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Zwölftes Capitel

Gegen drei Uhr Nachmittags hielt der Hauptmann an der nächsten Station vor Offory an, wo die Eisenbahn durch Essex vorbeigeht. Nachfragen, die er auf der Stelle veranlaßte, bekehrten ihn, daß er nach St. Crux zu Wagenfahren, dort eine Viertelstunde bleiben und nach der Station rechtzeitig zum Abendzug nach London zurückkehren konnte. Zehn Minuten später war der Hauptmann wieder auf der Landstraße und fuhr eilig in der Richtung nach der Küste zu.

Nachdem er einige (englische) Meilen auf der Straße zurückgelegt hatte, machte die Kutsche eine Wendung und fuhr in ein verwickeltes Netzwerk von Kreuzwegen hinein.

– Sind wir noch weit von St. Crux? fragte der Hauptmann ungeduldig, nachdem Meile auf Meile zurückgelegt war, ohne daß sich das Ende der Reise absehen ließ.

– Sie werden das Haus bei der nächsten Wendung der Straße sehen, Sir, sagte der Kutscher.

Die nächste Wendung der Straße brachte sie wieder in Sicht des offenen freien Feldes. Gerade vor dem Wagen sah Hauptmann Wragge eine lange dunkle Linie gegen den Himmel, die Linie des Seedammes, welcher die untere Küste von Essex vor Ueberschwemmung schützt. Das flache Zwischenland war von einem Wirrsal von zeitweiligen Bächen durchschnitten, welche sich von der unsichtbaren See her in wunderlichen phantastischen Wendungen und Sprüngen landeinwärts zogen, Flüsse bei Hochwasser, Schmutzcanäle bei niederem Wasserstande. Zu seiner Rechten lag ein nettes kleines Dorf, zumeist aus Holzhäusern bestehend und sich an den Rand eines jener Rinnsale erstreckend. Zu seiner Linken weiter hin erhoben sich die düsteren Ruinen einer Abtei mit einem langen niederen trostlosen Pfeiler von ungeheurer Höhe und großem Alter, der sich daran lehnte. Eins der Flüßchen, – welche man beiläufig in Essex »Hinterwasser«26 nennt, schlängelte sich fast rings um das Gebäude herum. Ein anderes, das von der entgegengesetzten Seite kam, schien geradewegs durch das Feld zu laufen und einen Flügel der gestaltlosen Masse des Gebäudes, welcher leidlich ausgebessert war, von dem andern, der eigentlich beinahe eine Ruine war, abzutrennen. Holzbrücken und Ziegelsteinbrücken liefen über den Fluß und machten das Gebäude von allen Gegenden des Compasses aus zugänglich. In der Nachbarschaft ließ sich keine menschliche Seele sehen, und man hörte keinen Ton außer dem rauhen Gebell des Haushundes aus einem unsichtbaren Hofe herausschallen.

– An welcher Thür soll ich Vorfahren, Sir, fragte der Kutscher, an der vorderen oder an der Hinterthür?

– An der Hinterthür, sagte Hauptmann Wragge, welcher fühlte, daß, je weniger er Aufmerksamkeit in seiner gegenwärtigen Lage auf sich zöge, desto besser es für selbige sein werde.

Die Kutsche ging zwei Mal über den Fluß, ehe der Kutscher auf dem Felde in eine traurige Steinumfassung einlenken konnte. An einer offenen Thür des bewohnten Theiles des Gebäudes saß ein verwitterter alter Diener, welcher sich emsig mit einem halbfertigen Schiffsmodell zu schaffen machte. Er stand aus und trat an den Kutschenschlag, indem er seine Brille auf die Stirn hinaufschob und erstaunt aussah über die Erscheinung eines Fremden.

– Wohnt Mr. Noël Vanstone hier? frug Hauptmann Wragge.

– Ja, Sir, antwortete, der alte Mann. Mr. Noël kam gestern an.

– Nehmen Sie doch diese Karte für Mr. Vanstone, wenn Sie so gut sein wollen, sagte der Hauptmann, und sagen Sie ihm, ich wartete darauf, ihn zu sehen.

In wenigen Minuten kam denn auch Mr. Noël Vanstone athemlos und mit Spannung in seinen Zügen zum Vorschein, von Begierde, Nachrichten aus Aldborough zu hören, verzehrt. Hauptmann Wragge öffnete den Wagenschlag, ergriff ihn bei der ausgestreckten Hand und zog ihn ohne Umstände zu sich in die Kutsche.

