren. Eine echte Affenarbeit. Und dann kam es noch dicker. Am späten Nachmittag hatten sie mit müden Knochen das Fanggeschirr beiderseits der Bordwände ausgefiert. Gerade konnten sie etwas verschnaufen, da passierte es. Die zwei Kurren (Schleppnetze) wurden gerade erst eine halbe Stunde über den Meeresgrund gezogen, als ein mächtiger Ruck den Holzkutter in seinen Fugen erschütterte. Eines der beiden Netze war irgendwo hängen geblieben. Die Fahrt wurde aus heiterem Himmel gestoppt. Der Ausleger, ein stählerner Balken, der quer zur Fahrtrichtung über Bord hängt, zog den Kutter um 90 Grad zur Seite, wobei er unaufhaltsam nach backbord abdrehte. Gleichzeitig kippte er in eine bedrohliche Schlagseite. Hinnak Hansen schoss das Adrenalin ins Blut und mit einem blitzschnellen Griff stoppte er die Maschine. So eine Situation hatte er schon ein paar Mal erlebt und wusste daher, dass das Netz wahrscheinlich an einem alten Wrack fest hing.

Er und Peter Müller sind ein eingespieltes Team und das kam ihnen jetzt mal wieder zugute. Kein unnützes Wort fiel. Während sein Kollege dafür sorgte, dass der Baum nicht überschlug und beide Netze den Kahn noch mehr in Schieflage gezogen hätten, hievte er das freie Netz über die Wasseroberfläche. Das Fanggewicht am Baum wirkte wie ein Hebearm und drückte den Kahn wieder in eine annehmbare Normallage. Dann befestigten die Männer das nur halbvolle Netz an der Bordwand, damit es nicht in die Schrauben geraten konnte. Jetzt ließen sie mit der Winde den Draht aus dem Mast fallen und die Bäume knallten an Deck. Die Gefahr umzukippen war gebannt. Der Rest war schon fast wieder Routine gewesen. Hinnak Hansen manövrierte das Fischerboot gegen den Strom zurück und dann volle Kante über das festgehakte Netz. Das Ergebnis durften die beiden noch bis spät in den Abend flicken. Nach dem Chaostag beschlossen sie, einen weiteren Tag dranzuhängen und blieben über Nacht draußen.

Ein neuer Tag, ein neues Glück, denkt Hinnak Hansen. Wir sollten heute die Dooven Tide (erste Tageshälfte) voll ausnutzen.

Er steht unrasiert im Ruderhaus und steuert seine alte Trude seit einer Stunde Kurs Südost, Richtung Rochelsand vor Westerhever. Der 716er Deutzmotor tuckert vor sich hin. Das Log zeigt, dass er kontinuierlich neun Knoten macht. Im ganzen Raum riecht es nach Dieselöl.

»Ist Kaffee da?«

Peter Müller tappt verschlafen durch die Tür. Hinnak Hansen deutet ohne ein Wort auf die Kaffeemaschine, zündet sich eine Zigarette an und hält die fast leere Packung in Peter Müllers Richtung. Der schüttelt verschlafen den Kopf, schnappt sich eine am Rand leicht lädierte Porzellantasse und gießt sie halbvoll.

»Wohin geht’s?«

»Rochelsand!«

»Und du meinst, da wird es besser?«

»Merk dir eins. Ein guter Krabbenfischer braucht nur zwei Dinge damit er Krabben fängt. Erstens Intuition und zweitens noch mehr Intuition.«

Peter Müller grinst kurz.

»Wie lange brauchen wir noch?«

»Schätze noch 15 bis 20 Minuten.«

Mit dem heißen Kaffee in der Hand stiefelt er nach draußen und lehnt sich pfeifend an die Reling. Ein leichter Wind brist auf. Hinnak Hansen hat die beiden stählernen Ausleger schon abgeschwenkt. Die zwei armdicken runden Balken liegen jetzt waagerecht quer zur Fahrtrichtung über Bord. Ihre Spitzen tauchen ab und zu in die Gischt.

Hier draußen gibt es einfach keine Langeweile, denkt Peter Müller.

