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Zwei Schicksalswege

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Zwei Schicksalswege (EPUB)
Zwei Schicksalswege (EPUB)
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Ich will meinen Brief beenden, ehe die Post abgeht.

Ich habe alle Anordnungen zur Erfüllung meines Versprechens getroffen. Das Medaillon an ihrem Busen verborgen, ihr Gesicht mit dem schwarzen Schleier verhüllt, so wird man sie begraben. Ein edleres Wesen hat nie auf dieser Welt geatmet. Sagen Sie dem Freunde, der ihr sein Bildnis sandte, dass ihre letzten Augenblicke voller Glückseligkeit waren, weil sein Geschenk ihr bewies, dass er ihrer gedachte.

Soeben finde ich eine Stelle in Ihrem Briefe, die ich noch nicht beantwortet habe. Sie fragen mich, ob dem beharrlichen Verbergen ihres Gesichts hinter dem Schleier etwas Tieferes zu Grunde lag, als das, womit sie den Personen ihrer Umgebung diesen Umstand erklärte. Es ist wahr, dass sie unter einer krankhaften Empfindlichkeit gegen die Einwirkung des Lichtes litt, aber es ist ebenso wahr, dass das nicht die einzige und nicht die schlimmste Wirkung der Krankheit war, an der sie litt. Sie hatte einen anderen Grund um ihr Gesicht zu verbergen, einen Grund, den nur zwei Personen kennen, der Arzt, der in dem Dorfe, das nah bei ihres Vaters Hause liegt, lebt und ich. Wir haben uns beide verpflichtet, nie einem sterblichen Wesen zu enthüllen, was unsere Augen gesehen haben. Selbst vor ihrem Vater haben wir unser furchtbares Geheimnis verborgen und sind entschlossen es mit ins Grab zu nehmen. So hätte ich demjenigen, in dessen Auftrag Sie mir schreiben, nichts weiter über diesen tief traurigen Gegenstand zu berichten. Wenn er jetzt ihrer gedenkt, möge er sie sich in der Schönheit vorstellen, die kein irdisches Gebrechen mehr zerstören kann – in der Vollkommenheit eines befreiten Geistes, der in der Gemeinschaft mit Gottes Engeln ewig selig ist.

Schließlich lassen Sie mich in meinem Briefe noch hinzufügen, dass der arme, alte Vater sein Leben nicht in dem Hause am See in freudloser Einsamkeit beschließen wird. Er wird den Rest seines Tage unter meinem Dache verleben; mein treues Weib wird ihn pflegen und meine Kinder werden ihn daran erinnern, dass das Leben auch noch lichte Seiten hat.«

So schloss der Brief. Ich legte ihn bei Seite und ging aus. Die Einsamkeit meines Zimmers gemahnte mich in unerträglicher Weise an die tiefe Einsamkeit meines zukünftigen Lebens. Meine Interessen in dieser geschäftigen Welt waren jetzt auf einen einzigen Gegenstand beschränkt – auf die Sorge um die zerrüttete Gesundheit meiner Mutter. Eine von den beiden Frauen, deren Herzen meist in liebevollem Verständnis für das meine geschlagen hatten, lag nun im Grabe, die andere war mir im fernen Lande für immer verloren. Ich begegnete meiner Mutter in ihrem kleinen Ponywagen auf dem Fahrwege am Strande, wie sie langsam in dem milden Wintersonnenschein dahin fuhr. Ich entließ den Kutscher, der sie fuhr und ging, die Zügel in der Hand, neben dem Wagen her. Wir plauderten ruhig über alltägliche Gegenstände. Ich verschloss der trüben Zukunft, die vor mir lag, meine Blicke und versuchte zwischen meinem Herzweh hindurch, entschlossen der gegenwärtigen Stunde zu leben.

Zweiunddreißigstes Kapitel
Der Ausspruch des Arztes

Sechs Monate sind vergangen und es ist wiederum Sommer geworden.

Der letzte Abschied ist überstanden. Das Leben meiner Mutter ist abgelaufen, so sehr meine Sorge für sie auch bemüht war es zu verlängern. Sie starb in meinen Armen; mir galten ihre letzten Worte, ihr letzter Blick auf Erden war auf mich gerichtet. In des Wortes traurigster und vollster Bedeutung, stehe ich nun allein in der Welt.