– Ihre Haushälterin ist fort, flüsterte der Hauptmann, und Sie werden Montag getraut werden. Regen Sie sich nicht auf und sprechen Sie Ihre Gefühle nicht aus, es ist keine Zeit dazu. Nehmen Sie den ersten Dienstboten im Hause, der Ihnen in den Weg kommt, her und lassen Sie sich Ihr Gepäck in zehn Minuten packen, sagen Sie dem Admiral Lebewohl und, kommen Sie sofort mit mir zurück zum Londoner Zuge.

Mr. Noël Vanstone versuchte schwach eine Frage zu thun. Der Hauptmann weigerte sich sie anzuhören.

– Sprechen Sie auf der Landstraße, soviel Sie wollen, sagte er, die Zeit ist viel zu kostbar, um sie mit Sprechen zu vergeuden. Oder können wir wissen, ob nicht die Lecount sich die Sache anders überlegt? Können wir wissen, ob sie nicht zurückkommt, ehe sie nach Zürich gelangt?

Diese beunruhigende Erwägung schreckte Mr. Noël Vanstone in augenblicklichen Gehorsam hinein.

– Was soll ich aber zum Admiral sagen? fragte er in bitterlicher Verlegenheit.

– Sagen Sie ihm, Sie sollten eben vermählt werden, natürlich! Was verschlägt es, jetzt, wo die Lecount den Rücken gewandt hat? Wenn er sich wundert, daß Sie es ihm nicht eher gesagt haben, so erklären Sie ihm, es sei eine Heirath mit Entführung, und die Braut warte Ihrer. Halt noch eins! Alle Briefe, welche in Ihrer Abwesenheit an Sie abgeschickt werden, werden natürlich hierher gerichtet? Geben Sie dem Admiral diese Couverts und sagen Sie ihm, daß er Ihre Briefe im Einschluß an meine Adresse schickt. Ich bin ein alter Kunde in dem Hotel, zu welchem wir gehen, und wenn wir das Haus gefüllt finden sollten, so wird der Wirth zuverlässig alle Briefe in Acht nehmen, welche meinen Namen tragen. Eine sichere Adresse in London für Ihre Correspondenz kann von der größten Wichtigkeit sein. Wie können wir wissen, ob nicht die Lecount auf ihrer Reise nach Zürich an Sie schreiben wird?

– Was für einen Kopf haben Sie doch, rief Mr. Noël Vanstone, indem er begierig die Couverts an sich nahm, Sie denken auch an Alles!

Er verließ den Wagen in großer Erregung und eilte ins Haus zurück. Zehn Minuten darauf hatte ihn Hauptmann Wragge in sicherem Gewahrsam, und die Pferde setzten sich zur Rückfahrt in Bewegung.

Die Reisenden erreichten London denselben Abend noch bei guter Zeit und fanden in dem Hotel Unterkunft.

Wohl wissend, welch eine unruhige, neugierige Natur der Mann war, mit dem er zu thun hatte, hatte Hauptmann Wragge eine kleine Schwierigkeit in Bereitschaft gesetzt, wenn es galt, die Fragen zu beantworten, die Wir. Noël Vanstone auf dem Wege nach London an ihn richten würde. Zu seiner großen Freude nahm aber eine aufregende Entdeckung in seinem Hauswesen die ganze Aufmerksamkeit seines Reisegefährten gleich beim Beginne der Reise in Anspruch. Durch ein außerordentliches Versehen, hatte man am Vorabende der Hochzeit vergessen, Miss Bygrave eine Kammerjungfer zu besorgen! Mr. Noël Vanstone erklärte, daß er. die ganze Verantwortung auf sich nehmen wolle, diesen Mangel in der Anordnung auf seine Schultern zu laden. Er wolle Mr. Bygrave nicht behelligen, ihm Beistand zu leisten, er wolle, sobald sie an ihren Bestimmungsort kämen, sich mit der Wirthin des Hotels besprechen und die Candidatinnen für das offene Amt selbst prüfen und erwählen. Auf dem ganzen Wege nach London kam er immer und immer wieder auf diesen Gegenstand zurück, den ganzen Abend im Hotel war er alle Augenblicke im Zimmer der Wirthin, bis er sie füglich nöthigte, die Thür vor ihm zu verschließen. Bei jedem andern Punkte, der sich auf seine Hochzeit bezog, war er im Hintergrunde belassen worden, war genöthigt gewesen, in die Fußtapfen seines gescheidten Freundes zu treten: bei der Angelegenheit der Kammerjungfer forderte er endlich sein ihm zukommendes Recht, – er folgte Niemand mehr – er nahm die Zügel selber in die Hand!

