Hätschelkind

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Also, los! Angriff war noch immer die beste Verteidigung!

Er nimmt sein Handy und wählt die Nummer der Husumer Kriminalpolizei.

*

Kurz hinter der Post kommt erst der Bertelsmann Bücherklub und dann der Fotoladen Adolf Dallmann. Im Vorbeigehen bleibt Swensens Blick am Schaufenster hängen. Die großen gerahmten Hochzeitsbilder waren noch in wärmeren Zeiten entstanden, wahrscheinlich im hiesigen Schlosspark. Swensen muss unwillkürlich grinsen. Auf dem Farbfoto unten rechts hat die Braut sich in ihrem weißen Samt ausladend ins Gras gehockt und der Bräutigam steht in Siegerpose hinter ihr wie ein Großwildjäger, der mit seiner erlegten Trophäe abgelichtet wird.

Das Bild macht ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Er merkt, dass seine Abneigung gegen das Heiraten und die Ehe für ihn immer noch ein Thema zu sein scheint. Frauen in Brautkleidern haben für ihn etwas zutiefst bürgerliches, etwas, wovon er sich sein Leben lang beharrlich abgrenzen wollte. Doch das Hochzeitsfoto, das ahnt er, ist nicht der Auslöser für sein mulmiges Gefühl. Es erinnert ihn nur an den gestrigen Abend, an dem Anna seine Hand nahm, ihn mit großen Augen ansah und fragte, ob er sich vorstellen könne, mit in ihr Haus einzuziehen. Er hatte die Hand fast reflexartig zurückgezogen. Die Frage kam ihm vor wie ein Skalpell, das brutal in seinen gewohnten Alltag eindringen wollte, in seinen morgendlichen Blick aus dem Fenster, in seinen plötzlichen Drang, ein Saxofonsolo von Branford Marsalis zu hören, in seinen meditativen Zustand von innerer Leere.

Es geht um meine Freiheit, hatte er gedacht und gleichzeitig flüsterte ihm die Stimme seines Meisters zu: Alles, was du festhältst, wird dein Leben verwirren. Und da war es, das kleine Ich, das Ich des Jan Swensen. Es rebellierte, bäumte sich auf. Er saß da, verwirrt und unfähig, auf Anna einzugehen. Sie fing an zu weinen. Auch seine beruhigenden Worte halfen nichts mehr, ihr Gesicht versteinerte.

»Typisch männliche Angst vor Nähe!«, sagte sie mit harter Stimme und schmiss ihn raus.

Swensen öffnet die Ladentür und tritt an den Tresen.

»Moin, Moin, ich hab eine Frage. Kann man bei Ihnen noch Schwarz-Weiß-Fotos machen lassen?«

Er grinst die junge Brünette an und merkt sofort, dass seine Frage nicht gerade präzise ausgefallen ist.

»Natürlich! Was brauchen Sie? Passbilder oder soll es ein Porträt sein?«

»Keins von beiden. ’Schuldigung, Jan Swensen von der Kripo Husum. Ich möchte nur wissen, ob jemand in Ihrem Laden vor circa ein oder zwei Wochen Schwarz-Weiß-Abzüge in Auftrag gegeben hat.«

»Die Leute machen heutzutage nur Farbbilder. Ich kann mich nicht erinnern, dass hier jemals einer Schwarz-Weiß-Abzüge haben wollte.«

»Gilt das nur für sie oder gibt es noch andere Verkäuferinnen?«

»Ich kann kurz den Chef rufen, der muss das auf alle Fälle wissen. Herr Dallmann, kommen Sie bitte!«

Ein kleiner glatzköpfiger Kopf taucht hinter einem Vorhang auf.

»Ich hab ihre Frage hier hinten schon mitgehört. Schwarz-Weiß-Abzüge macht in Husum keiner mehr.«

»Danke, das war’s schon.«

Als Swensen gerade den Laden verlässt, macht sich sein Handy bemerkbar. Er drückt sich an eine Hauswand und hält sich mit der linken Hand das Ohr zu. Diese verbogene Körperhaltung kommt ihm bei anderen immer albern vor.

Der Mensch in der Digitalen, denkt er und meldet sich gleichzeitig. »Hier Swensen!«

»Mielke! Halt dich fest, Jan. Ich hab gerade mit einem gewissen Hajo Peters gesprochen. Der hat das Bild von unserer Frau in der Husumer Rundschau gesehen, und sie erkannt. Es soll eine Mitarbeiterin von ihm sein, mit Namen Edda Herbst. Sie wohnt in der Deichstraße 22.«

»Schick’ sofort das gesamte Team raus!«

»Ist schon veranlasst! Der Typ führt eine Videothek in der Süderstraße, und ist da jetzt auch zu erreichen.«

»Okay! Ich bin in der Nähe. Ich geh’ sofort mal rüber und sprech’ mit ihm und komm danach gleich in die Deichstraße. Bis dann!«

Swensen drückt die Taste mit dem roten Hörer und nimmt wieder Normalhaltung an. Er überlegt einen Moment und geht dann noch mal zurück in den Fotoladen.