Durch diesen Trauerfall sind mir gewisse Pflichten auferlegt, die meine Anwesenheit in London erheischen und da ich mein Haus vermietet habe, wohne ich in einem Hotel. Neben mir wohnt mein Freund, Sir James, den auch Geschäfte nach London riefen. Wir frühstücken und dinieren in meinem Wohnzimmer gemeinschaftlich. So furchtbar mir die Einsamkeit augenblicklich auch ist, so kann ich mich doch nicht entschließen Gesellschaft aufzusuchen, der Gedanke an Menschen, die mir nur bekannt sind, widerstrebt mir. Auf Sir James’ Wunsch haben wir indessen einen Mitbewohner unseres Hotels zu Mittag zu uns eingeladen, dem mehr Auszeichnung als einem gewöhnlichen Gaste gebührt. Der Arzt, der mich zuerst von dem bedenklichen Gesundheitszustande meiner Mutter in Kenntnis setzte, wünscht dringend von mir Näheres über ihre letzten Augenblicke zu hören. Da seine kostbare Zeit in den früheren Tagesstunden zu besetzt ist, wird er unser Mittagsmahl mit uns teilen, wenn seine Patienten ihm die Zeit gönnen werden, seine Freunde aufzusuchen.

Unsere Mahlzeit ist fast beendet. Ich bemühte mich meine Selbstbeherrschung zu erhalten und habe ihm in wenigen Worten die einfache Geschichte von den letzten Lebenstagen meiner Mutter erzählt. Darauf wendet sich das Gespräch zu gleichgültigen Gegenständen, so dass ich von der Anstrengung, die ich gemacht hatte, ausruhen kann und in gewohnter Weise Muße zu meinen Beobachtungen finde. Währen des Gesprächs entdecke ich allmälig etwas in dem Benehmen des berühmten Arztes, was mich zuerst stutzig macht und was dann in mir den Argwohn erweckt, dass seine Anwesenheit einen Grund hat, den er nicht aussprach, der aber in irgend einer Beziehung zu mir stand. Ich bemerke immer wieder, dass seine Augen heimlich mit einem Interesse und einer Aufmerksamkeit auf mir ruhen, die er mir ängstlich zu verbergen sucht. Immer wieder nehme ich wahr, wie er die Unterhaltung von allgemeinen Gegenständen abzulenken sucht und mich veranlassen will von mir selbst zu sprechen und Sir James, obgleich er ihm ganz fremd ist, versteht und ermutigt ihn. Man befragt mich unter den verschiedensten Vorwänden über meine vergangenen Leiden und über meine Zukunftspläne. Unter anderen Gegenständen, die für mich von persönlichem Interesse waren, wurde das Gespräch auch auf übernatürliche Erscheinungen gelenkt. Man befragt mich, ob ich an geheime, geistige Beziehungen und an Geistererscheinungen von gestorbenen oder entfernten Personen glaube. Ich werde in geschickter Weise dazu veranlasst, dass ich durchblicken lasse, wie meine Ansichten über diese schwierige und vielfach angefochtene Frage einigermaßen durch eigene Erfahrungen beeinflusst sind. Aber Winke genügen nicht, um des Arztes harmlose Neugierde zu befriedigen, er versucht mich zu veranlassen, dass ich ganz genau erzähle, was ich in Bezug darauf gesehen und empfunden habe. Jetzt aber bin ich auf meiner Hut, ich mache Ausreden und vermeide standhaft meinen Freund in mein Vertrauen zu ziehen. Mir wird klarer und klarer, dass man mit mir ein Experiment machen will, bei dem Sir James und der Arzt gleich beteiligt sind. Indem ich mir nun äußerlich den Anschein gebe, als wäre ich in Bezug auf das, was um mich her vorgeht, frei von jedem Argwohn, beschließe ich innerlich den wahren Grund für den Besuch des Arztes, an diesem Abende, zu ermitteln und zu erforschen, was Sir James veranlasste ihn in meinem Namen einzuladen.

Gleich nachdem das Dessert aufgetragen ist, fördert eine günstige Gelegenheit meine Wünsche.

Der Kellner überbringt mir einen Brief und meldet mir, dass der Überbringer auf Antwort wartet. Ich öffne das Kuvert und finde einliegend einige Zeilen von meinen Rechtsbeiständen, die mich von der Vollziehung irgend eines Geschäftsabschlusses benachrichtigen. Sofort ergreife ich die gebotene Gelegenheit. Statt dem Boten einen mündlichen Bescheid zu überschicken, entschuldige ich mich und benutze den Brief als Vorwand um das Zimmer zu verlassen.

Nachdem ich den Boten, der unten wartet, abgefertigt habe, gehe ich in den Korridor, an dem meine Zimmer liegen und öffne leise die Tür meines Schlafzimmers. Eine zweite Tür, die in das Wohnzimmer führt, hat in ihrem oberen Teil ein Luftloch. Unter diese Stelle brauche ich mich nur zu begeben, damit jedes Wort, das zwischen Sir James und dem Arzte gewechselt wird, mein Ohr erreicht.

