Hätschelkind

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Mit dem Satz: »Du weißt ja genau, wie sehr ich Storm liebe!«, begann er mit seiner Strategie und knuffte Edda dabei leicht gegen den Oberarm. »Wie wär’s, wenn ich morgen früh mit frischen Brötchen zum Frühstück komme und du zeigst mir den Roman. Das wäre echt toll von dir!«

Ein feuchter Dunst lagerte auf der Wasseroberfläche im Hafen.

Er vertieft sich in die erste Seite des Romans. Die altdeutsche Schreibweise ist nicht einfach zu entziffern. Sofort ist die Erinnerung an Edda hinter der geschwungenen Tintenschrift verschwunden.

»Der wohlgekleidete Mann im dunklen Überrock stand an der Kaimauer und schaute in den Nebel hinaus. Es war so still, dass er weit hinten die kleinen Wellen an die Bordwände der Halligschiffe schwappen hörte. Eigentlich hieß er Detlef Fedder und war Sohn eines Pfennigmeisters aus Friedrichsstadt; doch alle nannten ihn nur Dintefaß (Tintenfass), weil er die Feder so trefflich gebrauchen konnte.«

Ja, das ist eindeutig Storms Stil, denkt Peters bei sich. Ihm läuft unwillkürlich eine Gänsehaut über den Rücken. Als er weiterliest, flimmern vor seinen Augen schon die Schlagzeilen der Zeitungen: Roman von Theodor Storm entdeckt!

»Es bedarf wohl äußerlich der Enge, um innerlich ins Weite zu gehen. Es ist an der Zeit, den ewigen Novellisten hinter sich zu lassen. Ein Meisterwerk würde ihm, dem alten Detlef Dintefaß, einfach gut zu Gesicht stehen. In seinen ernsten Augen, in welche sich seine ganze verlorene Jugend gerettet zu haben schien, lag ein plötzlicher Entschluß. Er wurde eifrig und stieß den langen Rohrstock mit dem goldenen Knauf kurz auf den Gehstein. Ein bitteres Lächeln umflog seinen Mund, während er mit Andacht auf alles schaute, was im letzten Hauch des Tages ausgebreitet lag. In der Krämergasse, die er zum Rathausmarkt hinaufging, leuchteten die Lichter aus den Fenstern ihm den Weg. Vor den Giebelhäuschen gleich an der Ecke standen granitne Pfeilersteine, die mit schweren eisernen Ketten verbunden waren. Er liebte die einfachen und sittenstrengen Menschen seiner kleinen Stadt, die jetzt sicher vor dampfendem Tee um ihre Tische saßen.«

Peters kann nicht mehr weiterlesen und legt die durch des Dichters Hand geweihten Schriftstücke wieder zwischen die Leinendeckel, verschnürt die Bänder und verstaut die Kostbarkeit – seine Kostbarkeit – wie eine heilige Reliquie wieder in der Schrankschublade. Nun heißt es weiterhin kühlen Kopf bewahren, beruhigt er sich innerlich. Es muss erst mal Gras über die Sache mit Edda wachsen.

Unwillkürlich sieht er vor seinem inneren Auge wieder, wie er heimlich die Schlaftabletten in den Kaffee fallen ließ. Wie er Eddas schlaffen Körper ins Badezimmer zog, direkt neben die Wanne. Wie er beobachtete, ob sie sich noch rührte. Wie er den Wasserhahn aufdrehte. Wie ihm die Idee kam, Edda ans Meer zu schaffen, damit man glauben würde, dass sie ertrunken war. Wie er in der Küche nach Salzpackungen stöberte und den Inhalt im Wasser auflöste. Wie er die Frau am Hosengürtel packte und sie über den viel zu hohen Wannenrand quälte, ihren Kopf dann solange unter Wasser drückte, bis keine Luftblasen mehr aus ihrem Mund aufstiegen.

2

Swensen erwacht wie immer kurz bevor der Wecker klingelt. 5.25 Uhr. Er kann sich auf seine innere Uhr verlassen. Vom Sturm und Regen draußen ist heute nichts mehr zu hören.

Vielleicht können wir ja endlich einen Hubschrauber einsetzen, denkt er und lässt die letzten beiden Tage noch einmal Revue passieren.