»Ich sehe gerade im Fenster, Sie verkaufen auch Handys. Ist es möglich, die Melodie gegen ein normales Klingeln auszutauschen?«

»Klar! Sie gehen einfach ins Menü, und dann …!«

»Menü?«, unterbricht Swensen.

»Geben Sie mal her!«

Die Brünette nimmt ihm das Handy aus der Hand. Ihr rechter Zeigefinger drückt in einem rasanten Tempo auf unzählige Knöpfe. Es piept ein paar Mal und Swensen hat sein Gerät wieder. Er lächelt verlegen.

»Dankeschön!«

*

Von der Süderstraße bis zur Deichstraße sind es circa 15 Minuten zu Fuß. Auf dem Weg dorthin holt Swensen sich im Fischhaus Loof ein Krabbenbrötchen, die Besten in Husum, sagt man. Er sieht sich zwar als Vegetarier, aber bei Krabben drückt er öfter beide Augen zu. Weil mal wieder eine Touristenschar alle Tische belegt hat, lehnt er sich vor dem Laden an die Hauswand. Hier ist es windstill. Die Sonne wärmt sogar ein wenig. Gegenüber steht das neue Fischrestaurant, das direkt neben das Hafenbecken gesetzt wurde. Der futuristische Glaskasten stört sein ästhetisches Empfinden. Für ihn ist diese gewollt moderne Architektur eher hässlich und banal. Vor der Eingangstür kämpft eine kleine Gruppe Frauen und Kinder mit einem Schwarm Möwen. Eine große Lachmöwe versucht, das Fischbrötchen eines kleinen Mädchens im Sturzflug zu erbeuten. Der mächtige signalgelbe Schnabel verfehlt den Leckerbissen nur knapp. Das Kind lässt das Brötchen erschreckt zu Boden fallen und brüllt. Sofort balgt sich die restliche Vogelhorde mit wilden Flügelschlägen darum. Die Lachmöwe kreist im großen Bogen über der Straße und landet unmittelbar neben Swensen auf einer Plastikmülltonne. Er wirft ihr von seinem letzten Happen eine Krabbe hinüber, die sie geschickt auffängt. Schmunzelnd steckt er sich den Rest in den Mund, wischt sich mit der Serviette die Finger und den Mund ab und wirft das zusammengeknüllte Papier in die Mülltonne, nachdem er die Möwe vom Deckel hochgescheucht hat.

Als er nach circa 30 Metern in die Deichstraße einbiegt, sieht er schon zwei Streifenwagen und Mielkes Twingo auf dem Parkplatz vor der Gepäckannahme stehen. Der leere Ziegelbau auf dem Gelände des stillgelegten Güterbahnhofs liegt genau gegenüber von Haus 22, ebenfalls ein Ziegelbau und mindestens genauso heruntergekommen. Die neu eingesetzte Aluminiumtür gibt der schäbigen Fassade den Rest. Der Bürgersteig ist auf der gesamten Länge des Hauses und dem angrenzenden Holztor daneben mit rot-weißem Plastikband abgesperrt.

Swensen grüßt den uniformierten Beamten, von dem ihm bloß der Vorname Bernd einfällt. Der tippt ohne Worte an seine Schirmmütze und lässt ihn passieren. Der Teppichboden im Flur ist so abgetreten, dass man die dunkelblaue Farbe nur noch am Rand erkennen kann. Der Flur führt direkt in die Stube. Ein mittelgroßer Raum, mit dem üblichen Mobiliar, Schrankwand, Tisch, Sessel, Sofa, Fernseher. Zwei Personen in weißen Plastikoveralls, Latexhandschuhen und Fußschützern sind auf Spurensuche. Einer kriecht mit einer Lupe über den dunkelblauen Teppichboden. Der andere, der neben dem Sofa kniend die Nase schnaubt, ist Peter Hollmann. Swensen erkennt ihn an seiner rundlichen Gestalt und dem buschigen Schnauzer, der unter der stramm geschnürten Kapuze hervorlugt. Im Raum nebenan, der Küche, unterhält sich Stephan Mielke angeregt mit Paul Richter, einem breitschultrigen Streifenpolizisten.