Er liebt das Meer, die gute alte Haut. Heute spiegelt sich der offene Himmel auf ihrer gekräuselten Oberfläche und färbt sie azurblau, fast kitschig, wie das so häufig besungene Bild vom blauen Meer. Ein paar hartnäckige Möwen segeln beharrlich, unterbrochen von kurzen Flügelschlägen, am Heck des Kutters. Peter Müller nimmt einen Schluck Kaffee, doch der ist bereits lauwarm. Er kippt ihn angeekelt ins Meer, steckt den Becher in die Seitentasche der gelben Latzhose aus Ölzeug und macht sich dann daran, die Netze für den Fang klar zu machen. Das Ende, der Hievsteert, wird mit einem Tau zusammengelascht.

Bald hat die Sonne den höchsten Stand erreicht. In der Ferne, Steuerbord voraus, kommt der Leuchtturm von Westerhever in Sicht. Das gleichmäßige Dröhnen des Dieselmotors bricht abrupt ab. Hinnak Hansen verlangsamt die Fahrt und dreht den Kutter gegen das ablaufende Wasser.

»Man too, Man too, Peter! Wir mock dat ob Enkel (machen das zusammen)«, ruft er überdreht und stürzt aus dem Ruderhaus. »Dat warrt de gröttste Fang in de Geschicht de Krabbenfischeree.«

Die beiden stellen sich in ihre eingefleischten Positionen und schon wird das erste Netz im rechten Winkel zum Rumpf über die Bordwand gehievt. Dann gleitet es auf der Wasseroberfläche achteraus, das zweite folgt kurze Zeit später. Die Ausleger halten die Netze beiderseits des Kutters. Die Stahltrossen rucken und die beiden schlittenartigen Gestelle an der Öffnung ziehen die Netze unter Wasser. Der Schleppvorgang über den Meeresgrund hat begonnen.

»Ik scheer mi in de Tiet um de Putt.« (Ich kümmere mich in der Zeit um den Topf.)

Peter Müller schnappt sich einen Spachtel und macht sich über die verkrusteten Wände des Kochkessels her. Hinnak Hansen schaut auf die Uhr, geht ins Ruderhaus zurück und dreht das Radio an, um den Wetterbericht zu hören. Mit circa vier Knoten schneidet sich der Kutter jetzt mindestens eineinhalb Stunden durch die ruhige See.

Kurz bevor das Fanggeschirr aufgebracht wird, hat Peter Müller stets ein Kitzeln im Bauch.

»Es ist einfach jedes Mal wieder spannend, wenn der Steert hochkommt«, denkt er, während sich die Stahltrossen mit Krachen auf die Winde wickeln. Beide Netze tauchen gleichzeitig auf und werden hochgehievt. Sie sind berstend voll. Die Krabben rutschen in den Netzbeutel und baumeln in der Sonne. Das tausendfache Kribbeln, Krabbeln und Zappeln erzeugt das typisch knisternde Geräusch. Peter Müller jubelt mit erhobenen Daumen zum Fenster des Ruderhauses hinüber. Er bugsiert das prallvolle Netz über den eisernen Auffangtrichter, löst das Tau am Steert und die Krabbenflut rauscht hinein. Mit einem Schlag ist Peter Müllers Hochstimmung auf null. Entgeistert starrt er auf einen bleichen Arm, der aus den quirligen Schalentieren herausragt.

»Schitt! Hinnak! Verdammichter Schitt!«, brüllt er.

»Wat is?«

»Ene Leik! Wi heff ne Leik an Boord!« (Eine Leiche, wir haben eine Leiche an Bord!)

»Wat!!!«

Hinnak Hansen stürzt aus dem Ruderhaus wie von einer Tarantel gestochen. Peter Müller trabt mit rudernden Armen auf und ab und schimpft jetzt auf Hochdeutsch vor sich hin.

»Das darf doch nicht wahr sein, so was! Das hat vor uns noch keiner geschafft. Ne’ Leiche mit dem Netz auffischen, das ist doch gar nicht möglich!«

»Ich würde sagen, eins zu einer Million. Ja, Glück muss der Mensch haben«, ergänzt Hinnak Hansen sarkastisch und schimpft wütend hinterher, »das hat uns jetzt gerade noch gefehlt! Und? Was machen wir?«

»Wieso, was machen wir?«

»Na ja, über Bord damit!«

»Bist du völlig durchgedreht, Hinnak?«

»Weißt du, was passiert, wenn wir den Mist hier melden? Wir dürfen unseren gesamten, beschissenen Fang wegschmeißen!«

»Hinnak, jetzt bleib mal ganz ruhig. Willst du die Leiche etwa da rausziehen, wieder über Bord werfen und dann einfach weitermachen?«

Hinnak Hansen steht da wie versteinert, dann dreht er sich abrupt um und geht langsam auf das Ruderhaus zu.

