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Zehntes Kapitel.
Die Gasse beim grünen Anker

Eine Stunde später, als er erwartet worden war, erschien Richard Turlington auf seinem Comptoir im Mittelpunkte der Stadt. Er kam allen Fragen, die sein Aussehen sonst unzweifelhaft hervorgerufen haben würde, durch die Erklärung zuvor, daß er krank sei. Bevor er anfing, sich mit den laufenden Geschäften zu befassen, fragte er, ob jemand da sei, der ihn sprechen wolle. Einer der Diener von Muswell Hill wartete mit einem zweiten Paket für Fräulein Lavinia, das durch ein diesen Morgen vom Lande gekommenes Telegramm beordert worden war. Turlington ließ sich den Namen des Dieners sagen und hieß den Mann dann in sein Privatzimmer führen. Jetzt erst erfuhr er, daß Launcelot Linzie, ganz wie er es vermutet hatte, an jenem Tage, wo der Advokat seine Instruktionen in Betreff der Mitgift und des Testaments entgegengenommen hatte, sich im Garten verborgen gehalten habe.

In zwei Stunden war Turlingtons Arbeit getan. Als er das Comptoir verlassen hatte, wandte er sich, sobald er vom Hause nicht mehr gesehen werden konnte, statt den Weg zu nehmen, der nach seinem Hause in der Stadt führte, nach Osten. Bald betrat er das Straßenlabyrinth, welches in jenes Quartier im Osten Londons, in die übelduftende Nähe des Flusses führte. Sein Entschluß war gefaßt. Ein wohlüberlegtes Verbrechen wandelte bereits vor ihm her, als er seines Weges unter seinen Mitmenschen einherschritt. Er war in der Sakristei der St. Columbus—Kirche gewesen und hatte sich überzeugt, daß er durch kein falsches Gerücht irre geleitet sei. Er hatte die Eintragung im Heiratsregister gesehen. Der einzige dabei unerklärliche und geheimnisvolle Umstand war, daß Launce seiner Frau gestattet hatte, in das Haus ihres Vaters zurückzukehren. Ganz außer Stande, sich dieses Verfahren zu erklären, konnte Turlington nichts tun, als die Tatsachen nehmen, wie sie lagen und beschloß daher, möglichst viel aus der Zeit zu machen, in welcher das Weib, das ihn betrogen hatte, noch unter seinem Dach weilte.

Ein abschreckend widerwärtiger Ausdruck malte sich in seinen Zügen, als er sich an dem Gedanken weidete, daß er sie, unbeschützt von ihrem Manne, in seinem Landhause habe. »Wenn Launcelot Linzie kommt, sie zurückzuverlangen«, sagte er zu sich, »so soll er finden, daß wir miteinander quitt sind.«… Er sah nach seiner Uhr. War es möglich, den letzten Zug noch zu erreichen, und diesen Abend noch zurückzukehren? Nein – der letzte Zug war schon fort. Würde sie sich seine Abwesenheit zunutze machen, um zu entkommen? Davor war ihm nicht bange. Sie würde ihrer Tante nie erlaubt haben, ihn nach Lord Winwoods Hause zu schicken, wenn sie den leisesten Verdacht gehabt hätte, daß dieser Weg ihn zur Entdeckung der Wahrheit führen könne. Wenn er nur mit dem ersten Zuge am nächsten Morgen zurückkehrte, so war das, darüber konnte er sich beruhigen, früh genug. Inzwischen hatte er die ganze Nacht vor sich, Zeit genug, sich mit der ernsten Frage zu beschäftigen, mit der er im Reinen sein mußte, bevor er London verließ – der Frage wegen Rückzahlung der vierzigtausend Pfund. Jetzt gab es nur noch einen Weg, sich das Geld zu verschaffen. Sir Joseph hatte sein Testament gemacht: Sir Josephs Tod würde seinen alleinigen Exekutor und Verwalter, wie der Advokat es ausdrücklich gesagt hatte, zum unbeschränkten Herrn seines Vermögens machen… Turlington beschloß, in vierundzwanzig Stunden die Sache zu entscheiden – er wollte den Schlag ohne eigene Gefahr durch eine andere Hand führen lassen. Den vielen Umständen gegenüber, welche es wahrscheinlich machten, hielt Turlington sich jetzt fest überzeugt, daß Sir Joseph um den Betrug, der gegen ihn verübt worden war, gewußt habe. Der Ehekontrakt, das Testament, die Anwesenheit der Familie in seinem Landhause, – alle diese Dinge hielt er für eben so viele Kriegslisten, die nur ersonnen seien, um ihn bis zum letzten Augenblick zu täuschen. Die Wahrheit lag für ihn in jenen Worten, die, von ihm belauscht, zwischen Sir Joseph und Launce gewechselt worden waren und in der Tatsache, daß Launce, ohne Zweifel dazu im Geheimen ermuntert, in Muswell Hill gewesen war.