»Hey, Stephan! Ich denke, Peter hat die Grippe?«, platzt Swensen mitten in ihr Gespräch.

»Ich hab ihn angerufen. Wollte nur schnell wissen, was zu tun ist. Er ist immerhin unser bester Kriminaltechniker.«

»Ja, ja, wenn man Peter Hollmann um Rat fragt, ist der immer sofort wieder gesund.«

»Meinst du es war falsch, ihn anzurufen?« Mielke sieht Swensen mit fragenden Augen an.

»Zweifel ist nur eine Kette von Worten in deinem Geist!«

»Was?«

»Das war ein Scherz, Stephan! Vergiss es einfach. Wo kann ich Handschuhe bekommen?«

Mielke zieht ein Paar aus der Manteltasche und reicht sie Swensen, der diese geräuschvoll über die Hände zieht.

»Was ist mit dem Videobesitzer?«

»Nichts, was uns großartig weiterhelfen könnte«, antwortet Swensen knapp, um endlosen Spekulationen vorzubeugen. »Und hier? Habt ihr schon was gefunden?«

Der Kommissar hat nebenbei damit begonnen, sämtliche Schranktüren in der Küche zu öffnen und wieder zu schließen.

»Bis jetzt nichts!«, antwortet Mielke. »In der ganzen Wohnung gibt es offensichtlich keinen Hinweis auf irgendeine Gewalttat. Die Kollegen fragen im Moment in der Nachbarschaft herum, ob jemand was gesehen oder gehört hat.«

»Gut«, bestätigt Swensen. »Wir sollten uns nachher in der Inspektion noch mal kurz zusammensetzen und die Ergebnisse durchgehen.«

Er beginnt, Schubladen zu öffnen und wieder zu schließen. In Mielkes Mimik zeichnet sich eine gewisse Gereiztheit ab.

»Was machst du da eigentlich?«

»Ich suche nach einem Zugang zu Eddas Universum! Ermitteln ist so etwas wie das Begreifen gegenseitiger Abhängigkeiten, die zwischen einem Ganzen und seinen Teilen besteht. Ohne Teile kein Ganzes und ohne Ganzes machen auch unsere Mutmaßungen über die Teile keinen Sinn.«

Mielke murmelt etwas, tippt Paul Richter an und beide suchen überstürzt das Weite. Swensen kennt diese Reaktionen von seinen Kollegen.

Es ist zwar fast schon gar nicht mehr wahr, denkt er, aber die Praxis der Mahayana-Schule hat mich offensichtlich doch mehr verändert, als mir manchmal klar ist. Immer bei solchen Reaktionen steht ihm seine Zeit im buddhistischen Zentrum plastisch vor Augen. Wenn ich richtig drüber nachdenke, hat der Meister uns seine Worte förmlich ins Gedächtnis eingeknetet, auf ewig abrufbar.

 

An die kleine, hutzlige Gestalt, das menschliche Lächeln unter den buschigen Augenbrauen und an das schleifende Geräusch, das seine orangefarbene Leinenrobe auf dem Steinfußboden erzeugte, erinnert er sich, als wäre es gestern gewesen.

»Es ist wichtig zu erkennen, wie Dinge und Ereignisse entstehen«, sagte Lama Rhinto Rinpoche fast immer, wenn er vor der Gruppe mit seiner wöchentlichen Belehrung begann. »Alle Dinge und Ereignisse stehen in Abhängigkeit von Ursache und Wirkung. Und was bedeutet das für uns? Es bedeutet die Erkenntnis, dass kein Ding oder Ereignis von uns so gedacht werden kann, dass es aus sich selbst eine Existenz gewinnt.«

Swensen hatte sich, das weiß er heute genau, jedes der Worte zu Eigen gemacht. Allerdings brauchte es Jahre, bis er sie auch ab und zu in seinen beruflichen Alltag einbauen konnte. Wie gerade jetzt, wo er eine imaginäre Fährte spürt, die aber nur als eine feine Ahnung existiert. Es ist klar, die Dinge in diesem Raum haben sich aus unzähligen Ursachen und vorausgegangenen Bedingungen so angeordnet, wie sie jetzt vor ihm liegen. Doch was sagt das schon? Achtsam sein! Wenn er sie ansieht, wenn er versucht, sie aus seiner verengten Sicht zu beurteilen, kann er damit die Wirklichkeit ihrer Existenz verändern. Und wenn er etwas bewertet und dabei nicht höllisch aufpasst, kann er falsche Schlüsse ziehen.