Der Vormittag des nächsten Tages ward damit zugebracht, um Heirathsdispens zu erlangen. Die persönliche Auszeichnung, daß er die eidliche Erklärung abgeben mußte, nahm Mr. Noël Vanstone mit Eifer an und schwor nun in ganz gutem Glauben – auf die vorher von dem Hauptmann erhaltene Mittheilung hin, – daß die Dame das gesetzliche Alter habe. Als man sich die Urkunde verschafft hatte, kehrte der Bräutigam zurück, um die Charaktere und Eigenschaften der dienst suchenden Dienerinnen zu prüfen, welche die Wirthin in das Hotel beschieden hatte, während sich Hauptmann Wragge »um ein persönliches Geschäft abzumachen«, nach der Wohnung eines Freundes in einem entfernten Theile von London begab.

Der Freund des Hauptmanns war mit den Gesetzen vertraut, und das Geschäft des Hauptmanns war zwiefacher Natur. Sein erster Zweck war, sich über die gesetzlichen Folgen der bevorstehenden Trauung für die Zukunft des Eheherrn und seiner Gattin zu unterrichten. Sein zweiter Zweck war, gleich von vornherein Anstalt zu treffen, um alle Spuren des Aufenthaltsortes zu vertilgen, nach welchem er sich nunmehr begeben würde, sobald er Aldborough am Hochzeitstage verlassen würde. Als er seinen Zweck in beiderlei Hinsicht glücklich erreicht hatte, kehrte er in das Hotel zurück und fand Mr. Noël Vanstone, wie er seine beleidigte Würde in dem Wohnzimmer der Wirthin wahrte. Drei Kammerjungfern waren erschien um ihre Prüfung zu bestehen und hatten sich alle, als es auf die Lohnfrage kam, unverschämterweise rundweg geweigert, die Stelle anzunehmen. Eine vierte Bewerberin wurde den nächsten Tag erwartet, und Mr. Noël Vanstone weigerte sich auf das Bestimmteste, die Hauptstadt eher zu verlassen, bis sie erschienen war. Hauptmann Wragge bezeigte sein Mißvergnügen über den so für die Rückkehr nach Aldborough verursachten unnöthigen Verzug; dies machte aber keinen Eindruck. Mr. Noël Vanstone schüttelte seinen eigensinnigen kleinen Kopf und weigerte sich feierlich, seine Verantwortung auf die leichte Achsel zu nehmen.

Das erste Ereigniß, das am Sonnabend Morgen vorfiel, war die Ankunft von Mrs. Lecounts Brief an ihren Herrn als Einschluß in eins der Couverte, die der Hauptmann an sich selbst adressiert hatte. Er empfing ihn nach einer vorher getroffenen Verabredung mit dem Kellner in seinem Schlafzimmer, las ihn mit der gespanntesten Aufmerksamkeit und legte ihn dann sorgfältig in seine Brieftasche. Der Brief war unheilverkündend für die Zukunft, wenn die Haushälterin nach England zurückkehrte, und er war es Magdalenen schuldig, ihr, die sie die bedrohte Person war, die Warnung vor Gefahr selbst zu überantworten.

 

Später am Tage erschien die vierte Bewerberin um die Kammerjungferstelle, ein junges Frauenzimmer von geringen Aussichten und unterwürfigem Benehmen, – wie die Wirthin bemerkte – wie eine an Mißgeschick gewöhnte Person. Sie bestand die hochnothpeinliche Prüfung mit Erfolg und nahm den gebotenen Lohn ohne Murren an. Nachdem nun das Dienstverhältniß beiderseitig festgestellt war, traten neue Verzögerungen ein, von denen Wir. Noël Vanstone abermals die Ursache war. Er konnte sich nicht entschließen, ob er für den Trauring mehr als eine Guinea geben solle oder nicht, und vergeudete den Rest des Tages in einem Juwelenladen nach dem andern in so unseliger Weise, daß er und der Hauptmann und die Kammerjungfer, welche mit ihnen reiste, mit knapper Noth den letzten Zug, der am Abend von London abging, erreichen konnten.

Es war spät in der Nacht, als sie die Eisenbahn verließen, wo die nächste Station nach Aldborough war. Hauptmann Wragge war wunderbarer Weise die ganze Fahrt über in Stillschweigen versunken gewesen. Sein Geist war beunruhigt. Er hatte Magdalenen unter sehr kritischen Umständen bei keiner geeigneten Person, um sie im Auge zu behalten, verlassen und war ganz in Unwissenheit über den Gang, den die Ereignisse in seiner Abwesenheit auf Nordsteinvilla genommen haben konnten.

Dreizehntes Capitel

Der erste Umstand, der sich nach Hauptmann Wragges Abreise zu Aldborough ereignete, hatte die Bestimmung, in einer späteren Zeit zu ernsten Verwickelungen zu führen.