»So geben Sie mir also Recht?« waren die ersten Worte, die ich Sir James sagen hörte.

»Vollkommen,« antwortete der Doktor.

»Ich habe mein Möglichstes getan, um ihn von dieser einförmigen Lebensweise abzubringen,« fährt Sir James fort. »Ich habe ihn zu mir nach Schottland eingeladen, habe ihm vorgeschlagen mit mir den Kontinent zu bereisen, habe ihn gebeten mich auf meiner nächsten Reise in der Yacht zu begleiten. Für alles das hat er nur eine Antwort – er sagt zu allen meinen Vorschlägen »Nein.« Nun haben Sie von seinen eigenen Lippen gehört, dass er gar keine Zukunftspläne hat. Was soll da aus ihm werden? Was sollen wir mit ihm anfangen?«

»Das ist schwer zu sagen,« höre ich den Arzt erwidern. »Ehrlich gesagt finde ich das Nervensystem des Mannes ernstlich erschüttert. Als er mich zum ersten Male besuchte, um sich über den Zustand seiner Mutter bei mir Rat zu holen, bemerkte ich schon etwas Seltsames in seinem Wesen. Die Trauer über den Tod seiner Mutter hat also nicht allein das Unheil angerichtet. Nach meiner Ansicht ist sein Gemütszustand schon seit längerer Zeit – wie soll ich mich ausdrücken? – in Unordnung gewesen. Er ist ein sehr verschlossener Mensch und ich fürchte, dass ihn Sorgen bedrückt haben, die er zu niemand ausgesprochen hat. In seinem Alter sind die unaussprechbaren Lebenssorgen meist durch Frauen veranlasst. Seinem Charakter nach fasst er die Liebe von der romantischen Seite auf und da mag irgend eine der praktischen Frauen unserer Tage ihn bitter enttäuscht haben. Was nun auch die Veranlassung sein mag, der Erfolg ist leider klar genug – dass seine Nerven zugrunde gerichtet sind und natürlich leidet sein Gehirn mit, wenn seine Nerven leiden. Ich habe Menschen in demselben Zustande gekannt, die ein sehr trauriges Ende genommen haben. Wenn er seine Lebensweise nicht ändert, kann eine Geistesstörung daraus entstehen. Hörten Sie seine Äußerung, als wir über Geister sprachen?"

»Reiner Unsinn!« bemerkt Sir James.

»Reiner Sinnes-Wahn würde der richtigere Ausdruck sein,« erwidert der Doktor, »und daraus können in jedem Augenblick weitere Störungen entstehn.«

 

»Aber was ist zu tun,« beharrt Sir James; »ich muss Ihnen aufrichtig gestehn, Doktor, dass ich ein väterliches Interesse an dem armen Jungen nehme. Seine Mutter war eine meiner ältesten und liebsten Freundinnen und er hat viele ihrer gewinnenden, liebenswürdigen Eigenschaften geerbt. Hoffentlich halten Sie den Fall doch nicht für so schlimm, dass er in Gewahrsam genommen werden muss?«

»Für jetzt sicher noch nicht,« antwortet der Doktor. »Augenblicklich ist noch keinerlei Veranlassung ihn in Gewahrsam zu bringen. Er ist in der Tat ein schwieriger, bedenklicher Fall. Lassen Sie ihn von einem zuverlässigen Menschen im Stillen beaufsichtigen und hindern Sie ihn in nichts, so lange es Ihnen irgend möglich ist. Die geringste Kleinigkeit könnte seinen Verdacht erregen und, wenn wir den erweckten, würden wir damit jede Macht über ihn verlieren.«

»Sie meinen doch nicht etwa, Doktor, dass er uns jetzt schon beargwöhnt?«

»Das hoffe ich nicht. Ich sah, wie er mich ein oder zwei Mal verwundert anblickte und jetzt ist es schon recht lange her, seit er das Zimmer verlassen hat.«

Damit hatte ich nun genug gehört. Ich kehre durch den Korridor in mein Wohnzimmer zurück und nehme meinen Platz am Tische wieder ein.

