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Zwei Schicksalswege

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Zwei Schicksalswege (EPUB)
Zwei Schicksalswege (EPUB)
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Nachdem ich die Sache noch etwas durchgedacht hatte, stand ich auf, um mein Zimmer zu untersuchen.

Keinerlei Entdeckung entschädigte mich für mein Suchen, bis ich zur Türe gelangte. Diese war, wie ich mich ehe ich zu Bett ging sicherlich überzeugt hatte, fest zu gemacht, wenn auch nicht verschlossen, jetzt stand sie offen. War sie aufgesprungen, weil ich sie nicht gut geschlossen hatte oder vergaß jemand, der mein Zimmer betreten hatte und wieder hinaus gegangen war, sie zu schließen?

Zufällig sah ich zur Erde, während ich diese Möglichkeiten erwog, und bemerkte einen kleinen, schwarzen Gegenstand auf dem Teppich, der gerade unter dem Schlüssel an der innern Seite der Tür lag. Ich hob ihn auf und sah, dass es ein zerrissenes Stückchen schwarzer Spitzen war.

So wie ich das Stückchen Spitze sah, erinnerte ich mich des langen, schwarzen Schleiers, den Miss Dunroß gewohnt war, weit über die Taille herabhängend, zu tragen. War es also ihr Kleid, das ich leise über den Teppich hingleiten hörte? Ihr Kuss, der meine Stirn berührte? Ihr Seufzer, der durch die Stille der Nacht gedrungen war? Hatte dies edle, schwergeprüfte Wesen in der Todesruhe der Nacht von mir Abschied genommen, indem sie den trügerischen Erscheinungen, die mir den Anschein eines Schlafenden gaben, die Bewahrung ihres Geheimnisses anvertraut hatte? Ich sah die schwarze Spitze wieder an. Wahrscheinlich war ihr Schleier durch den hervorstehenden Schlüssel erfasst und zerrissen worden, als sie sich auf ihrem schnellen Rückzuge aus meinem Zimmer befand. Ernst und feierlich legte ich das Stück Spitze zu den teuren Andenken, die ich aus meiner Heimat mitgebracht hatte und gelobte, dass sie bis an ihr Lebensende ruhig in dem Glauben bleiben sollte, dass ihr Geheimnis in ihre eigene Brust verschlossen war. So brennend ich auch wünschte noch einmal zum Abschied ihre Hand zu drücken, so beschloss ich nun keinen Versuch mehr zu machen, um sie zu sehen. Wer weiß, ob ich so ganz Herr meiner Gefühle war, dass nicht irgend etwas in meinem Gesicht oder Benehmen mich ihrer schnellen und feinen Auffassungsgabe verriet. Nachdem was ich jetzt wusste, konnte ich ihr kein größeres Opfer bringen, als ihren Wünschen gehorsam zu sein und ich brachte es.

Nach einer Stunde benachrichtigte mich Peter, dass die Ponys vor der Tür ständen, und dass sein Herr mich auf dem äußeren Flur erwarte. Ich bemerkte, dass Mr. Dunroß mir, ohne mich anzusehen, die Hand reichte. Er erhob seine verblichenen, blauen Augen während der wenigen Minuten, die unser Gespräch dauerte, nicht einmal vom Boden. »Gott geleite Sie auf Ihrer Reise und führe Sie glücklich in Ihre Heimat«, sagte er. »Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie nicht einige Meilen weit auf Ihrer Reise begleite, ich habe zwingende Gründe, die mich veranlassen bei meiner Tochter zu Hause zu bleiben.«

Er war auserlesen, fast peinlich höflich, aber ein gewisses Etwas in seinem Wesen, das ich nie zuvor bemerkt hatte, machte mir seine Absicht, mich möglichst fern zu halten, fühlbar. Da ich die innige Sympathie und das volle Vertrauen kannte, das zwischen Vater und Tochter bestand, überkam mich ein Zweifel, ob das Geheimnis der verflossenen Nacht für Mr. Dunroß wohl auch ein völliges Geheimnis sein mochte. Seine nächsten Worte beseitigten meinen Zweifel und enthüllten mir die Wahrheit.