 

»Schon gut, Peter, schon gut!«, murmelt er.

Eine halbe Stunde später legt sich das Polizeiboot Sylt längsschiffs. Es ist dreimal größer als die Trude. Über eine Trittleiter kommen mehrere Beamte an Bord. Es ist Mittwoch, der 22. November 2000.

*

Dunkelbrauner Qualm steigt in einer pulsierenden Schlange vor ihm in den wolkenlosen Himmel. Swensen kann sich wieder an die Müllverbrennungsanlage erinnern, als er seinen rechten Blinker einschaltet. Abfahrt Volkspark, das ist richtig. Er wechselt mit seinem Wagen von der Autobahn auf die Abbiegerspur, um in der folgenden Kurve mit dem Motor abzubremsen. Im Vorbeifahren sieht er ein riesiges Wandgemälde an dem grauen Betonkasten. Eine Müllkralle hält die Weltkugel in ihren Fängen. Daneben prangt die Schrift: Wir lassen sie nicht fallen.

Das ist doch wirklich der Zynismus pur, schießt es ihm durch den Kopf, während er beim Abbremsen sachte gegensteuert. Die Ampel steht auf Rot.

Ja, der Verstand wertet eben alles was er sieht, sagt im selben Moment seine buddhistische Überzeugung und gleichzeitig hält eine Stimme in guter alter 68er Manier dagegen, aber so ist das eben. Was ist denn eine Müllverbrennungsanlage? Sie versucht, Müll zu beseitigen und verteilt ihn dabei nur in der Luft. Der Müll hat sich zwar in Luft aufgelöst, ist aber immer noch da! Der Buddhist bleibt gelassen. Der Müll wandelt wie alle Materie nur seine Form! So funktioniert sie eben, die ewige Verkettung von Ursache und Bedingung. Ursachen ziehen Folgen nach sich und der Mensch steckt da mitten drin. Er hat sich in der Tat für diese Müllverbrennung entschieden und Taten bringen nicht nur Glück, sondern auch Leid hervor, Herr Hauptkommissar.

In Hamburg kennt er sich aus wie in seiner Westentasche, obwohl seine Dienstzeit bereits sieben Jahre zurückliegt. Jetzt links, dann immer geradeaus bis zur Kreuzung Bornkampsweg, dann links in die Stresemannstraße und an der liegt schon die Polizeidirektion Hamburg West. Kaum ist er allerdings einige 100 Meter stadteinwärts gefahren, ist wieder Schluss. Nichts geht mehr. Stau.

Swensen lehnt sich zurück und beginnt, wie immer in so einer Lage, sofort mit einer Atemübung. Er lässt die Luft konzentriert ein und aus fließen. Das Klingeln seines Handys beendet die Entspannung, bevor sie noch richtig begonnen hat. Da sich auf der Straße sowieso nichts bewegt, drückt er auf Empfang.

»Swensen!«

»Sind Sie es, Herr Swensen? Ich kann Sie schlecht verstehen!« Susan Biehls Klostergesang klingt wie ein Anruf aus dem Vatikan.

»Ja, ich bin’s! Ich versteh’ Sie gut! Können Sie mich hören?«

Swensen dreht sich um 180 Grad und schmunzelt über die immer absurdere Kommunikation.