Der Kriminalist zieht die Schublade unter dem Spülbecken auf. Das war es, was er die ganze Zeit gesucht hatte, dieser unauffällige Ort, wo beim modernen Menschen zumindest der Instinkt des Sammlers überlebt hat. Da liegt neben der Packung Gallseife ein Päckchen Gummibänder, ein rotes Plastikherz gefüllt mit einer Sammlung rostiger Schlüssel, eine Rolle Band, Toppitz Alufolie, eine Schere, ein Stoß Taschentücher, Reklame diverser Pizzaschnelldienste, ein Heftchen mit dem Titel Ätherische Öle und ein zusammengefaltetes gelbes Flugblatt. Swensen klappt es auf und liest: Das Geld liegt nicht nur auf der Straße! Es kann auch bei Ihnen im Keller oder auf dem Boden liegen. Alte Bücher, handschriftliche Tagebücher, Figuren und Möbel. Wir kaufen alles für einen guten Preis! Schauen Sie nach und rufen Sie uns an. Wohnungsauflösungen, Nachlässe, wir zahlen bar! Ihr Ex-und-hopp-Service Ludwig Reifenbaum. Tel. 0172426685.

Swensen überlegt angestrengt.

Warum hat Edda den Zettel aufgehoben, rätselt er. Sie muss sich davon doch etwas versprochen haben. Brauchte sie Geld? Hatte sie irgendwelche wertvollen Sachen, vielleicht Antiquitäten?

Er steckt den Zettel in eine der mit Nummern versehenen Cellophantüten, die Mielke auf dem Küchentisch liegen gelassen hat.

Und wie hilft uns das jetzt, sinniert er weiter und wiegt seinen Fund in der Hand, als Peter Hollmann mit Mielke im Schlepptau eintritt.

»Dieses Fotoalbum habe ich gerade in der Schrankschublade gefunden«, erklärt Hollmann und legt einen grünen Kunstlederband auf den Küchentisch. Über das Gesicht, das unter der Plastikkapuze hervorlugt, läuft der Schweiß.

»Hinten liegen diese losen Passbilder drin.«

Er drückt Swensen drei Fotos in die Hand und ist schon wieder verschwunden. Der stutzt und reicht sie an Mielke weiter.

»So sieht also Edda Herbst wirklich aus. Merkwürdig, nicht?«

»Wieso?«

»Na ja, guck dir das Bild doch mal genau an. Sieht unserem Computerbild nicht gerade besonders ähnlich, oder?«

»Na und?«

»Ich finde das schon eine Leistung von dem Peters, dass er sie auf unserem Bild erkannt hat.«

»Findest du? Aber sie hat doch bei ihm gearbeitet«, wirft Mielke vorsichtig ein. »Zumindest können wir froh sein, dass wir durch den Videofritzen endlich wissen, wer die Frau ist.«

Swensen merkt, dass er bei Stephan Mielke schon wieder zu weit vorgeprescht ist.

»Es ist nicht immer geschickt, spontane Ideen sofort nach draußen zu posaunen«, denkt er und nickt Mielke zu.

»Da hast du recht, Stephan! Priorität im Fall Edda Herbst ist jetzt, dass wir uns schnell ein Bild von ihrem Leben machen.«

*

Swensen lässt gerade seinen Computer runterfahren, als Silvia Haman ihren Kopf in die Tür steckt.

»Ich komm gerade aus Heide zurück. In keinem Fotoladen wurden Schwarz-Weiß-Abzüge in Auftrag gegeben.«

»In Husum dito«, entgegnet Swensen. »Aber wir wissen in der Zwischenzeit, wer die vermeintliche Tote ist. Du kommst also wie gerufen. In fünf Minuten trifft sich unsere Truppe zum Gespräch.«

»Ich komme sofort.«

Sie eilt auf ihr Büro zu, während Swensen sich schon auf den Weg in die Küche macht, um sich einen Tee aufzubrühen. Aber die Packung grüner Tee ist leer, er muss also noch mal in sein Büro zurück, denn dort liegt noch eine Schachtel mit Teebeuteln. Als er endlich mit seinem dampfenden Becher in den Konferenzraum kommt, ist er der Letzte.

»Nanu Jan! Seit wann trinkst du denn was völlig normales, so richtig mit Teebeutel?«, frotzelt Rudolf Jacobsen.

»Das ist ein Yogi-Tee mit einer Himalaja-Mischung!«

»Dann ist ja alles in Ordnung!«, grinst Stephan Mielke verschmitzt und hebt seinen Kaffeebecher. »Wir dachten schon, du bist krank!«

»Nein, Kollegen, es geht mir sehr gut«, kontert Swensen gelassen und steht auf, um die Sitzung zu eröffnen. Doch Peter Hollmann, der sich in die äußerste Ecke zurückgezogen hat, niest lautstark dazwischen.