Zum ersten Male in meinem Leben werde ich durch den Unwillen, der sich unter diesen Umständen natürlich in mir regt, zum guten Schauspieler. Ich erfinde die nötige Entschuldigung für meine lange Abwesenheit und beteilige mich wieder an der Unterhaltung, bei der ich aber jedes Wort ehe ich es ausspreche wohl erwäge, ohne in meinem Benehmen die geringste Rückhaltung merken zu lassen. Der Doktor verließ uns sehr früh am Abend, um einer wissenschaftlichen Versammlung beizuwohnen. Sir James bleibt noch eine halbe Stunde länger in meiner Gesellschaft. Wohl um meinen Gemütszustand noch einer weiteren Prüfung zu unterwerfen, wiederholt er mir seine Einladung nach Schottland. Ich tue, als ob ich mich durch seine beharrliche Aufforderung sein Gast zu sein, sehr geschmeichelt fühle und verspreche die Gründe für meine ablehnende Antwort noch einmal zu prüfen und ihm meinen Entschluss am nächsten Morgen beim Frühstück mitzuteilen. Sir James ist entzückt, wir schütteln uns herzlich die Hände und wünschen uns gegenseitig eine gute Nacht. Endlich nun bin ich allein.

Ohne einen Augenblick zu zögern ist mein Entschluss über das, was ich zunächst zu tun habe, gefasst. Ich nehme mir vor, am nächsten Morgen, ehe Sir James sich erhoben hat, das Hotel im Stillen zu verlassen.

Auch die Frage über meinen nächsten Bestimmungsort, die sich natürlich demnächst erhebt, ist bald beantwortet. Ich hatte mit meiner Mutter in ihren letzten Lebenstagen oft von den glücklichen Tagen gesprochen, die wir an den Ufern des Grünwassersees verlebten. Seit ihrem Tode nun hat die Sehnsucht, die alte Gegend noch einmal wiederzusehen, noch einmal wieder eine Zeitlang in den alten Umgebungen zu leben, die durch diese Gespräche genährt wurde, sich immer gesteigert. Zum Glück habe ich weder zu Sir James noch zu irgend jemand Anderem dieses Verlangen ausgesprochen, wenn ich also in dem Hotel vermisst werde ist es unmöglich, dass man eine Vermutung darüber hegt, wohin ich meine Schritte lenkte. Ich beschließe also am nächsten Morgen nach der alten Heimat in Suffolk abzureisen. Während ich die Umgebungen meiner Jugendzeit durchwandre, kann ich mit mir zu Rate gehen, wie ich die Last des Lebens, die vor mir liegt, am leichtesten zu tragen versuche.

Nach den Erfahrungen dieses Abends traue ich niemand mehr. Vielleicht wird morgen mein eigener Diener, so genau ich ihn auch von der entgegengesetzten Seite kenne, als Spion angestellt, der meine Handlungen überwachen soll. Wenn er heute Abend erscheint, um meine Befehle für die Nacht einzuholen, so sage ich ihm nur, dass er mich morgen früh um sechs Uhr wecken solle und dass ich seiner nicht weiter bedürfe. Dann schreibe ich zwei Briefe. Ich werde sie auf dem Tische zurücklassen, dort mögen sie nach meiner Abreise für sich selber reden.

Durch den ersten Brief benachrichtige ich Sir James ganz ruhig, dass ich den wahren Grund entdeckt habe, weshalb er den Doktor zum Diner eingeladen. Indem ich ihm für die Teilnahme danke, die er an meiner Wohlfahrt nimmt, verweigere ich es entschieden, noch ferner hinsichts meines Gemütszustandes zum Gegenstande ärztlicher Beobachtungen gemacht zu werden. Ich werde ihm versprechen, ihm seiner Zeit meine Zukunftspläne mitzuteilen, bis dahin soll er ohne Sorgen über meine Sicherheit sein. Es ist eine meiner krankhaften Einbildungen, dass ich mich völlig im Stande glaube, für mich selber zu sorgen. Mein zweiter Brief ist an den Wirt des Hotels gerichtet und enthält einfach meine Bestimmungen über mein Gepäck und den Betrag meiner Rechnung.

Dann betrete ich mein Schlafzimmer und verpacke in meiner Reisetasche die wenigen Sachen, die ich mitnehmen kann. In meinem Toilettenkasten habe ich mein Geld aufbewahrt und als ich ihn öffne, finde ich meinen lieben Talisman – die grüne Flagge. Wäre es möglich, dass ich zu der Grünwasserfläche zurückkehrte und des Vogtes Häuschen wiedersähe, ohne das einzige Andenken bei mir zu haben, das ich von der kleinen Mary besitze? Habe ich nicht außerdem Miss Dunroß versprochen, dass mich Marys Gabe überall hinbegleiten soll und ist mein Versprechen, jetzt wo sie tot ist, nicht doppelt heilig? Ich setze mich nieder und betrachte müßig eine Zeit lang das Sinnbild auf der Flagge – die auf grünem Grunde gestickte weiße Taube mit dem goldenen Olivenzweig im Schnabel. Meine Erinnerung kehrt zu der unschuldigen Liebesgeschichte meiner Kinderjahre zurück und führt mir den furchtbaren Kontrast zwischen jener Zeit und dem Leben, das ich jetzt führe, vor Augen. Ich wickle die Flagge zusammen und lege sie sorgfältig in meine Reisetasche. Damit ist nun Alles getan und ich kann bis zu Tagesanbruch der Ruhe pflegen.