»Ihr Vater soll mir das doppelt entgelten, mit seinem Gelde und seinem Leben…« Mit diesem Entschluß im Herzen wand sich Richard Turlington durch die Gassen am Flusse und hielt vor einer Sackgasse, die den Namen der »Gasse beim grünen Anker« führte, und welche bis auf den heutigen Tag als Schlupfwinkel der verworfensten Spitzbuben Londons berüchtigt ist.

Der Polizeioffiziant, der seinen Stand an der Ecke hatte, mahnte ihn zur Vorsicht, als er in die Gasse einbog. »Sie werden mir schon nichts tun«, antwortete Turlington und ging seines Weges weiter, nach einem am Ende desselben gelegenen Wirtshaus. Der vor der Tür stehende Wirt gab ihm schweigend zu verstehen, daß er ihn erkenne, und ging ihm voran ins Haus. Sie durchschritten ein mit trinkenden Matrosen aller Nationen gefülltes Zimmer, stiegen eine an der Hinterseite des Hauses liegende Treppe hinauf und hielten vor der Tür eines Zimmers im zweiten Stock.

Jetzt erst fing der Wirt an zu sprechen: »Er hat sein Geld schon aufgebraucht, Herr, wie gewöhnlich. Sie werden sehen, er hat kaum noch einen Lumpen auf dem Leibe. Ich zweifle, daß er es noch lange treiben wird. Gestern Abend hatte er wieder einen Anfall und der Doktor schüttelt den Kopf dazu.« Nach diesen einleitenden Bemerkungen öffnete er die Tür und Turlington trat ins Zimmer.

Auf dem elenden Bette lag ein alter Mann mit grauen Haaren, von gigantischer Statur; er hatte nichts auf dem Leibe, als ein zerrissenes Hemd und eine geflickte, schmutzige Hose. Neben seinem Bette saßen, nur durch einen zerbrechlichen Tisch, auf dem eine Branntweinflasche stand, von ihm getrennt, zwei scheußliche, schielende, geschminkte Ungeheuer in Frauenkleidern. Das Zimmer roch nach Branntwein und Opium. Bei Turlingtons Eintritt erhob sich der alte Mann in seinem Bette und begrüßte ihn mit gierigen Blicken und ausgestreckter Hand.

»Geld, Herr!« rief er ihm heiser entgegen. »Eine Krone zum voraus, zur Erinnerung an alte Zeiten!«

Turlington wandte sich, ohne ihm zu antworten, mit der Börse in der Hand, an die Weiber.

»Seine Kleider sind natürlich bei dem Pfandleiher. Wieviel hat er darauf geborgt?«

»Dreißig Schilling.«

»Bringt sie her, aber rasch. Es soll nicht Euer Schade sein.«

Die Weiber nahmen die Pfandscheine aus den Hosentaschen des Alten und eilten mit denselben davon.

Turlington schloß die Tür und setzte sich neben das Bett. Vertraulich legte er seine Hand auf die Schulter des Riesen, sah ihm gerade ins Gesicht und flüsterte ihm zu: »Thomas Wild!«

Der Mann fuhr zusammen und rieb sich mit seiner großen, behaarten Hand die Augen, wie um sich zu vergewissern, ob er wache oder schlafe. »Seit zehn Jahren habt Ihr mich nicht bei meinem Namen genannt, Herr! Wenn ich Thomas Wild bin, wer seid denn Ihr?«

»Wieder dein Kapitän.«

Wild richtete sich wieder im Bette auf und sagte Turlington die nächsten Worte flüsternd ins Ohr: »Wieder einer aus dem Wege zu räumen?«

»Ja.«

Der Riese schüttelte kläglich seinen kahlen, tierischen Kopf: »Es ist zu spät. Ich tauge nicht mehr zur Arbeit. Sehen Sie einmal.« Dabei hielt er die Hand empor und zeigte Turlington, wie sie fortwährend zitterte. »Ich bin ein alter Mann«, sagte er und ließ die Hand wieder schwer neben sich aufs Bett fallen.