Am Samstagmittag war der Einsatzwagen im Watt vor Sankt Peter-Ording gewesen. Doch die Beamten konnten nichts Verdächtiges finden und auch kein Anlieger hatte etwas Ungewöhnliches gesehen. Obwohl das Wetter sich genauso mies wie am Vortag präsentierte, war er am Sonntag selbst noch einmal vor Ort gewesen. Sein Marsch durchs Watt förderte aber genauso wenige Erkenntnisse ans Licht wie der seiner Vorgänger. Trotzdem war er hinterher zufrieden. Er hatte immerhin zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: erstens überzeugte er sich, dass wirklich nichts übersehen worden war und zweitens konnte er die Suche nach der Leiche vorschieben, um nicht noch mal auf Annas Theodor-Storm-Symposium erscheinen zu müssen. Seinem schlechten Gewissen hatte er schon vor der Abfahrt zu der Watt­ermittlung vorgebeugt und sich mit ihr beim gemeinsamen Lieblings-Italiener zum Abendessen verabredet. Und um sie zusätzlich milde zu stimmen, hörte er dann auch geduldig alle ihre Geschichten von dem angeblichen Brief Fontanes an, mit dem Wraage die Existenz des Storm-Romans beweisen wollte. Allerdings war ihr Wunsch, die Nacht nicht mit ihm zu verbringen, eher ein Zeichen dafür, dass sie noch schmollte.

Nach der kalten Dusche am Montagmorgen ist Swensen hellwach. Im Wohnzimmer entzündet er ein Räucherstäbchen, legt eine CD mit Mantras vom Lama Gyurme auf, zieht das Meditationskissen in die Mitte des Raums und versucht darauf den Lotossitz einzunehmen. Die Kissenfüllung aus Buchweizenhülsen knirscht leise unter seinem Hintern. Swensen schließt die Augen. Die feinen Schwingungen des Obertongesangs wollen heute einfach nicht in ihn hineinfließen. Er merkt, wie sich seine Stirn allmählich in Furchen legt.

Alles noch mal zurück auf Los! Störende Gedanken liebevoll zur Seite schieben. Genau! Und jetzt beginnen sie sich langsam in einem orangenen Licht aufzulösen.

Bis auf die Fotos gibt es einfach nicht das geringste Anzeichen für eine Leiche.

Swensen, etwas mehr Gelöstheit! Beobachte deine Gefühle!

Außerdem wird schließlich keine Frau im Husumer Umfeld vermisst.

Lass endlich los, Swensen!

Oder ob das Ganze mit den Fotos nur ein übler Scherz ist?

Nach einem kräftigen Fußtritt trudelt das Meditationskissen in die Zimmerecke zurück und der Anlage wird ärgerlich der Saft abgewürgt.

20 Minuten später steuert der Kommissar über den Flur der Polizeiinspektion auf sein Büro zu. Vor der Frühbesprechung um 8 Uhr ist noch etwas Zeit. Nachdem er seine Regenjacke in den Schrank verstaut hat, schnappt er sich die Packung mit dem grünen Tee und geht gleich gegenüber in den Gemeinschaftsraum, um sich eine Kanne aufzubrühen. Punkt 8 Uhr sitzt er, die dampfende Tasse Tee vor sich, im Konferenzraum. Das anfängliche Gefeixe seiner Kaffeekollegen, warum er denn unbedingt heißes Wasser trinken muss oder weshalb er Haschisch nicht wie jeder normale Kiffer raucht, ist schon lange verstummt.

»Hat jemand Peter Hollmann gesehen? Warum ist er noch nicht da?«

Heinz Püchel knöpft sein tadellos sitzendes Galliano-Jackett auf und blickt demonstrativ in die Runde.

Wie immer einen Hauch zu dramatisch, denkt Swensen, der seinem circa 15 Jahre jüngeren, etwas klein geratenen Chef in solchen Situationen etwas mehr Gelassenheit wünscht.

»Hat wahrscheinlich Grippe!«

Susan Biehls Stimme schwebt wie ein gregorianischer Gesang durch den Raum. Die Blondine von der Anmeldung ist gerade 21 geworden und erst seit drei Monaten in der Inspektion.

»Er geht heute Morgen noch zum Arzt. Hörte sich am Telefon aber schon so an, dass wir ihn erst mal eine Zeitlang nicht sehen werden.«

Ob die allgemeine Heiterkeit, die plötzlich in der Runde herrscht, nun durch Susans Formulierung oder ihre Säuselstimme hervorgerufen wird, kann Swensen nicht entscheiden.

»Okay!«

Püchel schlägt mit dem Kugelschreiber auf den Tisch.

»Was ist mit der Leiche vor Sankt Peter, Jan?«

»Stephan hatte Dienst, ich bin nur dazugekommen. Erzähl du, was passiert ist.«

Swensen guckt zu Mielke rüber.