Doch nein! Ich bemerke bald, nachdem ich mich niedergelegt habe, dass ich in dieser Nacht k

keine Ruhe finden kann.

Meine Gedanken kehren, nun ich keine Beschäftigung mehr habe, die sie in Anspruch nimmt und nun das erste Triumphgefühl über die Niederlage, die ich den Freunden bereite, die ein Komplott gegen mich schmiedeten, verrauscht ist, zu der Unterredung zurück, die ich belauschte und zeigen sie mir plötzlich in einem ganz neuen Lichte. Zum ersten Male tritt die furchtbare Frage an mich heran, ob ich denn sicher sein kann, dass der Arzt nicht Recht hat, der seine Meinung doch so ganz entschieden aussprach?

Dieser berühmte Mann hat sich nur durch seine Geschicklichkeit zu einem der ersten Ärzte emporgearbeitet. Er ist nicht einer von den Ärzten, die nur durch einnehmende Manieren und geschickte Benutzung gegebener Gelegenheiten Erfolge erzielen. Selbst seine Feinde räumen ihm ein, dass er bei Feststellung seiner Diagnose unerreicht in der Kunst dasteht, die wahren Symptome von den unwichtigeren zu unterscheiden und unbeirrt die Wirkungen auf ihre tief verborgenen Ursachen zurückzuführen weiß. Soll sich solch ein Mann grade über mich täuschen? Ist es nicht vielmehr wahrscheinlicher, dass ich mich über mich selbst täusche?

Blicke ich zurück in die verflossenen Jahre und gedenke der wunderbaren Ereignisse, die ich zeitweise zu erleben glaubte, wie kann ich sicher sein, dass sie nicht statt der Wirklichkeiten, für die ich sie hielt, nur ein eingebildetes Erzeugnis meines kranken Gehirns waren und von jedem Anderen dafür gehalten wurden? Was sind die Träume von Frau van Brandt, was ihre Geistererscheinungen, die ich mir einbilde gesehn zu haben? Sind sie nicht heimlich mit den Jahren herangewachsene Täuschungen? Täuschungen, die mich ganz allmälig dem endlosen Wahnsinn näher und näher bringen? Ist es nicht etwa krankhafter Argwohn, der mich gegen die treuen Freunde, die meine Vernunft retten wollen, so bitter macht? Ist es nicht krankhaftes Entsetzen, das mich treibt aus dem Hotel zu entfliehen, wie ein Verbrecher aus seinem Kerker flieht?

Diese Fragen quälen mich in der Stille der Nacht, während ich einsam wache. Mein Bett wird mir zur unerträglichen Folterbank. Ich stehe auf und kleide mich an und erwarte, indem ich aus dem geöffneten Fenster auf die Straße sehe, den Anbruch des Tages.

Die Sommernacht ist kurz. Wie eine Erlösung begrüße ich das graue Dämmerlicht, die Glut des herrlichen Sonnenaufgangs erhellt und erheitert meine Seele wiederum. Warum soll ich in dem Zimmer verweilen, das noch von den düsteren Zweifeln der Nacht erfüllt ist? Ich nehme meine Reisetasche zur Hand, lege meine Briefe im Wohnzimmer auf den Tisch und gehe die Treppe hinab nach der Haustür. Der Portier, der den Nachtdienst hat, schläft in seinem Stuhl. Er erwacht, als ich an ihm vorübergehe und sieht mich, Gott steh mir bei! auch an, als ob er mich für wahnsinnig hielte.

»Wollen Sie uns schon verlassen, mein Herr?« sagt er, indem er die Reisetasche in meiner Hand erblickt.

Ob toll oder vernünftig, meine Antwort habe ich bereit.

Ich sage, dass ich eine Landpartie für den Tag vorhabe und dass ich früh ausbrechen müsse, um den Tag recht auszunutzen.