»Gesundheit, Peter!«

Hollmann putzt sich die Nase. Seine glänzenden Augen deutet Swensen als Fieber.

»Wohl doch etwas zu früh im Dienst?«

»Quatsch, es geht schon! Lasst euch durch mich nicht stören!«

»Wie du willst«, erwidert Swensen, obwohl er der Meinung ist, Hollmann sollte nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Sein Blick wandert um den Tisch. Alle verstummen.

»Also Kollegen, wir haben zwar noch keinen richtigen Fall, aber immerhin hat dieser Nichtfall schon einen Namen: Edda Herbst. Eins ist sicher, die Frau ist verschwunden und treibt wahrscheinlich tot irgendwo vor Sankt Peter-Ording im Wasser. Unfall, Suizid oder Mord, wir wissen es nicht. Aber gehen wir alles in der richtigen Reihenfolge durch. Was hast du rausgekriegt, Stephan?«

»Edda Herbst, geboren 21. 3. 1957 in Husum. Größe: 168 cm, Augenfarbe: grün. Wohnt, oder vielmehr wohnte, in einem älteren Einzelhaus in der Deichstraße 22, ein Erbstück der Eltern, die vor zehn Jahren bei einem Unfall umgekommen sind. Keine Geschwister. Verwandte sind nicht bekannt. Die Nachbarn kennen sie nur flüchtig, meist nur so vom Sehen. Keiner kann sich daran erinnern, wann er Edda Herbst zuletzt gesehen hat. Sie lebte offensichtlich ziemlich unauffällig.«

»Und am Dienstag, dem 14. November, hat sie in der Videothek von Herrn Hajo Peters gearbeitet«, mischt Swensen sich in Mielkes Ausführungen, indem er seinen Notizblock zückt und seine Eintragungen überfliegt. »Hajo Peters ist der Mann, der Edda Herbst auf dem Bild in der Husumer Rundschau erkannt hat. Wahrscheinlich ist er auch die letzte Person, die sie lebend gesehen hat. Bei der Vernehmung sagte er, sie habe drei Wochen Urlaub genommen. Es ist ihm auch nichts Ungewöhnliches an ihrem Verhalten aufgefallen.«

Swensen macht eine kurze Pause, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden zu schärfen, und fährt mit Bedacht fort.

»Vor einem halben Jahr soll sie eine längere Zeit einen Freund gehabt haben, mit dem sie ziemlich viel Ärger hatte. Hajo Peters hat sie mal vor seinem Laden beobachtet, wie sie sich handfest in den Haaren hatten und sich heftig anbrüllten. Sie hat dann, nach Peters Aussage, das Ganze abrupt beendet. Es wäre gut, wenn wir rauskriegen, wer dieser Freund war.«

»Und Hajo Peters?«, fragt Silvia Haman. »Welchen Eindruck hast du von dem?«

»Auf meine Frage, ob er eine intime Beziehung mit Edda Herbst hatte, wurde er ziemlich wütend. Er wäre zwar ein paar Mal bei ihr zu Hause gewesen, aber immer nur, um berufliche Absprachen zu treffen, wer wann welche Schicht übernimmt und so weiter. Sie haben sich nämlich in der Videothek immer gegenseitig abgelöst.«

Swensen nimmt einen Schluck Tee. Ein Gefühl sagt ihm, dass mit Hajo Peters etwas nicht stimmt. Doch das verschweigt er.

»Auch meine Nachforschungen in den Fotoläden in Heide, und, wie ich von Jan erfahren hab, auch in denen in Husum, haben nichts ergeben.«

Silvia Haman deutet mit dem Finger zum Reißbrett, auf das sie die gesamte Fotoserie gepinnt haben. »Der Absender der Fotos bleibt bis auf Weiteres der große Unbekannte.«

»Hoffentlich finden wir sie bald, unsere Fotoleiche!«, sagt Swensen und von der anderen Seite des Tischs meldet sich Peter Hollmanns verschnupfte Stimme.

»Immerhin haben wir in der Wohnung alte Fotos von Edda Herbst gefunden. Wir wissen jetzt, wie sie wirklich aussieht. Ansonsten können wir die Spuren wohl erst richtig auswerten, wenn wir die Leiche haben. Vielleicht müssen wir das Ganze auch noch mal gezielter wiederholen.«

Swensen schaut demonstrativ auf die Uhr. Inzwischen ist es bereits kurz nach 19 Uhr. »Ich glaub, das ist wohl alles für heute!«

Alle springen auf. Während sich der Raum leert, ist Peter Hollmann am Reißbrett stehen geblieben und studiert eindringlich eines der Fotos. Er winkt Swensen zu sich und deutet auf die Totale von der Wattlandschaft mit dem Westerhever Leuchtturm im Hintergrund. Swensen sieht ihn neugierig an.