»Gerade so. Aber es geht! Wo sind Sie denn bloß?«

»Ich bin in Hamburg. Hollmann hat mich gestern Abend noch angerufen. Er war sich ziemlich sicher, dass dieser Fotograf, der uns die Bilder der Leiche geschickt hat, aus Hamburg kommt. Da hab ich mich heute Morgen gleich auf die Socken gemacht, zumal meine alte Abteilung hier mir Hilfe zugesagt hat. Und was ist bei euch los?«

»Wichtige Neuigkeiten! Frau Haman hat den alten Freund der Herbst ausfindig gemacht und ist zur Vernehmung hin. Und Herr Mielke ist im Hafen. Ein Krabbenkutter hat eine Leiche rausgezogen.«

»Eine Frauenleiche?«

»Ja.«

»Mensch Susan, nun lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen! Ist es Edda Herbst?«

»Weiß man noch nicht. Herr Mielke ist gerade erst los. Der Chef hat Staatsanwalt Doktor Rebinger benachrichtigt und will um 17.30 Uhr eine Pressekonferenz abhalten. Er wünscht, dass Sie dabei sind.«

»I do my very best! Ich beeil’ mich! Bis dann!«

»Bis dann!«

Die Autos stehen weiterhin wie festgeschraubt. Swensen lehnt sich zurück, entspannt sich und besinnt sich auf seine Atemübung.

»Ich atme ein und fühle mich ruhig. Ich atme aus und fühle mich friedlich, und ruhig – friedlich, ruhig – friedlich.«

Polizeidirektion West. Eineinhalb Stunden für fünf Kilometer, eine reife Leistung, denkt Swensen, als er mit gemischten Gefühlen die Eingangstreppe zur Mordkommission hinaufsteigt. Bis auf einen Satz neuester Computer scheint hier die Zeit stehen geblieben zu sein.

Heinrich Karlsen steuert mit dem bekannten federnden Gang direkt auf ihn zu und drückt ihm gelangweilt die Hand.

»Swensen, lange nicht gesehen! Wie geht’s?«

Sein alter Chef scheint, bis auf ein paar Falten, null gealtert. Sein durchtrainierter Körper und sein kantiges Gesicht mit der leicht geknickten Nase gaben ihm schon immer das Aussehen eines Preisboxers.

»Sehr gut, Heinrich. Was macht Hauptkommissar Begier?«

»Der Karl, der ist seit zwei Jahren in Rente, mein Lieber!«

»Oh, war er denn schon so alt?«

Karlsen ignoriert die Frage, packt Swensen unsanft am Arm und zieht ihn in Richtung eines Schreibtischs in der äußersten Ecke des Bürogroßraums.

»Ich stell’ dir Murat Hassanzadeh zur Seite. Übrigens, du weißt, dass dein Wunsch nach eigener Ermittlung von uns nicht gern gesehen wird. Warum schickt ihr uns nicht die Akte zu, wir erledigen den Job und schicken euch die Akte zurück?«

»Genau aus dem Grund, wegen der Schickerei! Wir haben heute eine Leiche aus der Nordsee gezogen und heute Abend ist Pressekonferenz. Wäre gut, wenn ich dann ein paar Neuigkeiten hätte.«

»Ich dachte, nur wir in Hamburg kennen Stress!«, witzelt Karlsen und tritt an den Schreibtisch eines mittelgroßen Mannes im adretten Anzug mit knallbunter Seidenkrawatte. Er hat dunkelbraune Augen, kurze schwarze Haare und einen penibel gepflegten Schnurrbart. Mitte 30 schätzt Swensen und tippt auf einen gebürtigen Iraner, Iraker oder Ägypter.

»Das ist Murat Hassanzadeh. Murats Eltern sind damals während des Schahregimes nach Deutschland immigriert. Und das ist Jan Swensen aus Husum. Du weißt schon Murat, die Sache mit dem Fotografen.«

Karlsen klopft mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte und verschwindet. Die beiden Männer geben sich die Hand.

»Ich hab schon nachgeforscht. Sylvester von Wiggenheim wohnt in der vornehmsten Gegend von Blankenese, an der Elbchaussee.«

Swensen ist amüsiert über das perfekte Deutsch mit deutlichem Hamburger Akzent. Murat Hassanzadeh registriert das, fährt jedoch unbeirrt mit seinen Ausführungen fort.

»Eigentlich gehört Blankenese nicht zu unserem Ermittlungsgebiet, aber ich habe schon mit dem Chef dort gesprochen. Sie drücken beide Augen zu.«

Die weiße Villa der Wiggenheims gleicht mit ihrem Säulenvorbau einer etwas gewollten Nachbildung des Weißen Hauses in Washington. Im Schatten dieses Anwesens merken Swensen und Hassanzadeh, wie sie auf das Format von zwei lästigen Schnüfflern zusammenschrumpfen, was durch den Gesichtsausdruck des Hausmädchens noch bestätigt wird, als sie sich als Kripobeamte vorstellen.