»Am Samstag wurden uns in einem Umschlag mehrere Fotos einer Frauenleiche zugeschickt.«

Stephan Mielke öffnet eine Mappe und verteilt die Abzüge auf dem Tisch.

»Kein Absender auf dem Umschlag. Abgestempelt am Freitag in Hamburg. Nachforschung am mutmaßlichen Fundort hat bis jetzt nichts ergeben. Keine Leiche. Niemand hat etwas gesehen und gehört. Deshalb haben wir auch Flensburg noch nicht hinzugezogen.«

»Dazu kommt, dass keine Frau in unserem Umfeld vermisst wird«, ergänzt Swensen und Stephan Mielke fährt fort.

»Dann war das Wetter, wie ihr ja alle wisst, hundsmiserabel. Wir konnten noch nicht mal einen Hubschrauber zur Suche raufschicken.«

»Na, heute klappt das bestimmt!«

Heinz Püchel beugt sich mit den anderen über die Fotos und Swensen bemerkt: »Wir gehen erst einmal davon aus, dass die Bilder echt sind. Mit dem bloßen Auge sind zumindest keine Manipulationen zu erkennen, aber ich lasse sie noch einmal von einem Spezialisten überprüfen.«

Rudolf Jacobsen wiegt seinen Kopf hin und her.

Professionelle Abzüge! 20 x 30 in Schwarz-weiß! Wer macht denn so was heutzutage noch?«

Stephan Mielke zuckt die Achseln.

»Wahrscheinlich privat abgezogen«, fährt Rudolf Jacobsen fort. »Oder in einem Spezialstudio. Ich bin zwar nicht der begnadete Fotoexperte wie unser kranker Kollege Hollmann, aber wenn jemand Schwarz-Weiß-Bilder hier in Husum in Auftrag gegeben hat, ist das bestimmt aufgefallen.«

»Vielleicht sollten wir sicherheitshalber in allen Fotoläden nachfragen!«

Püchel hebt den Kopf und blickt zu Silvia Haman, die mit ihren ein Meter 90 selbst im Sitzen die Männerrunde deutlich überragt.

»Wäre das nichts für dich, Silvia?«

Die dunkelblonde Beamtin grinst übers ganze Gesicht.

»Aber sicher, Heinz! Eine verantwortungsvolle Aufgabe für eine Kommissarin im besten Alter.«

Püchel verzieht genervt seinen Mund und brummelt kaum hörbar:

»Einer muss es ja machen!«

»Du meinst eine muss es ja machen!«

Püchel blickt flehend nach oben.

»Noch gibt es bei der Kriminalpolizei keine Frauenquote für die Befragungen in Fotogeschäften, liebe Kollegin Haman.«

 

»Dafür gab es hier schon immer eine Männerquote für dumme Sprüche!«

»Wie wär’s, wenn ihr beide einfach wahrnehmt, dass ihr Mann und Frau seid!«

Jan Swensen Stimme hat mit einem Mal eine sanfte Bestimmtheit. Doch als die beiden ihn daraufhin verständnislos ansehen, knurrt er: »Leute, könnt ihr euer Mann-Frau-Gerangel nicht nach Feierabend austragen?«

»Genau meine Rede!«

Heinz Püchel füllt seine Brust hörbar mit Luft.

»Wir müssen die mutmaßliche Leiche finden und dazu dürfen wir noch eine unerledigte Brandstiftung, zwei Körperverletzungen und Einbrüche aufklären! Swensen übernimmt vorerst die Fotoleiche, Mielke und Haman bleiben mit dran. Ich kümmere mich um den Hubschrauber. Der Rest weiß, was er zu tun hat. Also, an die Arbeit, Kollegen und liebe Kollegin!«

In dem jetzt einsetzenden Gemurmel und Stühlerücken gibt Swensen per Handzeichen Stephan Mielke zu verstehen, dass er noch warten soll.

»Sag’ mal, Stephan, wie heißt noch der junge Neue bei den Streifenkollegen, dieser Computerfreak?«

»Jan-Erik Metz!«

»Gibt es Irgendetwas, wovon ich nichts wissen soll?«

Silvia Haman hat sich von hinten an die beiden Männer herangepirscht. Stephan zuckt erschreckt zusammen und dreht sich ärgerlich um.