»Schau dir mal das Bild genau an, Jan!«

»Das hab ich mir schon öfter angeschaut.«

»Der Bildausschnitt! Sieh dir mal die Kamerahaltung an, die leichte Schräge.«

»Ja und?«

»Solche Schrägen, die kenn’ ich. Das ist eindeutig der Stil eines bekannten Kunstfotografen. Der Name fällt mir jetzt auf Anhieb nicht ein, aber zu Hause hab ich bestimmt einen Bildband von dem. Ich müsste mich schon sehr täuschen, wenn dieses Foto nicht von ihm ist, der ist international bekannt.«

3

Die Warnblinkanlage wirft lange rote Streifen auf den nassen Asphalt. Swensen nimmt den Lichtschein schon vor der Kurve wahr, bevor der Bahnübergang überhaupt in seinem Blickfeld auftaucht und steigt behutsam in die Bremsen. Der alte VW-Polo zieht sofort leicht nach rechts.

Mist, ich muss unbedingt die Bremsen richten lassen.

Nach der Besprechung war er in Gedanken an seine Auseinandersetzung mit Anna zuerst in seine Wohnung in der Hinrich-Fehrs-Straße gefahren. Wie schon am Morgen konnte er nicht entspannen und probierte es gar nicht erst mit Meditation. Dieses vertrackte Gefühl, nicht Fisch und nicht Fleisch, war ein Zustand, den er nie lange aushalten konnte. Er musste die Sache mit der gemeinsamen Wohnung noch heute Abend mit ihr klären.

Mit lautem Pfeifen kündigt sich die Regionalbahn nach Sankt Peter an und rattert quer über die Straße. Die erleuchteten Fenster ziehen einen gelben Lichtstreifen durch die Nacht.

Gähnend leer, denkt Swensen. Wer will auch um diese Zeit mit dem Zug von Husum nach Sankt Peter. So kutschiert sich die Bahn mit Sicherheit in die roten Zahlen.

Auf der Geraden nach dem Übergang fährt der Triebwagen eine längere Strecke parallel zur Straße, immer auf gleicher Höhe mit Swensens VW. Im Schein der Zugfenster fliegen die flachen Marschwiesen mit den geduckten, windschiefen Weiden und vereinzelten Schafherden vorbei. Vorn sieht Swensen ein grelles Licht auf sich zukommen. Es stammt von der nagelneuen RaMi-Tankstelle, die hier mitten in die Einsamkeit gesetzt wurde. Swensen steuert seinen Wagen an den Zapfsäulen vorbei bis direkt vor die Eingangstür. Obwohl sich einige Häuser im Umfeld befinden, wirkt die ganze Anlage wie ausgestorben. Durch die Fensterfront kann er die Verkäuferin von draußen deutlich erkennen.

Die steht da wie auf dem Präsentierteller, denkt er. Eine riesige Tankstelle, eine Verkäuferin, allein bis spät in die Nacht. Das ist doch nur eine Frage der Zeit, bis wir hier ermitteln dürfen.

Er schnappt sich einen der mickrigen Blumensträuße, die in Plastikeimern vor der Tür stehen, bezahlt und ist schon wieder auf der Straße. Fünf Minuten später sieht er durchs linke Seitenfenster die Witzworter Meierei, die kurz vor dem Ortseingang steht.

Immer wenn er hier vorbeikommt, denkt er unwillkürlich an den sagenhaften Eiderstedter Traum. Der sahnige Joghurt, der hier produziert wird, ist ein Geheimtipp im Norden.

Kurz vor der angestrahlten Backsteinkirche mit dem winzigen, spitzen Türmchen biegt er nach rechts ab und hält vor Anna Dietes Reetdachhäuschen. Aber trotz seines mehrmaligen Klingelns und Klopfens meldet Anna sich nicht. Verwirrt tritt er die Rückfahrt an.

 

Gegen 22.18 Uhr lässt er sich daheim auf das Sofa sinken. Sein Körper erscheint ihm wie abgespalten, als bestehe seine Existenz nur in seinem Kopf. Er hat das Gefühl, sich mal wieder richtig gehen lassen zu müssen, seine Kontrolle abwerfen zu wollen. Sein Alltag hat etwas Blutarmes angenommen. Diese starren Rituale, morgens Meditieren, abends Meditieren, vegetarisch ernähren, grünen Tee trinken. Wo ist die Lust am Leben geblieben?