Der Mann starrt mich noch immer an. Er fragt, ob er jemand rufen soll, der mir meine Tasche trägt. Ich wünsche nicht, dass jemand um meinetwillen gestört werde. Er fragt, ob ich irgend etwas an meinen Freund zu bestellen habe. Ich teile ihm mit, dass ich auf meinem Zimmer einige Zeilen für Sir James und den Wirt zurückgelassen habe. Darauf hin zieht er endlich die Riegel zurück und öffnet die Tür und blickt mir schließlich noch nach, als ob er mich für wahnsinnig hält.

Hätte er Recht oder Unrecht? Wer kann für sich selber einstehn? Wie kann ich das entscheiden?

Dreiunddreißigstes Kapitel
Ein letzter Blick auf die Grünwasserfläche

Der Weg durch die hellen, leeren Straßen und das Einatmen der frischen Morgenluft ermutigten mich.

Indem ich in der Richtung nach Osten die große Stadt durchschritt, ging ich in das erste Reisebüro, das ich antraf, um mir einen Platz in dem Postwagen nach Ipswich zu sichern. Von dort reiste ich mit Postpferden nach dem der Grünwasserfläche zunächst gelegenen Marktflecken. Am kühlen Abende durchwanderte ich einige Meilen weit die wohlbekannten Nebenwege, die mich zu unserem alten Hause führten. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchteten die wohlbekannte Fensterreihe an der Front des Hauses und ich sah, dass alle Laden geschlossen waren. Ringsumher war kein lebendes Wesen zu sehen. Als ich an der großen Türklingel schellte, bellte nicht einmal ein Hund. Die Besitzung war verlassen, das Haus verschlossen.

Nach langem Warten vernahm ich auf dem Flur schwere Fußtritte. Ein alter Mann öffnete die Tür. Ich erkannte ihn, trotzdem er sich verändert hatte, als einen unserer Pächter aus früherer Zeit. Zu seinem Erstaunen redete ich ihn bei seinem Namen an. Er, seinerseits, strengte sich ernstlich, aber vergebens an, mich wieder zu erkennen. Ohne Zweifel war ich es von uns beiden, mit dem die schmerzlichste Veränderung vorgegangen war – es blieb mir nichts übrig, als mich selbst vorzustellen Das welke Gesicht des armen Burschen erhellte sich langsam und schüchtern, als wäre er halb unfähig, halb besorgt, sich den ungewohnten Luxus eines Lächelns zu gestatten. Er begrüßte mich in seiner Verwirrung mit einem: »Willkommen daheim,« als ob das Haus mir noch gehörte!

Der gute alte Mann führte mich in die kleine Hinterstube, die er bewohnte, und gab mir Alles, was er zu bieten hatte – ein Abendessen von Speck und Eiern und dazu ein Glas selbst gebrauten Bieres. Augenscheinlich war es ihm schwer, zu begreifen, dass der einzige Zweck meines Besuches, wie ich ihm versicherte, nur darin bestand, dass ich noch einmal die traulichen Umgebungen meiner alten Heimat wiedersehen wollte. Er stellte mir aber bereitwilligst seine Dienste zur Verfügung und versprach, wenn ich es wünschte, sein bestes zu tun, um mir für die Nacht ein Bett aufzuschlagen.

Seit länger als einem Jahre war das Haus geschlossen und die Dienerschaft entlassen. Der reiche Kaufmann, der sich zur Zeit unserer häuslichen Sorgen hierher zurückgezogen hatte und uns das Haus abmietete, hatte noch im späteren Leben eine Leidenschaft für Rennpferde gefasst und sich dadurch zu Grunde gerichtet. Er war mit seiner Frau in das Ausland gegangen und lebte dort von dem kleinen Einkommen, das aus den Trümmern seines Vermögens gerettet war; das Haus und die Ländereien hatte er in einem so verwahrlosten Zustande zurückgelassen, dass sich bisher noch kein neuer Pächter dafür gefunden hatte. Mein alter Freund nun, der nicht mehr arbeitsfähig war, beaufsichtigte die Besitzung. Dermodys Häuschen war ebenfalls leer und so konnte ich es nach Wohlgefallen ganz und gar durchwandern. Der Hausschlüssel war mit anderen Schlüsseln an einem Bunde befestigt und der alte Mann stand, mit seinem alten Hut auf dem Kopfe, bereit mich zu begleiten, wohin ich immer gehen wollte. Ich lehnte seine Begleitung sowohl, als seine Absicht, mir in dem einsamen Hause ein Bett zu bereiten, ab, weil ich ihn nicht bemühen wolle. Die Nacht war schön, der Mond ging eben auf. Ich hatte zu Abend gegessen und mich ausgeruht. Wenn ich die Orte aufgesucht hatte, die ich wiederzusehen wünschte, so konnte ich sehr wohl nach dem Marktflecken zurückgehen und dort in meinem Gasthause übernachten.