Sobald Mrs. Wragges Eheherr den Rücken gewendet hatte, empfing sie die Botschaft, welche er bei seiner Abreise durch das Dienstmädchen ihr sagen ließ. Sie eilte ins Wohnzimmer, verwirrt durch ihre stürmische Unterredung mit dem Hauptmann und reumüthig sich bewußt, daß sie Unrecht gethan hatte, aber ohne zu wissen, worin das Unrecht bestand. Wenn Magdalenens Geist nicht von, dem einem Gedanken der Heirath so ganz in Anspruch genommen worden wäre, wenn sie Sammlung genug besessen hätte, um auf Mrs. Wragges wirre Erzählung Dessen, was während ihrer Unterredung mit der Haushälterin vorgefallen, zu lauschen, so würde der Besuch der Mrs. Lecount in dem Garderobenzimmer früher oder später zur Sprache gekommen sein, und Magdalene hätte, obschon sie wohl nimmer die Wahrheit geahnt hätte, wenigstens die Warnung erhalten, daß irgend ein gefährliches Element verrätherisch in der Alpacarobe verborgen lauere. Wie die Dinge aber lagen, so erfolgte kein solcher Umstand auf Mrs. Wragges Erscheinen im Wohnzimmer, denn kein solcher Umstand war jetzt möglich.

Ereignisse, welche früher am Morgen eingetreten waren, Ereignisse, welche vor Tagen und Wochen schon vorgefallen waren, waren so vollständig aus Magdalenens Gedächtniß entschwunden, als wenn sie nie stattgefunden hätten. Das Schreckbild des herannahenden Montags, die unbarmherzige Gewißheit, welche bis auf Tag und Stunde fest bestimmt vorlag, machte alles Gefühl in ihr zu Stein und alles Denken in ihr zunichte. Mrs. Wragge machte drei Mal Versuche, um aus den Gegenstand des Besuchs der Haushälterin zu sprechen zu kommen. Das erste Mal hätte sie sich ebenso gut an den Wind wenden können oder an das Meer. Der weite Versuch schien beinahe etwas erfolgreicher zu sein. Magdalene seufzte, hörte einen Augenblick gleichgültig zu und verlor dann den Gegenstand.

– Es thut Nichts, sagte sie. Das Ende ist doch gekommen, wie es kommen sollte. Ich bin nicht böse auf Sie. Sprechen Sie nicht weiter davon.

Später am Tage versuchte es Mrs. Wragge, weil sie nicht wußte, wovon sie sonst reden sollte, zum dritten Male.

Dies Mal wandte sich Magdalene ungeduldig nach ihr hin. Um Gottes Willen, machen Sie mir mit solchen Kleinigkeiten den Kopf nicht warm! Ich kann es nicht ertragen.

Mrs. Wragge schloß ihre Lippen auf der Stelle und kam nun nicht wieder auf die Sache zurück. Magdalene, welche zu allen anderen Zeiten freundlich mit ihr gewesen, hatte es ihr unwillig verboten. Der Hauptmann, ganz und gar in Unbekanntschaft mit dem Interesse, das Mrs. Lecount an den Geheimnissen des Kleiderschreins hatte, war niemals so nahe daran gewesen. Alle Kenntniß, die er aus dem verwirrten Verstande seiner Frau herausbekommen konnte, hatte er durch unmittelbare Fragen erhalten, welche er lediglich nach eigenem Ermessen an sie stellte.

Er hatte ohne weitere Entschuldigungen auf klaren undeutlichen Antworten bestanden und, wie gewöhnlich, seinen Zweck erreicht. Seine Abreise am selben Morgen hatte ihm keine Zeit gelassen, die Frage noch ein Mal aufs Tapet zu bringen, selbst für den Fall, daß ihm seine Erbitterung gegen seine Frau ihm dies verstattet hätte. Da hing denn also die Alpacarobe unbeachtet in der finsteren Ecke, der nicht beargwohnte, unbemerkte Mittelpunkt von Gefahren, die noch im Schooße der Zukunft lagen. —

Gegen den Nachmittag faßte sich Mrs. Wragge ein Herz, um selbst einen Vorschlag zu machen, sie empfahl einen kleinen Gang ins Freie.