»Nein, liebste Silvia!«, zischt er aufbrausend. »Wir arbeiten hier nicht beim Geheimdienst.«

»Und warum dann dieses konspirative Treffen, null null Mielke?«

»Silvia!« Mielkes Augen blitzen zwischen den leicht zusammengekniffenen Lidern. »Ich gebe ja zu, dass vor 6000 Jahren der Ackerbau von den Männern übernommen wurde und die Frauen sich deshalb mucksch hinter den Herd zurückzogen haben. Aber heute ist heute. Frauen dürften in der Zwischenzeit immerhin so qualifiziert sein, dass sie die Stelle einer Kriminalbeamtin auch ohne Komplexe ausfüllen können, oder?«

Silvia Haman starrt Mielke fassungslos an, ringt angestrengt nach einer Antwort, doch ihre sprichwörtliche Schlagfertigkeit scheint wie weggeblasen.

»Und noch eins, Silvia, und das gilt ein für alle Mal. Selbst wenn ich noch nicht lange dabei bin, sehe ich den IQ-Quantensprung ins kriminaltechnische Zeitalter für Frauen als abgeschlossen an.«

»Das versteh’ ich nicht.«

Silvia dreht sich Hilfe suchend zu Swensen. Der zuckt nur stumm mit den Achseln und es entsteht ein drückendes Schweigen. Er ist über Mielkes unvermittelten Ausbruch irritiert. Er hatte ihn in der kurzen Zeit ihrer Zusammenarbeit immer als eher unsicher erlebt. Warum plötzlich dieser vehemente Angriff gegen Silvia? Wie ist Mielkes Beziehung zu Frauen eigentlich, hat er überhaupt eine Beziehung? Im Grunde wissen wir nichts voneinander. Obwohl wir so viel Zeit miteinander verbringen, arbeiten wir meistens nur nebeneinander her.

Einsamkeit ist der Wassertropfen im Meer. Der Satz seines Meisters Lama Rhinto Rinpoche fällt Swensen ein und sein Blick verliert sich im Leeren. Er sieht sich, wie er vor über 30 Jahren mitten in einem buddhistischen Tempel eines kleinen Schweizer Dörfchens meditiert. In Hamburg hatte er kurz zuvor ein Philosophiestudium begonnen und war gerade im dritten Semester, als einige Kommilitonen ihn mit dem Spruchband »Unter den Talaren, der Muff von tausend Jahren« aus seinem Studentenschlendrian befreiten. Ab da schaffte er nur noch weitere drei Semester und die 68er hatten ihm seine drohende spießige Karriere ausgeredet. Er schmiss sein Studium, wollte unbedingt seinem bürgerlichen Trott entfliehen, um sich dann für drei Jahre in einer noch festeren Norm wieder zu finden. Vor Tagesanbruch aufstehen, waschen, zwei Stunden meditieren, Frühstück, wieder meditieren, Mittagessen und so weiter, Tag für Tag, Woche für Woche.

Bleib achtsam, sagt eine innere Stimme. Intuitiv bemerkt er im Augenwinkel, wie Mielke Luft holt, um zu einer wahrscheinlich neuen Attacke gegen Silvia anzusetzen. Mit ruhiger Stimme kommt Swensen ihm zuvor.

»Ich würde mich freuen, wenn wir in Zukunft bei der Arbeit alle ein wenig mehr in uns ruhen könnten.«

Um die Wirkung seiner Worte zu unterstützen, setzt er eine gezielte Pause.

»Momentan haben wir genug andere Dinge zu tun, als die Unterschiede zwischen Frauen und Männern zu ergründen.«

Dann dreht er sich zu Silvia.

»Außerdem können wir uns die abtörnende Klappertour durch die Fotoläden der Provinz ja teilen. Du fährst nach Heide rüber und ich mache Husum.«

»Und was wolltest du jetzt von Metz?«, fragte Stephan Mielke sichtlich entspannter.

»Mir ist die Idee gekommen, das Foto von der Leiche im Computer so weit bearbeiten zu lassen, dass wir ein brauchbares Fahndungsfoto veröffentlichen können.«

»Klar, selbst wenn wir die fehlenden Augen nicht 100-prozentig rekonstruieren, reicht es vielleicht aus, dass jemand die Frau erkennt! Ich schätze, der Metz kriegt das ziemlich schnell hin.«

Mielke stürmt los, Swensen und Silvia Haman hasten hinterher. In der Flurmitte werden sie von Heinz Püchel gestoppt.