 

Ich begab mich, mit dem Schlüssel in der Hand, allein durch die Felder auf den Weg nach Dermodys Hause.

Wiederum verfolgte ich nun den Waldweg, auf dem ich einst so glücklich mit meiner kleinen Mary dahinwanderte. Bei jedem Schritt erblickte ich irgend etwas, was mich an sie erinnerte. Hier stand die ländliche Bank, auf der wir im Schatten des alten Zederbaumes saßen und uns Treue bis an unser Lebensende schworen. Dort plätscherte der kleine, klare Bach, aus dem wir an schwülen Sommertagen, wenn wir müde und durstig waren, zu trinken pflegten, fröhlich wie sonst in den See herab. Mir war es immer, wie ich seinem kameradschaftlichen Gemurmel lauschte, als müsste sie in ihrem einfachen, weißen Kleide und Strohhut hier erscheinen, wie sonst, wo sie die Musik des Baches mit ihrem Gesang begleitete und ihren Strauß von Feldblumen erfrischte, indem sie ihn in das kühle Wasser tauchte. Einige Schritte weiter vorwärts erreichte ich eine Lichtung im Walde und stand auf einem kleinen Vorgebirge, das die lieblichste Aussicht über den Grünwassersee bot. Von dem Ufer aus war ein hölzernes Gerüst angebracht, das für gute Schwimmer, die einen Sprung in das tiefe Wasser nicht fürchteten, Gelegenheit zum Baden bot. Dahin stellte ich mich und schaute rings umher. Die Bäume, die das Ufer von beiden Seiten einfassten, rauschten ihren süßen Waldgesang durch die nächtliche Stille, das Licht des Mondes zitterte leise auf den plätschernden Wellen. Weiter zur Rechten erblickte ich gerade das alte hölzerne Dach, unter dessem Schutze in jenen Tagen, wo Mary mit mir in den See hinaus fuhr und mir die grüne Flagge stickte, mein Boot lag. Zu meiner Linken lag der hölzerne Zaun, der den Windungen der sich schlängelnden kleinen Bucht folgte, und dahinter erhoben sich die braunen Bogen des Entenfanges, der, weil er nicht benutzt wurde, im Begriff stand, zu verfallen. Von dem strahlenden Mondlicht begünstigt, konnte ich die Stelle sehen, wo Mary und ich gestanden hatten, um das Einfangen der Enten zu beobachten. Jetzt schritt durch das Loch im Zaun, durch das der zum Entenfang dressierte Hund sich auf Dermodys Signal gezeigt hatte, wie ein düsterer Schatten auf dem erleuchteten Boden, eine Wasserratte und verschwand im See. Wohin ich meine Blicke auch wenden mochte, von überall her blickte die Vergangenheit mich wie höhnend an und ihre Stimmen trafen vorwurfsbeladen an mein Ohr: Sieh, wie Dein Leben einst war! Ist jetzt Dein Leben des Lebens noch wert?

Ich hob einen Stein auf und warf ihn in das Wasser. Dann beobachtete ich, wie das Wasser sich um die Stelle ringelte, an er er versank. Ich überdachte mir, ob wohl je ein geübter Schwimmer, wie ich es war, versucht hatte, sich durch Ertrinken den Tod zu geben und an seinem Entschluss zu sterben so fest gehalten hätte, dass er der Versuchung, sich durch seine eigene Geschicklichkeit vor dem Versinken zu bewahren, widerstanden. Ich fühlte mich sehr erregt, ob durch den Anblick des Sees oder durch irgend etwas, was mit den Gedanken in Verbindung stand, die er in mir erweckt hatte, weiß ich nicht. Ich kehrte aber plötzlich der schönen Aussicht den Rücken und schlug den Waldweg ein, der zu dem Hause des Vogtes führte.

Als ich die Tür aufgeschlossen hatte, tastete ich mich bis zu dem wohlbekannten Wohnzimmer vorwärts und öffnete die Fensterladen, um das Mondlicht hineinscheinen zu lassen.