Magdalene setzte theilnahmlos ihren Hut auf, begleitete theilnahmlos ihre Gefährtin auf dem öffentlichen Spaziergange, bis sie zu dessen Nordende kamen. Hier war das Ufer einsam, und hier setzten sie sich denn nebeneinander auf die angeschwemmten Steine nieder. Es war ein heller fröhlicher Tag; Vergnügungsboote segelten auf dem ruhigen blauen Wasser; Aldborough machte heitere Ausflüge zu Land und zu Wasser. Mrs. Wragge gewann bei diesem Anblicke ihre Fröhlichkeit wieder und warf wie ein Kind Kieselsteinchen in die See. Von Zeit zu Zeit richtete sie; einen Verstohlenen Blick auf Magdalenen, sah jedoch in deren Benehmen kein Zeichen der Aufmunterung, in deren Antlitz keine Veränderung zur Gemüthlichkeit. Sie saß schweigend da auf dem Geröllabhange, die Ellenbogen aufs Knie gestützt, das Haupt aus die Hand gelehnt, hinausschauend über das Meer, hinausblickend mit unverrückter Aufmerksamkeit und doch mit Augen, die Nichts zu sehen schienen. Mrs. Wragge wurde der Kiesel überdrüssig und verlor auch die Lust nach den Vergnügungsbooten zu schauen. Ihr großer Kopf begann schwerfällig zu nicken, und sie schlummerte in der warmen schwülen Luft ein. Als sie erwachte, waren die Lustfahrer weit hinweg, ihre Segel waren nur noch weiße Pünktchen in der Entfernung. Die Schaar der Spaziergänger auf dem Ufer war dünner geworden, die Sonne war am Horizont gesunken, die blaue See war dunkler und schauerte von einem Windstoß zusammen. Die Veränderungen Von Luft und Erde und Meer zeigten den abnehmenden Tag an, überall waren Veränderungen, – nur nicht dicht an ihrer Seite. Da saß Magdalene noch in derselben Stellung mit müden Augen, die noch immer über das Meer schauten und noch immer Nichts sahen.

– Ach, sprechen Sie doch mit mir! sagte Mrs. Wragge.

Magdalene fuhr zusammen und sah zerstreut um sich.

– Es ist spät, sprach sie fröstelnd von der sich erhebenden Brise, das erste Gefühl, dessen sie sich bewußt wurde. Kommen Sie nach Hause; Sie müssen Ihren Thee haben.

Und so wandelte sie schweigend heim.

– Seien Sie nicht böse über mein Fragen, sagte Mrs. Wragge, als sie am Theetisch beisammen saßen. Sind Sie in Ihrer Seele betrübt, meine liebe Dame?

– Ja, versetzte Magdalene. Geben Sie nicht Acht auf mich. Mein Kummer wird bald vorüber sein. Sie wartete geduldig, bis Mrs. Wragge mit ihrem Mahl zu Ende war, und ging dann wieder auf ihr Zimmer hinauf.

– Montag, sprach sie, als sie an ihrem Putztisch saß. Es kann Etwas dazwischen kommen, ehe es Montag wird.

Ihre Finger irrten gegenstands- und zwecklos unter den Kämmen und Bürsten umher, unter den kleinen Flaschen und Kästchen, welche auf dem Tische standen. Sie setzte sie in Ordnung, bald auf diese, bald aus jene Weise und stieß sie dann plötzlich wieder in einen Haufen zusammen und von sich. Eine Minute etwa blieben ihre Hände müßig. Diese Pause verstrich, dann wurden sie wieder unruhig und zogen die beiden kleinen Fächer in dem Tische heraus und hinein in ihren Geschieben. Unter den kleinen Gegenständen, die sich darin befanden, war auch ein Gebetbuch, das ihr aus Combe-Raven gehört hatte und das sie mit ihren anderen Andenken aus der alten Zeit, wo sie und ihre Schwester von zu Hause Abschied genommen hatten, bewahrt hatte. Sie öffnete das Gebetbuch nach langem Zögern bei dem Trauungsformular, schloß es wieder, ehe sie noch eine Zeile gelesen, und stieß es eilends wieder in eines der Schubfächer hinein. Nachdem sie den Schlüssel in dem Schlosse herumgedreht hatte, stand sie auf und ging ans Fenster.

– Die entsetzliche See! sprach sie, indem sie sich mit einem Schauder des Mißbehagens davon abwendete. Die einsame, traurige, entsetzliche See!

Sie ging zu dem Schubkästchen zurück und nahm das Gebetbuch zum zweiten Male heraus, öffnete es abermals beim Trauungsdienste halb und warf es wieder ungeduldig in das Fach zurück. Dies Mal nahm sie, als sie zugeschlossen hatte, den Schlüssel ab, ging damit ans offene Fenster und warf ihn heftig in den Garten hinab. Er fiel in ein Beet, das dicht mit Blumen bepflanzt war. Er war nicht mehr zu sehen: er war verloren. Das Gefühl, ihn verloren zu haben, schien ihr eine Erleichterung zu gewähren.

– Etwas kann Freitag kommen, Etwas kann Sonnabend kommen, Etwas kann Sonntag kommen. Drei Tage noch!