»Übrigens, das mit dem Hubschrauber wird auch heute nichts! In Flensburg ist der Hund los, aber das habt ihr sicher schon selber im Fernsehen mitbekommen. Es geht um die kleine Beatrix aus Glücksburg, die seit drei Tagen vermisst wird. Im Moment brauchen die da oben alle Dinger, die sie kriegen können.«

Bei dem Namen Beatrix durchzuckt das Fernsehbild der Eltern Swensens Kopf. Tagesthemen, Sonntagabend 23.15 Uhr. Das Ehepaar steht benommen hinter einem Mikrofonwall.

»Wenn du uns hörst, Beatrix, bleib stark! Wir suchen so lange, bis wir dich finden!«

Nach dem Essen mit Anna hatte Swensen den Fernseher wegen der Nachrichten angeschaltet. Wie aus dem Nichts sprang ihn das geballte Leid an. Bei dem Fall Beatrix waren seine Augen feucht geworden und er ertappte sich dabei, froh zu sein, nichts mit dem Fall zu tun zu haben. Zuständigkeitsbereich Flensburg.

»Na, Hauptsache sie finden die Kleine.«

Swensen spürt, wie ihm bei den Gedanken an die Zuständigkeit der Flensburger Kollegen das schlechte Gewissen in den Nacken schleicht.

»Ja, und nun?«, fragt Püchel etwas irritiert. »Wir können hier doch nicht einfach abwarten und Tee trinken!«

»Was sollen wir denn machen? Die Kollegen vom Wasserschutz kommen nicht weit genug ins flache Watt. Außerdem kann man eine im Wasser schwimmende Leiche von einem Boot aus sowieso kaum sehen.«

Swensens Ausführungen machen Püchel sichtlich nervös. Er zieht hastig seine Zigaretten aus der Jackentasche und zündet sich eine davon an.

»Dazu kommt, dass es nicht klar ist, wohin sie durch die Gezeitenströmung und bei dem Unwetter am Wochenende getrieben worden ist. Vielleicht müssen wir einfach solange warten, bis die Frau irgendwo angeschwemmt wird. Aber diesbezüglich kennen sich die Kollegen vom Wasserschutz bestimmt aus. Die Sylt liegt im Husumer Hafen. Ich ruf da einfach mal an. Es wird sowieso höchste Zeit, dass wir mal langsam die Küstenpolizei informieren!«

»Ja, Jan, mach das!« Keine zehn Sekunden und Püchel ist schon von einer großen Wolke umgeben. Swensen weicht automatisch zurück, näher an Silvia Haman und Stephan Mielke heran, die sich auch schon auf Distanz begeben haben.

»Macht das mit dem Foto bitte schon mal allein, ich geh’ erst mal telefonieren und komm dann gleich nach.«

»Danke, Jan! Ich sehe, die Sache ist bei dir gut aufgehoben.«

Im selben Moment ist Püchel wieder in seinem Büro verschwunden, nur sein Zigarettenrauch steht noch im Raum und schwebt in feinen Spiralen langsam zur Decke.

*

Es ist 22 Uhr vorbei. Feierabend. Gerade hat er die Eingangstür seiner Videothek verschlossen, die Kasse geöffnet und begonnen, die Einnahmen zu prüfen. In dem Moment, als er das Kassenbuch aus der Schublade nehmen will, dringt ein leises Stöhnen an sein Ohr.

Der Laden besteht aus drei ehemaligen Zimmern, die er durch das Aushängen der großen Durchgangstüren zu einer Gesamtfläche vereint hat.

Das absonderliche Geräusch kommt eindeutig aus dem hintersten Raum. Er merkt, wie die Angst ihn unwillkürlich im Nacken packt und spürt dabei gleichzeitig den zwanghaften Drang nachzusehen. Irgendetwas treibt ihn voran, Schritt für Schritt. Im schummrigen Licht schweben die grellbunten Kassettencover in den Regalen an seinen Augen vorbei, erst die üblichen Hollywoodstars in ihren Heldenposen, dann die unbekannten Mädchen mit den gespreizten Schenkeln. Hier hinten ist das Geräusch mit einem Mal verstummt. Dafür bemerkt er eine Tür in der Wand, die ihm bis heute noch nie aufgefallen war. Mit den Händen fegt er die Pornokassetten vom Regal, die wild durcheinander zu Boden poltern. Ein Griff wird sichtbar. Doch bevor er ihn herunterdrücken kann, springt die Tür auf. Wie besessen reißt er einige Regalbretter aus der Verankerung und zwängt sich mühsam durch die entstandene Lücke. Eine schmale Treppe führt nach oben ins Dunkle. Das Holz knarrt unter seinem Gewicht. Er ertastet ein Loch in der Decke. Vorsichtig hebt er seinen Kopf über die Kante und blickt in einen großen Saal. Ganz am anderen Ende dringt ein schwaches, flackerndes Licht durch die Ritzen eines mächtigen Samtvorhangs.