Als ich ihm für seine wohlgemeinten Wünsche dankte, versuchte ich ihm und durch ihn auch Miss Dunroß meine aufrichtig empfundene Dankbarkeit für alle Freundlichkeiten, die ich unter seinem Dache erfahren hatte, auszusprechen. Er unterbrach mich höflich, aber entschieden, indem er in jener ziemlich gewählten Weise sprach, die mir schon bei unserer ersten Unterredung, als so charakteristisch aufgefallen war.

»Es steht ganz in Ihrer Macht, mein Herr," sagte er, »jede Freundlichkeit, die Ihnen nach Ihrer Ansicht in meinem Hause zu Teil geworden ist, zu erwidern. Wenn Sie gefälligst Ihren hiesigen Aufenthalt als einen unwichtigen Lebensabschnitt für sich betrachten wollen, welcher mit Ihrer Abreise endet – unwiderruflich endet – so vergelten Sie mehr als reichlich, Alles, was Sie an Gastfreundschaft von mir genossen haben. Ein Pflichtgefühl veranlasst mich Ihnen das zu sagen und ich lasse Ihnen dabei als Ehrenmann volle Gerechtigkeit widerfahren. Ihrerseits hoffe ich, dass Sie meine Gründe nicht falsch beurteilen werden, wenn ich mich auch einer näheren Erklärung enthalte.«

Eine leichte Röte überzog seine bleichen Wangen, während er mit stolzer Zurückhaltung meine Antwort erwartete Ich ehrte ihr Geheimnis und ehrte es ihrem Vater gegenüber vollends.

»Nach Allem, was ich Ihnen zu danken habe, mein Herr, sind Ihre Wünsche mir Befehle,« antwortete ich, verneigte mich mit besonderer Ehrerbietung und verließ schweigend das Haus.

Wie sie es gewünscht hatte, sah ich, als ich meinen Pony bestieg, nach dem Mittelfenster hinauf. Es war geöffnet, aber die zugezogenen Vorhänge versperrten dem Licht eifersüchtig den Eingang in das Innere des Zimmers. Als sich der Pony in Bewegung setzte und sein Hufschlag auf dem steinigen Boden der Insel erscholl, wurde der Vorhang ein wenig zurückgezogen. In dem Zwischenraum der dunklen Verhüllungen erschien eine zarte, weiße Hand, winkte mir zitternd ein letztes Lebewohl zu und verschwand vor meinen Blicken. Der Vorhang schloss sich wieder vor ihrem düsteren, einsamen Leben. Der melancholische Wind sang über den leicht bewegten Wassern des Sees leise sein eintöniges Klagelied. Die Ponys bestiegen die Fähre, die den Transport von Tieren nach und von der Insel vermittelte. Mit langsamen, regelmäßigen Schlägen ruderten uns die Männer zum Festlande hinüber und verabschiedeten sich dort. Ich schaute nach dem fernen Hause zurück und gedachte ihrer, die im dunklen Zimmer geduldig des Todes harrte. Heiße Tränen verschleierten mir den Blick so, dass der Führer meinen Zügel ergriff, indem er sagte: »Ihnen ist nicht wohl, mein Herr lassen Sie mich Ihren Pony führen.«

Wir waren bereits von dem höher gelegenen Teile der Insel in den niederen gelangt, als ich mein Interesse wieder der Landschaft zuwendete. Haus und See waren meinen Blicken auf Nimmerwiedersehen entschwunden.

Vierundzwanzigstes Kapitel
Im Schatten von St. Paul

Nach Verlauf von zehn Tagen befand ich mich wieder daheim in den Armen meiner Mutter.

Da ihre Gesundheit sehr angegriffen war, hatte ich sie, um dieser Seereise willen sehr ungern verlassen. Mit großer Betrübnis entdeckte ich bei meiner Rückkehr eine Verschlimmerung ihres Zustandes, von der sie in ihren Briefen nichts erwähnt hatte. Als ich unsern ärztlichen Freund, Mr. Mac Glue, darüber zu Rate zog, erfuhr ich, dass auch er den ungünstigen Gesundheitszustand meiner Mutter kannte, ihn aber einer leicht zu hebenden Ursache, nämlich dem schottischen Klima, zuschrieb. Meine Mutter hatte ihre Kindheit und frühere Jugend an der Südküste Englands verlebt. Die Übersiedlung in das rauhe, scharfe Klima des Nordens, war für eine Frau in ihrem Alter immerhin bedenklich. Nach Mr. Mac Glues Ansicht konnten wir nichts besseres tun, als noch vor dem Herbst nach dem Süden zurückzukehren und uns so einzurichten, dass wir den bevorstehenden Winter in Penzance oder Torquay verlebten.