»Bitte warten Sie hier, meine Herren. Ich werde Frau von Wiggenheim benachrichtigen.«

Hassanzadeh schielt den davoneilenden Beinen hinterher, während Swensen entzückt den flachen, rechteckigen Holzkopf an der Wand betrachtet. Über dem waagerechten Mund glotzen zwei eng stehende Löcher als Augen. Aus der Stirn ragt ein langschnäbliger Vogelkopf.

Wahrscheinlich eine afrikanische Schamanenmaske, denkt Swensen beeindruckt. Während die Beine, diesmal von vorn, wieder in Hassanzadehs Blickfeld schreiten, fragt er sich, welcher exklusive Innenausstatter wohl diese Ritualskulptur zweckentfremdet an diese Wand verbannt hat.

»Meine Herren, würden Sie mir bitte folgen!«

Die Dame des Hauses sitzt in einem engen rosa Kostüm auf einem grauen Kanapee und bittet Swensen und Hassanzadeh mit einer Handbewegung Platz zu nehmen.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Wir hätten gerne Sylvester von Wiggenheim gesprochen?«

»Mein Mann ist in seinem Atelier. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Nein, Frau Wiggenheim! Wir müssen schon …«

»Von Wiggenheim, bitte!«

»Frau von Wiggenheim, wir müssen Ihren Mann schon persönlich sprechen.«

»Fräulein Else, bringen Sie die Herren bitte zur Tür und geben Sie ihnen die Adresse vom Atelier meines Mannes. Auf Wiedersehen, meine Herren!«

Swensen bemerkt den wütenden Ausdruck auf Murat Hassanzadehs Gesicht und stoppt ihn mit einem beruhigenden Augenkontakt. Dann beugt er kurz seinen Kopf in Richtung der Dame des Hauses.

»Moin, Moin, Frau von Wiggenheim«, verabschiedet er sich demonstrativ.

Ein vernichtender Blick verfolgt die Beamten.

*

Ein pfeifendes Geräusch erfüllt den abgedunkelten Raum. Es kommt vom Rotor einer großen Windanlage. Weißer Nebel quillt aus einem Behälter mit Flüssigeis und wabert knöchelhoch über den Boden. Mehrere Scheinwerfer färben die filigranen Wirbel goldgelb. Aus einem Lautsprecher hämmert Trommelmusik. Mittendrin verändert eine blutjunge Frau mit ruckartigen Bewegungen unentwegt ihre Körperhaltung. Sie trägt eine weinrote, rundausgeschnittene Samtbluse und einen schwarzen Superminirock. Der makellose Körper wirkt auf Swensen wie eine Fata Morgana. Neben der Frau hält ein Afghane seine Schnauze stoisch in Richtung Windanlage. Sein langes Fell flattert im künstlichen Luftstrom. Davor fuchtelt ein Mann mit dem linken Arm besessen in der Luft herum, während seine rechte Hand ununterbrochen den Auslöser einer Kamera betätigt. Dazu stößt er unverständliche archaische Laute aus, die sich ab und zu in grunzende Wortbrocken verwandeln.

»Yeah, woman, look at me! Yeah! Look here! Yeah!«

Swensen und Hassanzadeh, dessen Blick sich nach dem Eintreten sofort an die ellenlangen Gazellenbeine des Modells geheftet hat, stehen etwas abseits im Raum. Ein Mann mit feminin tänzelndem Gang hatte sie hierher geführt und ihnen zugeflüstert, hier bitte so lange mucksmäuschenstill zu warten, bis der Meister, wie er es ausdrückte, seinen kreativen Schub hinter sich gebracht hätte. Swensen starrt beeindruckt auf das surrealistische Schauspiel vor sich. Er fühlt sich wie ein Auserwählter, der exklusiv in den Kulissen stehen darf und hautnah dem Trubel einer Inszenierung zusehen kann.