Ein Kino, durchzuckt es ihn. Nein, ein Marionettentheater, genau, das kann nur das Marionettentheater aus Storms Pole Poppenspäler sein.

Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er kann die purpurrote Farbe des Stoffes erkennen.

»Komm herbei, Hajo Peters, komm herbei!«, krächzt eine unwirkliche Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren lässt. Trotzdem wird er von ihr willenlos angezogen.

»Ja, Peters, hierher! Hierher du erbärmlicher Feigling!«

Schrecken und Neugier kämpfen in ihm. Jetzt steht er direkt vor dem Vorhang, genau in der Mitte, wo sich beide Hälften treffen. Seine Hände dringen durch den Spalt und teilen ihn. Vor ihm, auf Augenhöhe, baumelt an feinen Schnüren aufgehängt eine Holzfigur. Sie trägt einen gelben Nankinganzug und ihr Kopf ist vornüber gesunken. Die Nase, die groß wie eine Wurst ist, liegt auf der Brust.

»Der Kasperl!«, stammelt er. Da hebt sich ruckartig der Kopf der Marionette.

»Freili, der is allimal dabei!«

Die Figur klappt ihren hölzernen Mund auf und zu und das Holz knackt dabei wie eine alte Eule mit ihren Kinnbackenknochen.

»Bist also kommen, um auch noch deinen alten Freund zu bestehlen? Peters du elender Dieb!«

In Panik schließt er den Spalt. Sein einziger Gedanke ist Flucht. Doch bevor er sich umdrehen kann, geht ein helles Licht an. Im selben Moment öffnet sich der Vorhang und die Vorstellung beginnt mit einem Gong. Der Kasperle auf der Bühne wirkt auf einmal noch größer und lebendiger. Unter seinem rechten Arm klemmen die Pappdeckel mit den Romanblättern des Theodor Storms.

»Wie kommst du Wicht an mein Eigentum!?«, schreit er zornig und stürzt sich auf die Holzfigur, um ihr die Schriftstücke zu entreißen. Doch Kasperles Arm ist hart wie Eisen. Er zerrt aus Leibeskräften an der Umklammerung. Auf einmal tut es einen leisen Krach im Innern der Figur.

»Mörder!«, kreischt eine Frauenstimme hinter ihm. Entsetzt fährt er herum. Vor ihm steht Edda und hält ihm eine Pistole unter die Nase.

»Woher hast du die Waffe?«

»Aus deiner Schublade, unten im Laden!«

»Edda, so lass dir doch alles erklären!«

»Was willst du noch erklären, Hajo? Einmal Mörder, immer Mörder!«

»Nein, das ist doch alles so nicht wahr! Neiiiin!!!«

Schweißgebadet schießt er im Bett hoch. Seine Augen tasten durch den dunklen Raum. Keine Edda, kein Kasper, kein Theater, nur sein Schlafzimmer. Benommen sieht er auf die Leuchtanzeige des Weckers, 3.15 Uhr. Der Sekundenzeiger scheint zu stehen. Langsam dämmert es ihm, dass er nur einem Albtraum entkommen ist. Die nächste halbe Stunde verbringt er mit dem Versuch, wieder einzuschlafen. Er wirft sich ärgerlich von einer Seite auf die andere. Es nützt nichts, er ist und bleibt hellwach.

Wo ist sie bloß geblieben, die Edda, denkt er und macht für diese Ungewissheit seine Dämonen in der Nacht verantwortlich. Tag für Tag hatte er in der letzten Woche jede Zeitung, die ihm unter die Finger kam, nach einer Nachricht über einen Leichenfund im Watt durchforstet, ohne Erfolg. Edda bleibt wie vom Erdboden verschwunden.

Das unerwartete Vakuum verunsichert ihn zutiefst. Manchmal hat er das Gefühl, als fiebere er der Entdeckung förmlich entgegen.

»Höchste Zeit, dass der Trubel endlich losgeht«, murmelt er und steigt aus dem Bett. Nachtwandlerisch tappt er durch die Dunkelheit bis in die Küche, öffnet den Kühlschrank und greift sich eine Flasche Flens. Mit dem rechten Daumen schnippt er den Bügelverschluss auf und nimmt einen kräftigen Schluck. Der Alkohol wirkt sofort. Er lässt sich rückwärts auf das Sofa fallen. Ohne abzusetzen, fließt der Rest der Flasche durch seine Kehle. Eine wohlige Wärme breitet sich im Körper aus und er starrt grübelnd durch das Fenster in die Nacht hinaus. Nur die feine Mondsichel blitzt einmal kurz hinter pechschwarzen Wolken hervor.