Sie schloß die grünen Läden vor dem Fenster und zog die Vorhänge zu, um das Zimmer noch dunkler zu machen. Ihr Haupt wurde schwer, ihre Augen brannten. Sie warf sich auf ihr Bett mit einem plötzlichen Verlangen, die Zeit zu verschlafen.

Die Ruhe des Hauses unterstützte sie dabei, die Dunkelheit des Zimmers kam ihr zu Hilfe, die Betäubung ihres Geistes, in welche sie verfallen war, that ihre Wirkung auf ihre, Sinne: sie fiel in einen unruhigen Schlaf. Ihre unstäten Hände bewegten sich aller Augenblicke, ihr Haupt wandte sich von einer Seite zur andern auf dem Kissen, – aber noch immer schlief sie. Alsbald kamen ihr ein, zwei Worte über die Lippen, Worte im Schlafe geflüstert, immer zusammenhängender werdend, immer deutlicher ausgesprochen, je länger der Schlaf andauerte, Worte, welche ihre Unruhe zu beschwichtigen und sie in immer tiefere Ruhe hinein zu lullen schienen. Sie lächelte, sie war in den glücklichen Gefilden des Traumgottes – Franks Name entschlüpfte ihr.

– Liebst Du mich, Frank? .. flüsterte sie. Ach, mein Liebling, sag es noch ein Mal, sag es noch ein Mal!…

Die Zeit verging, das Zimmer wurde dunkler, und noch schlummerte und träumte sie. Gegen Sonnenuntergang fuhr sie wieder im Bette auf, in einem Augenblicke wach, ohne daß ein Geräusch in oder außer dem Hause dazu Anlaß gegeben hätte. Die schwüle Dunkelheit des Zimmers flößte ihr Entsetzen ein. Sie eilte ans Fenster, stieß die Läden auf und lehnte sich weit hinaus in die Abendluft und das Abend dunkel. Ihre Augen verschlangen die alltäglichen Gegenstände auf dem Ufer, ihre Ohren schlürften das trauliche Murmeln des Meeres durstig ein. Nichts, das sie von den aufregenden Eindrücken befreien konnte, die ihre Träume hinterlassen hatten! Nicht mehr Dunkelheit, nicht mehr Ruhe! Der Schlaf, welcher zu Anderen wie eine Gnade von oben kam, war zu ihr mit Verrath gekommen. Der Schlaf hatte ihre Augen nur für die Zukunft verschlagen, um sie für die Vergangenheit zu öffnen.—

Sie ging wieder in das Wohnzimmer hinunter, es verlangte sie darnach zu plaudern, gleichviel wie nichtssagend, gleichviel, über welche Kleinigkeiten es sei. Das Zimmer war leer. Vielleicht war Mrs. Wragge an ihre Arbeit gegangen, – vielleicht war sie auch müde zu Plaudern. Magdalene nahm ihren Hut vom Tische und ging aus. Die See, von welcher sie vor wenigen Stunden zurückgebebt war, sah jetzt freundlich aus. Wie lieblich war sie jetzt in ihrem kühlen Abendblau! Was für eine göttliche Freude in dem fröhlichen Wogengetümmel, das da empordrängte dem Lichte des Himmels entgegen!

Sie blickte hinaus, bis die Nacht hereinfiel und die Sterne blinkten. Die Nacht brachte sie zur Besinnung.

Allmählich erhielt ihr Geist das Gleichgewicht wieder, und sie schaute unerschrocken ihrem Schicksal ins Auge. – Die eitle Hoffnung, daß ein Zufall das Ende vereiteln möchte, auf das sie aus eigenem, freiem Willen ohne Unterlaß hingearbeitet hatte mit Listen und Ränken, erblich und verließ sie, sich selbst auflösend in ihre eigene Schwäche. Sie kannte die wahre Wahl und sah ihr ins Angesicht. Auf der einen Seite war der beängstigende Abgrund der Hochzeit, auf der andern das Aufgeben ihres Vorhabens. War es zu spät, noch zu wählen zwischen dem Opfer ihrer selbst? Ja, zu spät. Es gab für sie keine Umkehr mehr. Die Zeit, welche kein Wunsch mehr abwenden konnte, die Zeit, welche kein Gebet zurückrufen konnte, hatte ihr Vorhaben eins gemacht mit ihr selbst: einstmals hatte sie es noch in der Hand, jetzt hatte dasselbe sie in der Hand. Je sehr sie zurückbebte, je härter sie rang, desto unbarmherziger trieb es sie an. Kein anderes Gefühl in ihr war stark genug, es in ihr zu meistern, sogar das Entsetzen nicht, das sie toll machte, das Entsetzen vor der Vermählung.

 

Gegen neun Uhr ging sie zurück in das Haus.