Mit schwerem Herzen blickte ich um mich her. In jedem Teil des Zimmers machte die veraltete Einrichtung, die an einer oder zwei Stellen erneuert war, ihr stummes Anrecht an meine alte Bekanntschaft geltend. Das sanfte Mondlicht strömte quer durch das Zimmer in die Ecke, in der Mary und ich zusammenzusitzen pflegten, während Dame Dermody am Fenster in ihren mystischen Büchern las. In der entgegengesetzten Ecke entdeckte ich, von der Dunkelheit verhüllt den hochlehnigen Armstuhl von geschnitztem Eichenholz, in welchem die Sybille des Hauses an jenem denkwürdigen Tage saß, als sie uns von unserer bevorstehenden Trennung sprach und zum letzten Male ihren Segen gab. Als ich dann eine Umschau an den Wänden des Zimmers hielt, entdeckten meine Blicke, wohin ich sie auch richtete, alte Freunde: da die buntfarbigen Bilder, dort die eingerahmten Stickereien, die wir für wundervolle Kunstleistungen hielten, und den alten runden Spiegel, zu dem ich Mary oftmals emporheben musste, wenn sie »ihr Gesicht im Spiegel zu sehen« wünschte. Überall, wohin das Mondlicht drang, zeigte es mir wohlbekannte Gegenstände, die mich an die glücklichsten Tage meines Lebens erinnerten. Wiederum blickte die Vergangenheit mich höhnisch an. Wiederum hörte ich die Stimme aus alter Zeit mich voller Vorwurf fragen: Sieh, wie einst Dein Leben war! Ist es jetzt noch des Lebens wert?

Ich setzte mich am Fenster, von wo aus ich hin und wieder das Wasser des Sees durch die Bäume schimmern sah, nieder und dachte bei mir selbst: »So weit habe ich meine Lebensreise zurückgelegt. Warum soll ich sie nicht hier beschließen?«

Wenn morgen mein Selbstmord bekannt wird, wer würde um mich trauern? Von allen lebenden Menschen war ich es vielleicht, der die geringste Zahl von Freunden besaß; ich hatte die wenigsten Pflichten gegen Andere, hatte keinen Grund zu zögern, wenn ich eine Welt verlassen wollte, die mir für meinen Ehrgeiz kein geeignetes Feld, für meine Liebe keinen Gegenstand bot.

Und warum brauchte es überhaupt bekannt zu werden, dass ich selbst den Tod gesucht hatte? Ich konnte es sehr wohl so einrichten, dass man einem unglücklichen Zufall die Schuld beimaß.

War es nicht natürlich, dass ich an diesem schönen Sommerabende, ehe ich nach der langen Reise zu Bett ging, ein Bad in den kühlen Fluten des Sees nahm? Und konnte es mir nicht, trotzdem ich ein gewandter Schwimmer war, begegnen, dass mich unglücklicherweise ein Krampf befiel? An dem einsamen Ufer der Grünwasserfläche musste der Hilferuf eines Ertrinkenden in der Nacht ohne Erfolg bleiben, so erklärte sich also der »unglückliche« Zufall von selbst. Es stand mir also nur die Schwierigkeit im Wege, die ich mir vorhin schon vergegenwärtigt hatte. Würde ich stark genug sein, dem tierischen Instinkt der Selbsterhaltung zu widerstehen und meinem Untergehen bei dem ersten Sprunge nicht zu wehren?

Die Luft im Zimmer war dick und schwer. Ich verließ es und ging draußen, bald im Schatten, bald im Mondschein, unter den Bäumen vor der Haustür auf und ab.

In diesem Augenblick hatte keiner der moralischen Gründe, die gegen den Selbstmord sprechen, irgend einen Einfluss auf mich. Ich, der ich einst weder eine Entschuldigung noch auch nur ein Verständnis für die Verzweiflung finden konnte, die Frau van Brandt zu dem Versuche, sich das Leben zu nehmen, trieb, ich betrachtete jetzt mit voller Ruhe die Tat, die mich mit Entsetzen erfüllt hatte, als ich sie von einem anderen Wesen ausführen sah! Wir sollten aus dem einen unerklärlichen Grunde recht zögern, ehe wir die Fehltritte unserer Mitmenschen verdammen, dass wir nämlich nie sicher sein können, ob nicht ähnliche Versuchungen uns verleiten, dieselben Fehltritte auch zu begehen. Wenn ich jetzt an die Ereignisse jener Nacht zurückdenke so erinnere ich mich nur, dass eine Erwägung meinen Fuß von dem verhängnisvollen Pfade zurückhielt, der zum See führte. Ich zweifelte immer wieder, ob es für einen so geübten Schwimmer, wie ich es war, überhaupt möglich sei, sich zu ertränken. Das allein beunruhigte mich. Übrigens war mein Testament gemacht und es blieben nur wenige meiner Angelegenheiten ungeordnet zurück. Ich hegte auch nicht die geringste Hoffnung für eine Wiedervereinigung mit Frau van Brandt.