 

Bald ist Neumond, denkt er beiläufig, während eine düstere Ahnung in ihm aufsteigt.

Eins ist sicher, irgendwann werden sie vor der Tür stehen!

In der ersten Zeit war er bei jedem Geräusch zusammengezuckt und dachte, dass die Polizei an seiner Wohnungstür klingeln würde. Doch nichts passierte.

Dabei fühlt er sich bestens präpariert. Er hat sich seine Antworten genau überlegt, ist sie sorgfältig immer wieder durchgegangen.

»Edda, natürlich kenn’ ich Edda Herbst! Die arbeitet schließlich bei mir in der Videothek.«

»Wann ich sie das letzte Mal gesehen hab? Lassen Sie mich nachdenken. Das muss vorige Woche Montag gewesen sein. Genau, das war Montag, der 13. November.«

»Woher ich das so genau weiß? Weil sie am nächsten Tag für drei Wochen in Urlaub gehen wollte. Warum fragen Sie denn das alles?«

»Was, sie ist tot? Das ist ja entsetzlich! Ich kann das gar nicht glauben, die arme Edda. Was ist denn passiert?«

»Ertrunken im Watt. Furchtbar. Sie war so ein fröhlicher Mensch. Was für ein schrecklicher Unfall!«

Edda, Edda, Edda! Scheiße, kriege ich dieses dämliche Weibsbild denn überhaupt nicht mehr aus dem Kopf, denkt er. Während er sich eine zweite Flasche holt, fühlt er Zorn auf die tote Frau. Er setzt die Flasche an den Mund und leert auch sie in einem Zug. Doch die quälenden Bilder der Mordnacht wollen einfach nicht verschwinden.

Da liegt sie wieder deutlich vor ihm, in ihren klitschnassen Klamotten auf dem Bauch in der Wanne, nachdem er das Wasser abgelassen hatte. Über eine halbe Stunde saß er regungslos auf dem Wannenrand und sah auf den toten Körper, aus Angst, Edda könne plötzlich doch noch aufstehen. Dann gab er sich einen Ruck, bewegte langsam seine Hände, dann seine Füße. Er schwankte in die Küche und setzte sich bewusst auf den Stuhl, auf dem er schon vor der Tat gesessen hatte. Wie von selbst entwarf etwas in seinem Hirn einen Plan. Eddas Haus war ein kleines, heruntergekommenes Ziegelsteinhaus, das dicht an dicht mit anderen Häusern an einer Durchfahrtsstraße lag. Glücklicherweise gab es auf der rechten Seite einen kleinen kopfsteingepflasterten Innenhof. Da sah er seine Chance. Er räumte sein Besteck und Geschirr vom Tisch, wusch es ab, verstaute alles im Küchenschrank und verließ das Haus durch den Nebeneingang zum Hof um ihn gründlich zu inspizieren. Ein Auto hatte hier bequem Platz. Die Wand vom Nebenhaus hatte keine Fenster. Ein großes Holztor versperrte den Blick zur Straße. Das müsste klappen. Er wusste, dass Edda allein lebte, von ihrem Freund hatte sie sich vor circa einem halben Jahr getrennt. Ihr Beziehungsstress war häufig Thema am Arbeitsplatz gewesen. Danach hatte sie nie von einer neuen Affäre gesprochen. Ihre Eltern waren schon vor Jahren bei einem Unfall umgekommen, weshalb sie auch dieses Haus besaß. Bis auf ein paar entfernte Bekannte würde sie nach seiner Überzeugung erst mal niemand vermissen.

Beste Voraussetzungen also, dachte er, um sie bis heute Nacht einfach hier liegen zu lassen.

Dass Edda durch irgendeinen blöden Zufall gefunden werden könnte, blieb sein Restrisiko, ein Risiko, das allerdings nicht sehr groß war. Jetzt brauchte er nur noch den Tag wie immer ablaufen zu lassen. Pünktlich öffnete er seine Videothek. Nachdem er den ganzen Tag seinen Job so unauffällig wie möglich durchgezogen hatte, fuhr er nach Hause. Dort wartete er, bis es 3 Uhr war. Um diese Zeit, das wusste er genau, sind Husums Straßen so gut wie ausgestorben. Nur das Mondlicht verursachte ihm ein mulmiges Gefühl im Magen. Es überzog die ganze Stadt mit einem weißlich hellen Schein.