Swensen treibt es in die Küche. Er hat eine schwache Erinnerung, dass noch eine Flasche Rotwein da sein muss. Zielsicher öffnet er die rechte Tür des Küchenschranks. Da steht er, ein griechischer Samos. Bye, bye, formlose Leere.

Er dreht vorsichtig den Korkenzieher ein, zieht mit einem sanften Plopp den Korken heraus, riecht an der Unterseite wie an einer alten Erinnerung und schenkt das Glas viertel voll. Dann nippt er kurz daran. Der fast ölige Wein legt ihm eine süße Schwere auf die Zunge. Er geht beschwingt ins Wohnzimmer zurück und hockt sich wieder auf das Sofa.

Sein Blick fällt auf die Uhr, 22.29 Uhr. Er drückt auf die Fernbedienung. Der Bildschirm leuchtet auf. 22.29.57, 22.29.58, 22.29.59. Fanfare, Stimme. Hier ist das Erste mit den Tagesthemen. Ulrich Wickert. Guten Abend, meine Damen und Herren. Der erste Beitrag. In Amerika versuchen Wahlhelfer, gestanzte Löcher auf Wahlzetteln zu lesen.

Swensen lehnt sich zurück. Teilnahmslos lässt er die Bilderflut an seinem Bewusstsein vorbeiziehen. Erst eine Polizeikette, die einen Wald durchstreift, erregt wieder seine Aufmerksamkeit.

Mehrere Hundertschaften der Polizei durchsuchen die Umgegend des Wohnorts von Beatrix, kommentiert die Sprecherstimme. Die Beamten sind schon seit Tagen im Einsatz.

Ein Kampfjet donnert durchs Bild.

Die Bundeswehr setzt jetzt Tornados mit Wärmekameras ein.

Mit einem Mal sind Weinseligkeit und buddhistische Weisheit wie weggeblasen. Auf dem Sofa sitzt Hauptkommissar Jan Swensen. Er muss über sich lächeln und merkt sofort, dass seine Reaktion nur seine Bestürzung überspielen soll. Ertappt.

Klassischer Fall von Verdrängung, denkt er und spürt einen garstigen Druck im Magen, obwohl er mehrmals tief durchatmet. Das Fahndungsfoto der kleinen Beatrix, das gerade im Beitrag gezeigt wurde, steht ihm weiterhin vor Augen. Eine unheilvolle Ahnung lähmt ihn. Da ist es wieder, sein altes Trauma. Bis eben war er fest überzeugt, er hätte es ein für alle Mal überwunden. Wie durch einen Nebel sieht er zwei Gestalten, die sich einen Weg durch das Gestrüpp einer Parkanlage bahnen. Die erste Gestalt ist Hauptkommissar Karl Begier und die zweite ist er selbst.

Es sah damals aus wie einer der normalen Einsätze, die er seit acht Dienstjahren bei der Mordkommission Hamburg West abgerissen hatte. Alle verfügbaren Schutz- und Kriminalpolizisten vor Ort. Zwei Leichen im Sternschanzenpark. Begier bog das Buschwerk zur Seite und Swensen trat neben ihn. Da lagen sie, zwei tote Knaben, zwischen neun und zwölf Jahren. Der Anblick traf ihn unerwartet, wie eine Keule. Der eine Leichnam lag mit nacktem Oberkörper, an Händen und Füßen gefesselt, auf dem Rücken. Am Hals klaffte eine breite Wunde. Eine verkrustete Blutspur führte über die linke Halsseite bis zum blutig durchtränkten Erdreich. Der Reißverschluss der Jeanshose war heruntergezogen, der Hosenbund geöffnet. Das jüngere Kind lag circa fünf Meter entfernt, ebenfalls auf dem Rücken. Die blutverschmierte Windjacke war offen, das T-Shirt darunter nach oben geschoben. Der Brust- und Bauchbereich war mit brutalen Stichwunden übersät. »Das ist ja wie auf dem Schlachthof«, meinte Begier. Swensen wurde speiübel. Er stützte sich an einen Baum und kotzte sich die Seele aus dem Leib.

In weiter Ferne dringt ein schwaches Surren an sein Ohr. Er taucht durch den Nebel. Das Geräusch wird schrill. Sein Telefon klingelt. Swensen drückt mit der Fernbedienung den Ton des Fernsehers leiser und nimmt den Hörer ab.

»Swensen!«

»Hallo Jan!« Swensen erkennt die krächzende Schnupfenstimme von Peter Hollmann am anderen Ende der Leitung.