Mr. Mac Glues Vorschlag stieß meinerseits auf keinerlei Widerspruch, da ich so wie so entschlossen war am Ende des Monats meiner geheimnisvollen Berufung nach London Folge zu leisten. Für mich hatte die Sache den großen Vorteil, dass, wenn meine Mutter dem Vorschlage des Arztes beistimmte, damit einer zweiten Trennung von ihr vorgebeugt war. Ich legte ihr noch am selben Tage die Frage vor. Sie war zu meiner großen Freude nicht nur erbötig die Reise nach dem Süden zu unternehmen, sondern sogar begierig es zu tun. Die Jahreszeit war, selbst für Schottland, ungewöhnlich feucht gewesen und meine Mutter gestand endlich mit Zögern ein, dass sie sich nach der milden Luft und dem heitren Sonnenschein der Küste von Devonshire sehne.

Wir beschlossen in unserem eigenen, behaglichen Wagen mit Postpferden zu reisen und nachts in den Gasthäusern an der Straße zu rasten. Vor der Zeit der Eisenbahnen war es für einen Kranken kein geringes Unternehmen von Portshire nach London zu reisen, selbst nicht in einem leichten Wagen mit vier Pferden. Ich fand, als ich die Zeit berechnet, die wir für unsere Reise gebrauchten, dass es nur eben nicht möglich war, London am letzten Tage des Monats zu erreichen. Welche geheime Unruhe mein Gemüt unter diesen Umständen belastete, will ich nicht aussprechen. Zu meinem Glück hielt wenigstens die Gesundheit meiner Mutter die Reise aus. Die behagliche und, wie wir damals fanden, schnelle Weise zu reisen, wirkte belebend auf ihre Nerven. Sie schlief nachts in den Herbergen auf dem Wege besser, als sie zu Hause geschlafen hatte. Am letzten Tage des Monats nachmittags um drei Uhr langten wir in London an, nachdem wir zwei Mal einen Aufenthalt auf der Reise gehabt hatten. War es noch Zeit für mich, als ich meinen Bestimmungsort erreichte?

Nach meiner Auffassung der Worte, die mir die Erscheinung aufgeschrieben hatte, standen noch einige Stunden zu meiner Verfügung. Ich deutete mir den Satz: am Ende des Monats, als wäre die letzte Stunde des letzten Tages im Monate damit gemeint. Wenn ich diesen Abend um zehn Uhr meinen Platz »im Schatten von St. Paul« einnahm, so befand ich mich ja noch zwei Stunden lang an dem bestimmten Ort, ehe die Uhr mit ihrem letzten Schlage den Anfang des neuen Monats verkündete.

Um halb neun Uhr verließ ich meine Mutter, damit sie sich nach der langen Reise zur Ruhe begeben konnte und begab mich heimlich auf den Weg. Vor zehn Uhr war ich zur Stelle. Die Nacht war klar und schön und der riesige Schatten der Kirche bezeichnete deutlich die Grenzen in denen ich die kommenden Ereignisse erwarten sollte.

Die große Glocke von St. Paul schlug zehn und Alles blieb still.

Die nächste Stunde verging sehr langsam. Ich schritt auf und ab, bald in meine eigenen Gedanken vertieft, bald beobachtend, wie die Zahl der Fußgänger mit den vorrückenden Nachtstunden abnahm. Die City, wie man sie nennt, ist am Tage der bevölkertste Teil von London. Nachts aber, wenn sie aufhört der Mittelpunkt des Geschäftslebens zu sein, verschwindet ihre tätige Bevölkerung und die leeren Straßen gewinnen das Ansehn, als bildeten sie eines der entlegensten Viertel der Hauptstadt. Als es halb Elf, dann drei Viertel und endlich die volle Stunde schlug wurde es stiller und stiller ringsumher. Die Fußgänger kamen nur noch zu Zweien und Dreien vorüber und die öffentlichen Lokale, die ich beobachten konnte, wurden schon für die Nacht geschlossen.