Irgendwie hat der Job eines Kripobeamten etwas für sich, denkt er. In welchem Beruf bekommt man schon einen Einblick in alles, was unsere Welt so antreibt? Und immer, wenn Swensen sich im Sinnieren verloren hat, lösen sich über kurz oder lang alle Grenzen um ihn herum auf. Es ist wie ein Blick hinter die Wirklichkeit. Das ins Licht getauchte Modell und ihr dunkler Gegenpart verschwimmen zu einem pulsierenden Organismus. Jede Zelle wirkt in ihrer Tätigkeit mit jeder anderen Zelle zusammen, als wenn sich all ihre Bemühungen nur so im Gleichgewicht halten können.

Ja, genauso ist es! Jede meiner Handlungen, jede Aktion, jeder Gedanke, jedes Wort, schießt es ihm wie eine plötzliche Erkenntnis durch den Kopf, hat nicht allein Auswirkungen auf mich persönlich, sondern hält auch das gesamte Zusammenspiel im Gange.

Da stoppt abrupt die wilde Aktion auf der Bühne vor ihm. Sylvester von Wiggenheim schnippt mit den Fingern und einer der Gehilfen stürmt zu ihm hin, nimmt die benutzte Kamera entgegen und drückt ihm eine neue in die Hand. Der große, massive Mann mit dem sauber geschnittenen Dreitagebart bleibt bewegungslos stehen und legt zwei Finger auf seine geschlossenen Augenlider, als sei er jäh in Trance gefallen. Sein schlichter Rollkragenpullover und die Bügelfaltenhose im gleichen Dunkelgrau sehen ziemlich teuer aus. Swensen merkt, dass er das Alter des Fotografen schlecht einschätzen kann. Irgendwo zwischen Mitte 30 und Mitte 40.

Genauso unerwartet, wie die Stille eingetreten war, kommt mit einem Mal wieder Leben in die Szenerie.

»Fucking Bullshit! My inspiration is past!«, schimpft Sylvester von Wiggenheim los, zieht eine Filmschachtel aus der Hosentasche und wirft sie quer durch den Raum. Das Team um ihn herum weicht aufgeschreckt zurück.

»Stop, we stop now! Intermission!!«

Während Swensen und Hassanzadeh entschlossen auf ihn zugehen, fragt Swensen sich, wer sich nun eigentlich mehr in Szene setzt, Modell oder Fotograf.

»Who are you?«

»Sorry, Mister von Wiggenheim! My name is Jan Swensen, criminal investigation department Husum and this is Murat Hassanzadeh from Hamburg!«

Sylvester von Wiggenheim starrt die beiden Männer so entgeistert an, als hätte Luzifer sich mit einem Betriebsausflug in seine Räume verirrt.

»Kriminalpolizei?«

»Oh, Sie sprechen auch Deutsch?«, lächelt Swensen.

»Was soll das? Natürlich spreche ich Deutsch!«

 

»Wir ermitteln im Fall Edda Herbst und haben ein paar Fragen.«

»Ich kenne keine Edda Herbst.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Waren Sie zwischen dem 14. und dem 18. November zufällig in Sankt Peter-Ording?«

Swensen registriert ein kurzes Zögern bei von Wiggenheim.

»Was soll ich in Sankt Peter-Ording?«

»Nun, zum Beispiel Fotos im Watt machen!«

»Im Watt? Was soll ich im Watt fotografieren?«

»Vielleicht eine dort herumliegende Leiche!«

»Ich verstehe nicht!«, antwortet von Wiggenheim barsch. »Wie kommen Sie auf mich?«

»Nun, durch eine bestimmte leichte Schräge in einer Totalen vom Westerhever Leuchtturm. Eine leichte Schräge ist doch ihr künstlerisches Markenzeichen, oder irre ich mich?«

»Ich glaube, da werde ich mit jemand verwechselt. Sie sehen, ich bin beschäftigt. So eine Performance hier kostet mich über 1.000 DM die Stunde. Also, würden sie mich jetzt entschuldigen?«

Auf Murat Hassanzadehs Gesicht bilden sich Zornfalten. Swensen tritt etwas zur Seite und überlässt mit einem Augenzwinkern seinem Kollegen das Feld. Gespannt lauert er auf eine neue Variante in der Verhörtechnik, die sein Großstadtkollege ihm präsentieren könnte, um dann enttäuscht feststellen zu müssen, dass er nur wieder die alte Leier vom bösen Bullen kultiviert.