»Ich hoffe, du bist nicht sauer, dass ich so spät anrufe, aber ich hab den Namen des Fotografen rausgekriegt. Du erinnerst dich noch an unser Gespräch von vorhin. Also, der Mann heißt Wiggenheim, Sylvester von Wiggenheim, und lebt wahrscheinlich in Hamburg, jedenfalls nach der Biografie in meinem Buch.«

Swensen sieht auf dem Bildschirm, dass in der Zwischenzeit irgendein Krimi angefangen hat.

»Hallo, Jan! Bis du noch da?«

»Klar, Peter! Prima! Besten Dank! Schätze, die Adresse kriegen wir morgen schon raus.«

»Also, dann bis morgen.«

»Bis morgen!«

Swensen legt auf und das Telefon klingelt gleich wieder.

»Ist noch was, Peter?«

»Hallo Jan, ich bin’s, Anna!«

»Du, Anna? Oh, – hast du den Blumenstrauß gefunden?«

»Welchen Blumenstrauß?«

»Den ich dir an die Tür geklemmt habe.«

»An die Tür? Du warst bei mir zu Hause?«

»Ja!«

»Wieso das denn? Ich bin in Rendsburg und halte mein Seminar über ›narzisstische Persönlichkeitsstörungen‹.«

Swensen schlägt sich mit der Hand an die Stirn.

»Ach ja, Rendsburg! Hab ich mal wieder total verschwitzt. Dann konntest du ja nicht da sein.«

»Nein, konnte ich nicht!«

»Dann rufst du jetzt einfach nur so an?«

»Das könnte man so sagen. Ich hab allerdings auch ein wenig an unseren ungeklärten Streit gedacht.«

»Ja, stimmt! War ziemlich blöde, oder?«

»Ja!«

»Tut mir leid! Wir sollten morgen unbedingt mal drüber reden.«

»Ich bin erst am Wochenende zurück.«

»Gut dann sehen wir uns dann.«

»Wir werden sehen. Gute Nacht, Jan!«

»Gute Nacht, Anna!«

Swensen legt auf und fühlt sich mit einem Mal zutiefst allein. Er wird wohl immer ein Eigenbrötler mit Angst vor Nähe bleiben. In der Zwischenzeit ist der Tatort auf dem Bildschirm voll im Gange. Gerade verfolgt eine Person eine andere. Swensen erkennt Kommissar Schimanski, der über die Feuertreppe eines Gasometers rennt, und macht den Ton wieder lauter. Schüsse peitschen. Der mutmaßliche Ganove wird getroffen und stürzt über das Geländer in die Tiefe.

Schwachsinn, denkt er und drückt den Aus-Knopf.

Er muss wieder an den Kindermord im Sternschanzenpark denken. Das Bild hatte sich damals so in sein Gedächtnis eingebrannt, dass die Angst vor dem nächsten Einsatz ihn fast lähmte. Wochenlang träumte er fast jede Nacht von durchgeschnittenen Hälsen und bleichen Knabenoberkörpern. Mit blutigen Wundlöchern vor Augen schreckte er aus dem Schlaf. Im Dienst fühlte er sich wie betäubt, fast stumpfsinnig. Er mied die Gespräche mit den Kollegen, denn der normale Wortschatz in einer Mordkommission erinnerte ihn immer wieder an die Horrornacht. Und dann kamen mit einem Mal noch diese Flashbacks dazu. Sie trafen ihn aus heiterem Himmel, in jeder erdenklichen Situation, zum Beispiel beim Nachtisch in der Polizeikantine. Die Leichen der Knaben lagen urplötzlich real vor seinen Füßen. Er brauchte nur die Hand ausstrecken, um ihr Blut zu berühren.

Wenn er heute an diese Albtraumzeit zurückdenkt, wird ihm klar, dass er schon damals dieser Eigenbrötler war. Er vereinsamte zusehends in der Gruppe. Sobald seine Kollegen ihn darauf ansprachen, bezeichnete er sich als einen Individualisten. Und als Individualist wollte er die Sache natürlich unbedingt selber in den Griff bekommen.

Eines Morgens kam Karl Begier in sein Büro, legte ihm mit einem Augenzwinkern einen Flyer auf den Schreibtisch und verschwand wortlos wieder. Swensen griff sich das hellblaue Stück Papier und faltete es auf.

Posttraumatische Belastungsstörung nach kriminellen Gewalttaten. Ein Gastvortrag von Prof. Doktor Hermann im Psychologischen Institut, Saal IV der Uni Hamburg. 23. Januar 1992, 20 Uhr.