 

Ich sah nach der Uhr, sie zeigte auf zehn Minuten nach Elf. Konnte ich hoffen Frau van Brandt um diese Zeit allein auf der Straße zu begegnen?

Je mehr ich darüber nachdachte, je unwahrscheinlicher wurde mir diese Aussicht. Vernünftiger war es auf die Möglichkeit eines Begegnens in Gesellschaft von Freunden zu hoffen, vielleicht begleitete sie van Brandt selbst. Ich erwog in wie weit es mir gelingen würde, diesem Menschen gegenüber zum zweiten Male meine Selbstbeherrschung zu bewahren.

Während meine Gedanken diese Richtung verfolgten, wurde meine Aufmerksamkeit durch ein dünnes, trübes Stimmchen, das eine seltsame, unscheinbare Frage an mich richtete, wieder auf meine Umgebung gelenkt.

»Mein Herr, wissen Sie vielleicht, wo ich um diese Nachtzeit eine Apotheke offen finde?«

Ich sah mich um und erblickte einen kleinen, ärmlich gekleideten Knaben mit einem Korbe am Arm und einem Zettel in der Hand.

»Die Apotheken sind alle geschlossen,« sagte ich, »wenn Du Medizin haben willst, musst Du die Nachtglocke ziehen.«

»Das getraue ich mich nicht zu tun, lieber Herr,« antwortete der kleine Fremde. »Ich bin noch so klein, ich fürchte sie schlagen mich, wenn ich sie, ohne dass jemand für mich spricht, aus ihren Betten heraus klingle.«

Das kleine Wesen sah mir beim Schein der Straßenlaternen wohl danach aus, als hätte es manche Erfahrung über Schläge für geringfügige Anlässe gemacht. Ich vermochte dem Drange ihm zu helfen unmöglich zu widerstehen.

»Ist jemand ernstlich erkrankt?« fragte ich.

»Ich weiß nicht, lieber Herr.«

»Hast Du ein Rezept vom Arzte?«

Er zeigte mir seinen Zettel.

»Dieses hier habe ich,« sagte er.

Ich nahm ihm das Papier ab und besah es.

Es war das gewöhnliche Rezept zu einer stärkenden Medizin. Die Unterschrift des Arztes zeigte einen Namen, der mir vollständig unbekannt war. Darunter stand der Name des Kranken für den die Medizin verschrieben war. Ich erstaunte, als ich ihn las. Der Name war: »Mrs. Brand«.

Sofort bemächtigte sich meiner der Gedanke, dass wenigstens dem Klange nach, dies die englische Übertragung des Namens van Brandt sein sollte.

»Kennst Du die Dame, die Dich nach der Medizin schickte?« fragte ich.

»Oja, lieber Herr! Sie wohnt bei meiner Mutter und schuldet ihr die Miete. Ich habe Alles getan, was sie mir aufgetragen hat, nur die Medizin habe ich nicht geholt. Ich habe ihren Ring verpfändet und habe Brot und Butter und Eier gekauft, habe auch auf das Geld gut Acht gegeben. Meine Mutter hofft aus dem Gelde die Miete zu erlangen. Ich kann nichts dafür, lieber Herr, dass ich mich verlaufen habe. Ich bin erst zehn Jahre alt – und alle Apotheken sind geschlossen!«

Hier übermannte meinen kleinen Freund das Bewusstsein seines unverdienten Missgeschicks und er begann zu weinen. »Weine nicht, ich will dir helfen, kleiner Mann,« sagte ich. »Erst erzähle mir aber noch mehr von der Dame. Ist sie allein?«

»Sie hat Ihr kleines Töchterchen bei sich, lieber Herr.«

Mein Herz schlug schneller. Des Knaben Antwort erinnerte mich an jenes kleines Mädchen, das meine Mutter einst gesehen.

»Ist der Gemahl der Dame bei ihr?« fragte ich weiter.

»Jetzt nicht, lieber Herr. Er war bei ihr, ist aber fortgegangen und nicht wieder gekommen.«

Ich tat nur noch eine Frage zum Schluss.

»Ist der Mann ein Engländer?«

»Meine Mutter sagt, er sei ein Ausländer,« antwortete der Knabe. Ich wendete mich ab um meine Aufregung zu verbergen. Selbst dem Kinde hätte sie auffallen müssen!