»Herr von Wiggenheim, wir verdienen zwar keine 1.000 DM die Stunde, aber unsere Zeit haben wir auch nicht gestohlen. Hören Sie also genau zu, ich sage das jetzt nur einmal. Sie haben genau zwei Möglichkeiten. Erstens, Sie sagen uns sofort die Wahrheit, oder wir brechen Ihre Arbeit hier ab und Sie begleiten uns augenblicklich zur Befragung mit aufs Revier. Dann besorgen wir einen Durchsuchungsbefehl und stellen nebenbei Ihre Bude so auf den Kopf, dass Sie hier anschließend nichts mehr wieder finden.«

Swensen bläst die Backen auf und lässt unüberhörbar Luft entweichen. Von Wiggenheim steht unentschlossen vor ihnen.

»Welche der Möglichkeiten ist Ihnen lieber, Herr von Wiggenheim?«, zischt Hassanzadeh hinterher.

»Ihr Benehmen wird Konsequenten haben, meine Herren!«, antwortet Wiggenheim in einem scharfen Ton. Hassanzadeh tritt übergreifend nah neben ihn und führt seinen Mund dicht an sein Ohr.

»Glauben Sie mir, das mit dem Beschweren haben schon ganz andere versucht. Ich garantiere Ihnen, es klappt nicht. Denken Sie lieber an die vielen 1.000 DM, die Ihnen durch diese sture Haltung verloren gehen.«

Auf Wiggenheims Stirn bilden sich kleine Schweißperlen. Dann dreht er sich ruckartig um die eigene Achse und eilt auf eine Tür zu.

»Bitte folgen Sie mir!«, ruft er von dort, winkt die beiden Kriminalisten in einen Nebenraum und schließt die Tür.

»Ich möchte, dass meine Aussage unbedingt vertraulich behandelt wird, auch meine Frau darf vom Inhalt unseres Gesprächs nichts erfahren.«

»Ihre Frau?« Swensen spielt den Erstaunten.

»Wird alles vertraulich behandelt, oder nicht?«

»Natürlich.«

»Also gut! Ich war am 16. November in Sankt Peter-Ording. Ich habe die Leiche im Watt entdeckt, die Fotos gemacht und sie dann an die Kripo Husum geschickt. Ich wollte da einfach nicht mit reingezogen werden.«

»Nicht reingezogen werden?« Swensen setzt eine nachdenkliche Miene auf. »Ich verstehe nicht ganz, Herr von Wiggenheim. Sie haben eine Leiche gefunden und das nicht sofort den Behörden gemeldet? Da besteht aber schon Erklärungsbedarf.«

»Meine Frau weiß nichts von meinem Aufenthalt in Sankt Peter-Ording.«

»Ja, und? Dann erfährt sie das eben jetzt.«

»Sie haben mir volle Vertraulichkeit zugesichert.«

»Was ist daran so überaus vertraulich, Herr von Wiggen­heim?«

Von Wiggenheims Blut weicht aus seinem Gesicht. Seine Augen treten hervor und die Stimme scheint mit einem Mal belegt zu sein.

»Ich hab mich mit einer Geliebten in Sankt Peter getroffen.«

»Wie rührend!«, zischt Hassanzadeh. Swensen bringt seinen Kollegen mit einem unmissverständlichen Blick zum Schweigen.

»Ich hätte jetzt gern die ganze Wahrheit.«

»Das ist die ganze Wahrheit. Ich war mit meiner Geliebten in Sankt Peter. Am 16. bin ich allein zum Fotografieren ins Watt raus. Dort hab ich die Leiche gefunden, die Fotos gemacht und sie Ihnen geschickt. Was hätte ich denn machen sollen? Ich bin da ohne mein Zutun in eine ziemlich missliche Lage hineingeraten. Wenn ich gleich zur Polizei gegangen wäre, hätte meine Frau mit Sicherheit von meinen Verhältnis erfahren. Das musste ja nicht sein.«

»Und Ihre Geliebte, haben Sie ihr etwas davon gesagt?«

»Natürlich nicht!«

»Gibt es sonst noch etwas, was wir nicht wissen?«

»Nein!«, sagt von Wiggenheim schroff.

»Waren das alle Bilder, die wir bekommen haben?«

»Nein! Ich hab die Besten ausgewählt. In meinem Layoutschrank liegen noch einige.«

»Worauf warten Sie? Die Bilder bitte!«

Von Wiggenheim öffnet eine Schublade, nimmt einige Fotos heraus und legt sie auf einen Arbeitstisch.