– Wieder ausgegangen! sagte Mrs. Wragge, die ihr in der Thür begegnete. Kommen Sie herein und setzen Sie sich nieder, meine Liebe. Wie müde müssen Sie sein!

Magdalene lächelte und klopfte Mrs. Wragge freundlich auf die Schultern.

– Sie vergessen, wie stark ich bin, sagte sie. Nichts rührt mich.

Sie zündete sich ihr Licht an und ging wieder hinauf in ihr Zimmer. Als sie zu der alten Stelle an ihrem Putztisch zurückkehrte, kam ihr die Hoffnung auf die drei Tage Aufschub, die eitle Hoffnung auf einen rettenden Zufall wieder in das Herz, dies Mal in einer faßbareren Gestalt, als sie bisher angenommen hatte.

– Freitag, Sonnabend, Sonntag. Es kann ihm Etwas begegnen; es kann mir Etwas begegnen. Etwas Schlimmes, etwas Verhängnißvolles… Eines von uns kann sterben…

Ein plötzlicher Umschwung ging in ihr vor und zeigte sich auf ihrem Gesichte. Sie schauerte zusammen, obgleich kein Geräusch sich hören ließ, das sie erschreckte.

– Eines von uns kann sterben. Ich kann das Eine sein…

Sie versank in tiefes Nachdenken, erhob sich nach einiger Zeit und rief dann, die Thür öffnend, Mrs. Wragge, damit sie hereinkäme und mit ihr spräche.

– Sie hatten Recht, als Sie dachten, ich würde mich erschöpfen, sprach sie. Mein Spaziergang ist etwas zu anstrengend für mich gewesen. Ich fühle mich abgespannt, und ich will zu Bette gehen. Gute Nacht!

Sie küßte Mrs. Wragge und schloß wieder sanft die Thür.

Nach einigen Gängen im Zimmer auf und ab, öffnete sie plötzlich ihr Schreibzeug und begann an ihre Schwester zu schreiben. Der Brief wuchs und wuchs unter ihren Händen, sie füllte Bogen auf Bogen von Briefpapier. Ihr Herz war voll von ihrem Gegenstande, es war ihre eigene Geschichte, welche sie Nora schrieb. Sie vergoß keine Thränen; sie war gefaßt und ruhig in ihrem Schmerz. Ihre Feder glitt leicht dahin. Nachdem sie länger als zwei Stunden geschrieben hatte, brach sie ab, ehe noch der Brief zu Ende war. Es war keine Unterschrift darunter, es war ein leerer Raum, der zu einer andern Zeit ausgefüllt werden sollte. Nachdem sie das Schreibzeug bei Seite geschoben und die Briefbogen darin wohlverwahrt hatte, ging sie ans Fenster, um Luft zu schöpfen und stand dort und schaute hinaus.

Der Mond verschwand im Meere. Die Brise der früheren Stunden war vorüber. Ueber Land und Meer schwebte der Geist der Nacht in tiefer und erhabener Ruhe – unheilbrütend.

Ihr Haupt sank auf ihren Busen, und all die Aussicht vor ihr verschwand mit dem schwindenden Monde. Sie sah keine See, keine Luft mehr. Der Versucher Tod war geschäftig in ihrem Herzen… Der Versucher Tod; zeigte heimwärts, nach dem Grabe ihrer verstorbenen Eltern auf dem Friedhofe von Combe-Raven.

– Neunzehn am letzten Geburtstage, dachte sie. Erst neunzehn!…

Sie begab sich vom Fenster weg, zögerte und sah dann wieder hinaus ins Freie.

– Die schöne Nacht! sagte sie anmuthig. Ach, die schöne Nacht!…

Sie verließ das» Fenster und legte sich auf ihr Bett nieder. Der Schlaf, welcher ihr vorher verrätherisch genaht war, kam nun wie eine gute Schickung, kam tief und ohne Träume, das Bild ihres letzten Gedankens im Wachen: – das Bild des Todes.

Früh am nächsten Morgen ging Mrs. Wragge in Magdalenens Zimmer und fand sie bereits aufgestanden. Sie saß vor dem Spiegel, indem sie mit dem Kamm langsam durch ihr Haar fuhr, nachdenklich und still.

– Wie befinden Sie sich heute früh? frug Mrs. Wragge. Wieder ganz wohl?

– Ja.

Nachdem sie diese bejahende Antwort gegeben, stockte sie, dachte ein Weilchen nach und widersprach sich plötzlich selbst.

– Nein, sagte sie, doch nicht ganz wohl. Ich habe ein wenig Zahnweh.

Als sie ihre erste Antwort in diesen Worten berichtigte, gab sie ihrem Haar mit dem Kamme einen Strich, so daß es vorwärts fiel und ihr Gesicht verbarg.