War ich in diesem Augenblicke wiederum auf ihrer Spur? War sie es, die unter dem Namen einer Mrs. Brandt, arm, so arm, dass sie ihren Ring verpfänden musste, mit ihrer kleinen Tochter hier lebte, wiederum von dem Manne, der ein Ausländer war, verlassen. Sollte dieses Kind, das sich verlaufen hatte, unbewusst mein Wegweiser zu der Frau sein, die ich liebte, und die ich in tiefster Not ohne Teilnahme und Hilfe finden sollte? Je mehr ich darüber nachdachte, je mehr befestigte sich der Gedanke in mir, dass ich mit dem Knaben zu dem Hause zurückgehen sollte, wo sich die Mieterin seiner Mutter befand. Die Uhr schlug ein Viertel nach Elf. Wenn meine Vermutungen mich irre leiteten, so hatte ich ja immer noch drei Viertelstunden übrig, ehe der Monat zu Ende ging.

»Wo wohnst du?« fragte ich.

Der Knabe nannte eine Straße, deren Namen ich zum ersten Male hörte. Als ich ihn nach einer näheren Angabe fragte, war Alles, was er mir sagen konnte, dass er noch am Fluss wohne, aber er war zu verwirrt und erschrocken, um mir die Richtung bezeichnen zu können.

Während wir bemüht waren uns zu verständigen, fuhr nicht fern von uns eine Droschke langsam vorbei. Ich rief den Kutscher heran und nannte ihm den Namen der Straße. Er kannte sie ganz genau. Die Straße lag ungefähr eine Meile weit in östlicher Richtung. Er war bereit mich hin und, wenn ich es wünschte auch zurück nach der St. Pauls Kathedrale zu fahren und brauchte dazu nur zwanzig Minuten. Ich öffnete den Wagenschlag und hieß meinen kleinen Freund einsteigen. Der Knabe zögerte.

»Um Vergebung, lieber Herr, fahren wir nach der Apotheke?« fragte er.

»Nein. Erst wirst Du mit mir nach Hause fahren.«

Der Knabe fing wieder an zu weinen.

»Die Mutter schlägt mich, wenn ich ohne Medizin nach Hause komme.«

»Ich werde dafür sorgen, dass Deine Mutter Dich nicht schlägt. Ich bin selbst ein Arzt und wünsche die Dame zu sehen, ehe wir ihr die Medizin holen.«

Die Mitteilung über meinen Beruf schien dem Knaben ein gewisses Vertrauen einzuflößen, dennoch zeigte er keine Lust mich nach Hause zu seiner Mutter zu begleiten.

»Werden Sie sich von der Dame bezahlen lassen?« fragte er. »Ich habe für den Ring nicht viel Geld bekommen. Die Mutter würde das nicht gerne von der Miete abziehen lassen.«

»Die Dame braucht mir keinen Pfennig zu bezahlen.« erwiderte ich. Sofort bestieg der Knabe die Droschke. »Wenn die Mutter ihr Geld bekommt, so ist mir Alles recht.«

Armer Knabe! Dieses Kindes Erziehung für die schmutzigsten Sorgen des Lebens, war mit zehn Jahren schon beendet!

Wir fuhren ab.

Fünfundzwanzigstes Kapitel
Ich folge meiner Berufung

Die meisten Menschen in meiner Lage würden durch das ärmliche Aussehen der Straße, in die wir einbogen sowohl, als durch den unsauberen, verfallenen Zustand des Hauses vor dem wir anhielten, darauf vorbereitet worden sein, dass ihrer, wenn sie die Wohnung darin betreten, eine furchtbare Entdeckung harren musste. Mir hingegen drängte sich beim ersten Anblick dieses Ortes die Befürchtung auf, dass die Antworten des Knaben mich irre geleitet hatten denn es war mir geradezu unmöglich Frau van Brandt, wie sie mir vorschwebte, mit dem Schmutze und der Armut in Verbindung zu bringen, die ich vor mir sah. Ich klingelte mit der festen Überzeugung, dass meine Fragen zu keinem befriedigenden Resultate führen könnten.