Schon auf den ersten Blick erkennt Swensen, dass seine persönliche Anreise sich gelohnt hat. Da liegen Fotos, auf denen deutliche Reifenabdrücke im Sand zu erkennen sind.

Geländewagen, denkt Swensen und fragt: »Warum haben Sie uns diese Aufnahmen denn nicht mitgeschickt?«

»Ehrlich gesagt, der Briefumschlag war einfach zu schmal. Ich hätte die da sonst so richtig reinquälen müssen. Ich hab die Besten ausgewählt.«

»Diese Beurteilung sollten Sie lieber uns überlassen!« knurrt Hassanzadeh, und im Wort Sie klingt ein drohender Unterton mit. Swensens Worte wirken dagegen eher loyal.

»Herr von Wiggenheim, ich hätte gerne sämtliche Negative, die Sie in Sankt Peter-Ording gemacht haben. Und hinterher verraten Sie mir noch den Namen und die Adresse Ihrer Geliebten.«

»Muss das sein?«

»Ja, das muss sein.«

*

Die kalten Neonleuchten werden von den Fliesenwänden in hunderten von grellen Lichtpunkten widergespiegelt. Die beiden Gerichtsmediziner, Doktor Helmut Markgraf und Doktor Jürgen Riemschneider, binden ihre grünen Schutzkittel zu und streifen sich Mundschutz und Latexhandschuhe über. Sie sind am Nachmittag, mit dem Auftrag eine Wasserleiche in Husum zu obduzieren, aus Kiel angereist. Auf dem Sektionstisch aus blankem Edelstahl liegt ein Frauenkörper. Der penetrante Geruch von Fäulnisgas liegt in der Luft, doch der hochgewachsene Markgraf nimmt ihn, wie immer nach einer gewissen Zeit, nicht mehr wahr. Ein Gerichtsmediziner entwickelt bei seiner Tätigkeit auf die Dauer eine gesunde Immunität gegen alles Verweste, Verbrannte und Blutige. Wegen seiner schlaksigen Körpermotorik hat sich Markgraf von seinen Kollegen den Spitznamen Pinocchio eingehandelt. Doch im selben Moment, in dem er das Skalpell ansetzt, widerlegt er diesen Anschein sofort. Mit ruhiger Hand schneidet er ein sauberes Y in die bleiche Haut, ungefähr fünf Zentimeter vom Halsansatz entfernt bis hinunter zum Nabel.

Weich wie Marzipan, denkt Markgraf und setzt zwei weitere Schnitte vom Nabel jeweils zum linken und rechten Hüftansatz. Danach faltet er die Hautlappen auseinander. Das Innere des Rumpfs wird freigelegt. Markgraf schaltet die elektrische Knochensäge ein. Das runde Sägeblatt beginnt mit einem sirrenden Geräusch zu rotieren. Der Gerichtsmediziner setzt es am Brustbein an und lässt es von oben nach unten durch die Knochen fräsen. Das kreischende Geräusch erwischt Swensen, als er den Raum betritt. Er merkt, wie sich seine Nackenhaare aufstellen und bleibt erst mal in der Tür stehen, um noch einmal tief durchzuatmen. Das Ekelgefühl hat sich aber bereits im Magen festgekrallt.

Wer ein Leben voller Weisheit führt, muss auch den Tod nicht fürchten.

Ein Satz, der ihm verblüffender Weise jedes Mal in den Kopf kommt, wenn ihn seine Arbeit in eine Pathologie führt. Glücklicherweise kommt das, seit er seinen Dienst in Husum angetreten hat, wesentlich seltener vor als zu seiner Zeit in Hamburg. Auf der anderen Seite hatte ihn der Aufenthalt in diesen Räumen auch immer wieder fasziniert. Da war jedes Mal so ein zwingendes und unausweichliches Gefühl, das ihn am Anfang völlig verunsicherte. Erst viel später erkannte er, dass der Schrecken des Todes seine eigene Todesangst mobilisierte, eine Angst, die offensichtlich in uns allen steckt und immer erst dann ins Bewusstsein tritt, wenn der Tod zum Greifen nah vor einem liegt.