Beim Frühstück war sie sehr schweigsam und genoß nichts weiter als eine Tasse Thee.

– Lassen Sie mich in die Apotheke gehen und Etwas dagegen holen, sagte Mrs. Wragge

– Nein, ich danke Ihnen.

– O, lassen Sie mich doch gewähren!

– Nein, sage ich!

Sie lehnte zum zweiten Mal scharf und unwillig ab. Wie gewöhnlich gab Mrs. Wragge nach und ließ ihr den Willen. Als das Frühstück vorüber war, stand sie auf und ging aus, ohne ein Wort zu sagen. Mrs. Wragge sah ihr aus dem Fenster nach und bemerkte, daß sie nach der Apotheke zu ging.

Als sie die Thür der Apotheke erreicht hatte, blieb sie plötzlich stehen, wartete, ehe sie hineinging, und sah durchs Fenster hinein, zögerte und ging ein Stückchen weiter, zögerte wieder und schlug die erste Wendung ein, welche an das Meeresufer zurückführte.

Ohne sich umzusehen, ohne darauf zu achten, welchen Platz sie wählte, setzte sie sich auf das Geröll. Die einzigen Wesen, die, wo sie sich jetzt befand, ihr nahe waren, waren ein Kindermädchen und zwei kleine Knaben. Der jüngste von den beiden hatte ein niedliches Schiff zum Spielen in der Hand. Nachdem der Knabe Magdalenen eine kleine Weile mit dem vollkommensten Ernst und unverwandt angesehen, ging er plötzlich zu Magdalenen heran und bahnte sich den Weg zur Bekanntschaft dadurch, daß er ruhig sein Schifflein in ihren Schooß legte.

– Sieh mein Schiff an, sagte das Kind, indem es seine Händchen auf Magdalenens Kniee übereinander legte.

Sie war für gewöhnlich nicht sanft mit Kindern. In glücklicheren Tagen würde sie die Annäherung des Knaben nicht so aufgenommen haben, wie sie jetzt that. Die harte Verzweiflung in ihren Augen wich plötzlich daraus, ihre fest geschlossenen Lippen öffneten sich und zitterten. Sie drückte das Schiff wieder in die Hände des Kindes hinein und hob es auf ihren Schooß.

– Willst Du mir einen Kuß geben? sprach sie leise.

Der Knabe schaute auf sein Schiff, als wenn er lieber das Schiff geküßt hätte.

Sie wiederholte die Frage beinahe flehentlich. Das Kind legte ihr sein Händchen an den Nacken und küßte sie.

– Wenn ich Dein Schwesterchen wäre, würdest Du mich lieb haben?

All das Elend einer freundlosen Stellung, all das sonst zurückgedrängte Fühlen ihres Herzens ergoß sich in diesen Worten.

– Würdest Du mich lieben? wiederholte sie, indem sie ihr Gesicht an der Brust des Kindes verbarg.

– Ja, sagte der Kleine. Sieh nur mein Schiff.

Sie sah sein Schiff durch die Thränen an, die sich in ihren Augen sammelten.

– Wie nennst Du es? frug sie, indem sie sich sogar zwingen mußte, sich zu eines Kindes Interessen herabzustimmen.

– Ich nenne es Onkel Kirke’s Schiff, sagte der Knabe. Onkel Kirke ist fortgegangen.

Der Name erinnerte sie an Nichts aus ihrer Vergangenheit. Keine Erinnerungen außer denen aus alter Zeit lebten jetzt noch in ihr.

– Fortgegangen? wiederholte sie zerstreut, indem sie sann, was sie zunächst mit ihrem kleinen Freunde sprechen sollte.

– Ja, sprach der Knabe. Fort nach China.

Sogar von den Lippen eines Kindes berührte sie das Wort mit schneidendem Weh. Sie hob Kirkes kleinen Neffen vom Schooße und verließ augenblicklich das Ufer.

Als sie nach Hause zurückkehrte, erneuerte sich der Kampf der vergangenen Nacht in ihrem Geiste. Allein das wohlthätige Gefühl, das das Kind über sie gebracht hatte, die wiederauflebende Zärtlichkeit, welche sie empfunden, wie er auf ihrem Schooße saß, äußerten noch ihren Einfluß auf sie. Sie war sich einer aufdämmernden Hoffnung bewußt, welche sich ihrem Denken aufthat, als die kleinen unschuldigen Augen sich vor ihr aufthaten, als er auf dem Gestade zu ihr gesprungen kam. War es denn wirklich zu spät zur Umkehr? Noch einmal legte sie sich diese Frage vor und – zum ersten Male fragte sie Das mit zweifelndem Gemüthe.

26backwaters.