Meines kleinen Begleiters Furcht vor Strafe kehrte in aller Kraft zurück, als ich die Hand an die Klingel legte. Er verbarg sich hinter mir und als ich ihn fragte, was er beginne, antwortete er vertrauensvoll: »Bitte, lieber Herr, bleiben Sie zwischen uns stehen, wenn die Mutter die Tür öffnet.«

Eine große, furchtbar aussehende Frau, öffnete uns. Es bedurfte keiner Vorstellung, da sie einen Rohrstock in der Hand hielt, erkannte ich sie sofort als die Mutter meines kleinen Freundes.

»Ich glaubte es sei mein Junge, dieser Vagabunde,« erklärte sie, wohl um die Begrüßung mit dem Rohrstock zu entschuldigen »der seit zwei Stunden fort ist, um etwas einzuholen. Was ist Ihnen gefällig, mein Herr?«

Ehe ich über meine eigene Angelegenheit sprach, bat ich für den unglücklichen Knaben.

»Dieses Mal bitte ich für Ihren Sohn um Verzeihung,« sagte ich, »ich fand ihn verirrt auf der Straße und bringe ihn nun nach Hause.«

Die Frau wurde buchstäblich stumm vor Erstaunen, als sie hörte, was ich getan hatte und ihren Sohn hinter mir entdeckte. Der Ausdruck ihrer Augen, die bei dieser Gelegenheit beredter waren, als ihre Zunge, enthüllte mir vollständig den Eindruck, den ich auf sie gemacht hatte. – »Sie bringen meinen verirrten Jungen in einer Droschke nach Hause? Mein Herr Unbekannter Sie sind toll.«

»Ich höre, dass eine Dame namens Brandt in Ihrem Hause wohnt,« fuhr ich fort. »Ich setze wohl irrtümlicherweise voraus, dass sie eine Dame aus meiner Bekanntschaft ist, die denselben Namen trägt, aber ich würde mich doch gerne versichern, ob ich mich täusche oder nicht. Ist es zu spät um Ihre Mieterin noch heute Abend zu stören?«

Die Frau erlangte die Sprache wieder.

»Meine Mieterin ist noch auf, um den kleinen Narren hier, der sich noch nicht einmal in London zurechtfinden kann, zu erwarten.« Sie gab ihren Worten Nachdruck indem sie ihre braune Faust gegen ihren Sohn erhob, der sofort in sein Versteck hinter meinen Rockschößen zurückkehrte. »Hast Du das Geld bekommen?« fragte das entsetzliche Weib, indem sie ihren verborgenen Sprössling, über meine Schulter weg, anschrie, »oder hast Du das auch, wie Dich selbst verloren, dummer Junge?«

Der Knabe kam wieder zum Vorschein und legte das Geld in die schwielige Hand seiner Mutter. Sie zählte es, während ihre Augen gierig forschten, ob auch jede Münze von gutem, echten Silber war – dann wurde sie ruhiger. »Geh hinauf!« brummte sie zu ihrem Sohne gewendet, und lass die Dame nicht länger warten.« Dann setzte sie, indem sie sich nach mir umwendete hinzu: »Sie und ihr Kind sind halb verhungert. Die Esswaren, die mein Sohn im Korbe für sie geholt hat, sind das Erste, was die Mutter heute genießen wird. Sie hat jetzt Alles versetzt und ich weiß nicht, was sie anfangen wird, wenn Sie ihr nicht helfen. Der Arzt tut was er kann, aber er sagte mir heute, dass seine Besuche unnütz wären, wenn sie nicht besser genährt werden könnte. Folgen Sie dem Knaben und sehen Sie selbst, ob sie die Dame ist, die Sie kennen.

Ich hörte der Frau noch immer in der Überzeugung zu, dass mich nur eine Täuschung in dieses Haus geführt hatte. Wie war es möglich, dass mein Herz den reizenden Gegenstand seiner Verehrung mit der Schilderung von Elend und Verfall in Verbindung bringen konnte, die ich soeben vernahm. Ich hielt den Knaben auf dem ersten Treppenabsatz an und sagte ihm, dass er mich einfach als einen Arzt anmelden möchte, der von Mrs. Brandts Krankheit gehört habe und sie besuchen wolle.