Wie ein Leichentuch, dachte er und geriet in der Kurve zum Binnenhafen sogar einige Sekunden in Panik, dass man ihn heimlich beobachten könnte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er bog rechts in die Deichstraße, stoppte und schaute sich um. In der gesamten Häuserreihe waren alle Fenster dunkel. Niemand war weit und breit in Sicht. Er stieg aus, öffnete das Holztor und bugsierte seinen alten Bundeswehr-Jeep rückwärts in Eddas Hof.

Er erwacht gegen 9 Uhr völlig verdreht auf dem Sofa. Ein stechender Schmerz zieht sich vom Nacken hinauf in seinen Hinterkopf. Benommen schleicht er ins Bad und sieht ein bleigraues Gesicht mit tiefen Rändern unter den Augen, das ihm aus dem Spiegel entgegen blickt. Erst als er seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl hält, kommt er langsam wieder zu sich.

30 Minuten später parkt er seinen Wagen in der Süderstraße, genau gegenüber der Videothek. Als er die Eingangstür öffnet, steckt die Husumer Rundschau schon im Briefschlitz. Der beleuchtete Getränkeschrank wirft ein fahles Licht an die gegenüberliegende Wand. Er legt die Zeitung auf den Tresen, dessen Umrisse er im Halbdunkel gerade noch erkennen kann und nimmt sich eine Fanta. Dann knipst er Licht an und erschrickt unwillkürlich. Die Räume haben sich in seinen Traum aus der vergangenen Nacht verwandelt. Mit einem mulmigen Gefühl fingert er seinen Schlüsselbund aus der Jackentasche und schließt die Tresenschublade auf. Sein Herz pocht bis zum Hals. Neben dem Kassenbuch liegt seine Walther 7,65 Millimeter, wie immer. Auch wenn er eigentlich nichts anderes erwartet hatte, braucht er längere Zeit, bis er sich wieder ganz beruhigt hat. Er ist zutiefst erstaunt, wie schnell ihn so ein Hirngespinst aus der Bahn werfen kann. Irgendwie muss er sich jetzt selbst etwas beweisen. Demonstrativ durchquert er den gesamten Laden bis in den hintersten Raum und zurück.

So, das Thema ist endgültig abgehakt, denkt er, nimmt eine Getränkedose und reißt sie auf. Als er sie gerade an den Mund setzen will, fällt sein Blick auf die Titelseite der Zeitung.

Mädchen bleibt verschwunden. Trotz intensiver Suche der Flensburger Polizei gibt es weiterhin kein Lebenszeichen von der kleinen Beatrix aus Glücksburg.

Ich werde nie begreifen, wer so was fertig bringt! Wie kann man sich nur an einem kleinen Mädchen vergreifen, denkt er, als wenn jemand in seinem Kopf einen Hebel umgelegt hat.

Solche Menschen sind doch krank. Der wusste 100-prozentig, was er gemacht hat.

Aufgebracht schlägt er die Zeitungsseiten um. Er freut sich über seine Wut, sie erzeugt ein gutes Gefühl im Bauch.

Was ist meine Tat gegen so etwas Abscheuliches. Ich bin da schließlich nur wegen ein paar fehlender Kröten reingeschlittert. Und überhaupt ist das Ganze sowieso nicht zu vergleichen!

Da werden seine Gedanken jäh gestoppt. Gerade hat er den Lokalteil der Zeitung aufgeschlagen. Knallhart springt ihm seine Realität ins Auge. Ein Bild von Edda.

Wer kennt diese Frau? Für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an die Husumer Kriminalpolizei.

Woher haben die ein Bild von Edda, schießt es ihm durch den Kopf. Wieso steht da nichts von einer Leiche? Wenn sie ein Bild haben, müssen sie doch eine Leiche haben!

Fragen, die auf ihn einstürmen, aufdringlich und beklemmend zugleich. Doch so sehr er auch nachdenkt, logische Antworten bleiben ihm verborgen. Hilflos trommelt er mit den Fingern auf der Tischplatte. Seine Schläfen schmerzen. Er fühlt ein zentnerschweres Gewicht auf seinen Schultern. Alles, was er sich zurechtgelegt hatte, kann er ab sofort vergessen. Ihm ist klar: er muss unbedingt handeln. Wenn er nicht in Kürze die Polizei informiert, wird man über kurz oder lang rauskriegen, dass Edda bei ihm angestellt ist. Dann tauchen sie auf und werden ihm sehr unangenehme Fragen stellen.