Wir stiegen eine zweite und dritte Treppe hinauf. Im obersten Stockwerk des Hauses angelangt, klopfte der Knabe an die auf dem Flur zunächst belegene Tür. Wir hörten keine Erwiderung. Er öffnete ohne Umstände die Tür und trat ein, während ich von draußen belauschte, was gesprochen wurde. Die Tür blieb offen. Ich beschloss in rücksichtsvollster Weise meine Hilfe anzubieten, wenn die Stimme der Mrs. Brandt mir, wie ich mit Sicherheit voraussetzte, fremd sein sollte und dann schleunig aus meinen Posten »im Schatten von St. Paul« zurückzukehren.

Zuerst sprach eine Kinderstimme zu dem Knaben.

»Jemmy, ich bin so hungrig, so sehr hungrig!«

»Schon gut, Fräuleinchen, ich bringe Ihnen etwas zu essen.«

»Schnell, schnell, Jemmy!«

Es entstand eine kleine Pause und dann hörte ich die Stimme des Knaben wieder.

»Da ist ein Stückchen Butterbrot, Fräuleinchen, auf das Ei müssen Sie warten bis ich es gekocht habe. Essen Sie nicht zu schnell, sonst müssen Sie ja ersticken. Was fehlt Ihrer Mama? Schlafen Sie Madame?« Ich konnte kaum die Antwort vernehmen, so schwach war die Stimme und sie sagte auch nur das eine Wort »Nein!«

Der Knabe sprach wieder:

»Freuen Sie sich Mrs. draußen wartet ein Arzt, der Sie besuchen will.«

Ich konnte dieses Mal keine Antwort vernehmen. Der Knabe erschien in der Tür. »Bitte treten Sie näher, lieber Herr, ich weiß nicht, was ich aus ihr machen soll.«

Da es eine sehr falsche Rücksicht gewesen wäre, wenn ich mich geweigert hätte in das Zimmer

zu kommen, trat ich ein.

Am entgegengesetzten Ende des erbärmlich ausgestatteten Schlafzimmers, in einen zerlumpten Armstuhl gelehnt, erblickte ich eines von den Tausend verlassenen Geschöpfen, die in der großen Stadt diese Nacht elend dem Hungertode entgegen gingen. Ein weißes Taschentuch war über ihr Gesicht gedeckt, wohl um es vor der hellen Flamme des nahen Feuers zu schützen. Als ich das Zimmer betrat und sie meine Schritte vernahm, lüftete sie das Tuch. Ich sah sie an und erkannte in dem farblosen, verfallenen, todesbleichen Gesicht – das Antlitz der Frau, die ich liebte!

 

Für einen Augenblick machte der Schreck über diese Entdeckung mich ganz ohnmächtig und schwindlig, im nächsten Augenblick kniete ich an ihrem Stuhl. Mein Arm hielt sie umschlungen – ihr Kopf ruhte an meiner Schulter. Sie vermochte nicht mehr zu sprechen, nicht aufzuschreien, sie erbebte leise, das war Alles. Ich schwieg. Kein Wort kam über meine Lippen, keine Träne linderte meine Qualen. Ich drückte sie an mich und – sie ließ es geschehen. Das Kind, das sein Butterbrot an einem kleinen, runden Tischchen verzehrte, sah uns erstaunt an. Träge schlichen die Minuten vorüber, während das Summen einer Fliege das einzige Geräusch im Zimmer war.

Es war weniger das volle Bewusstsein der entsetzlichen Lage in der ich mich befand, als das Pflichtgefühl des Berufes, in dem ich erzogen war, das mich endlich aufschreckte. Sie war dem Hungertode nahe, das sah ich an der todesbleichen Farbe ihrer Haut, das fühlte ich an den matten, unruhigen Schlägen ihres Pulses. Ich rief den Knaben herbei und schickte ihn nach dem nächsten Laden nach Wein und Biskuit. »Hole es so schnell als möglich,« sagte ich, »und ich will Dir mehr Geld dafür geben, als Du in Deinem ganzen Leben besessen hast!« Der Knabe sah mich an – blinzelte nach dem Gelde, das er in der Hand hielt und lief so schnell, wie je ein Knabe gelaufen ist davon, indem er ausrief: »Welch ein Glück!«

Als ich mich eben umwendete um der Mutter die ersten Trostesworte zu sagen, hielt der Schrei des Kindes: »Ich bin so hungrig, ich bin so hungrig,« mich davon zurück.

Ich reichte ihr noch mehr zu essen und küsste sie, worauf sie mich verwundert anblickte.

»Bist Du ein neuer Papa?« fragte das kleine Geschöpf. »Mein anderer Papa küsst mich nie.«

Ich sah die Mutter an. Sie hatte die Augen geschlossen und leise rollten die Tränen über ihre bleichen, hageren Wangen. Ich erfasste ihre abgezehrte Hand, indem ich sagte: »Es werden bessere Tage kommen, jetzt sorge ich für Sie.« Sie antwortete nicht. Sie zitterte leise – das war Alles.

Nach kaum fünf Minuten kehrte der Knabe zurück und hatte den versprochenen Lohn verdient. Als einziges, glückliches Wesen in diesem Zimmer saß er an der Erde beim Feuer und zählte seine Schätze. Ich tauchte einige Biskuitbrocken in den Wein und belebte allmählich ihre sinkende Kraft, indem ich ihr in dieser vorsichtigen Weise Nahrung zuführte. Nach einer Weile erhob sie den Kopf und sah mich mit erstaunten Augen an, die rührende Ähnlichkeit mit den Augen ihres Kindes hatten. Ein schwaches, zartes Rot überflog ihr Gesicht. In flüsternden Tönen, die ich nur vernehmen konnte, weil ich dicht neben ihr saß, sprach sie die ersten Worte zu mir:

»Wie fanden Sie mich auf? Wer zeigte Ihnen den Weg hierher?«

Sie schwieg, indem sie mühsam eine Erinnerung zurückzurufen schien. Ihre Farbe stieg, endlich fand sie die verlorene Erinnerung wieder und blickte mich mit schüchterner Neugierde an. »Wie kommen Sie hierher? Führt Sie ein Traum zu mir?«

»Warten Sie bis Sie kräftiger sind, Teuerste, dann will ich Ihnen Alles sagen.«

Ich hob sie leise auf und trug sie auf ihr elendes Lager. Das Kind folgte uns und kletterte mit meiner Hilfe auf das Bettstell, um sich dicht an die Mutter zu schmiegen. Ich schickte den Knaben hinaus und ließ der Hauswirtin sagen, dass ich die Nacht bei der Kranken bleiben würde, um ihre Fortschritte in der Genesung zu beobachten. Er ging, fröhlich mit seinem Geld in der Tasche klappernd, um seinen Auftrag auszuführen. So waren wir drei denn allein.

Von Zeit zu Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlaf, während die Stunden langsam dahin schlichen, dann erwachte sie wieder mit einem Schreck und starrte mich wild an, als ob ich ein Fremder sei, der an ihrem Bette säße. Gegen Morgen tat die Nahrung, die ich ihr immer sorgfältig beigebracht hatte, ihre Wirkung, indem der Puls sich besserte und sie ruhiger zu schlafen begann. Als die Sonne aufging schlief sie so friedlich, wie das Kind an ihrer Seite. Ich konnte es wagen sie in der Obhut ihrer Wirtin zu lassen bis ich im Laufe des Tages zurückkehrte. Der Zauber des Geldes verwandelte diese lärmende, entsetzliche Person in eine sanfte, aufmerksame Krankenwärterin, die so bestrebt war alle meine Anforderungen pünktlich zu befolgen, dass sie mich bat, sie, ehe ich ging, niederzuschreiben. Einen Augenblick lang weilte ich noch allein am Bette der schlafenden Frau und vergewisserte mich selbst zum hundertsten Male ehe ich sie verließ, dass ihr Leben außer Gefahr sei. Sie dem Leben erhalten zu wissen, leise ihre kalte Stirn mit meinen Lippen berühren zu dürfen, wieder und immer wieder in das elende, bleiche Antlitz blicken zu können, das trotz aller Wechsel meinen Augen immer schön erschien, das war mir der süßeste Lohn. Leise schloss ich die Tür und schritt, nun wieder ein glücklicher Mensch, in den hellen Morgen hinaus. So nah bei einander liegen die Quellen des Glückes und des Unglückes im menschlichen Leben! So nah ist der hellste Sonnenschein den schwärzesten Wolken, in unserem Herzen, wie an unserem Himmel.