Turlington sah nach der Tür und flüsterte ihm zu: »Der Mann ist eben so alt wie du, und das Geld ist doch nicht zu verachten.«

»Wieviel?«

»Einhundert Pfund.«

Thomas Wilds Blicke hefteten sich gierig auf Turlingtons Gesicht. »Lassen Sie einmal hören, Kapitän«, sagte er leise; »lassen Sie einmal hören!«

Als die Frauen mit den Kleidern zurückkamen, hatte Turlington bereits das Zimmer verlassen. Ihr versprochener Lohn lag ihrer harrend auf dem Tische und Thomas Wild wartete ungeduldig auf sein Zeug, um sich anzukleiden und fortzugehen. Auf alle Fragen, die sie an ihn richteten, erhielten sie nur die eine Antwort, er habe ein Geschäft abzumachen, das keinen Aufschub leide. In ein oder zwei Tagen würden sie ihn mit gefüllter Börse wiedersehen. Mit dieser Versicherung ergriff er seinen in der Ecke des Zimmers liegenden Knittel und eilte raschen Schrittes leise durch die Hintertür des Hauses in die Nacht hinaus.

Elftes Kapitel.
Außerhalb des Hauses

Der Abend war kühl, aber nicht eigentlich kalt für die Jahreszeit. Der Mond schien nicht, aber die Sterne glänzten und die Luft war ruhig. Insgesamt waren die Bewohner des kleinen in Somersetshire gelegenen Dorfes Baxdale darüber einig, daß sie seit Jahren keinen so schönen Weihnachtsabend gehabt hätten. Gegen sieben Uhr abends war es in der einzigen kleinen Straße des Dorfes ganz still, außer da, wo das Wirtshaus lag. In den meisten Häusern saßen die Leute um ihren Herd geschart und beobachteten behaglich das Kochen ihres Abendessens. Die in einer kleinen Entfernung vom Dorfe gelegene, alte, kahle, graue Kirche erschien in dem düsteren Sternenlicht noch einsamer, als gewöhnlich. Aus dem Pfarrhause, das dicht bei der Kirche im Schatten des Turmes lag, drang kein Feuer— und Lichtschein, um das trübe Bild zu erhellen. Die Läden des Pfarrers schlossen gut und seine Vorhänge waren dicht zusammengezogen.

Der einzige Lichtstrahl, der die winterliche Dunkelheit erhellte, drang aus dem Fenster eines einsamen Hauses, das durch die ganze Länge des Kirchhofs von dem Pfarrhause getrennt war. An dem Fenster stand ein Mann, der den Laden geöffnet hielt und aufmerksam nach dem trüben, öden Kirchhof ausschaute. Der Mann war Richard Turlington. Das Zimmer, in dem er Wache hielt, war ein Zimmer in seinem eigenen Hause. In diesem Augenblick blitzte ein kurzer Lichtschein, wie von einem angestrichenen Zündholz, auf dem Kirchhofe auf. Turlington verließ sogleich das leere Zimmer, in welchem er Wache gehalten hatte. Er ging durch den Hintergarten des Hauses, durchschritt einen engen Gang am Ende desselben, öffnete ein in einer niedrigen, steinernen Mauer befindliches Gitter und trat in den Kirchhof. Der Schatten einer männlichen Gestalt von großer Statur, die sich zwischen den Gräbern versteckt gehalten hatte, schritt auf ihn zu. Etwa in der Mitte des dunklen, einsamen Orts standen die beiden miteinander still und berieten sich flüsternd. Turlington sprach zuerst.

 

»Habt Ihr im Wirtshaus Quartier genommen?«

»Ja, Herr.«

»Habt Ihr noch am Tage den Weg nach dem einsamen Malzhause hinter der Mauer meines Obstgartens gefunden?«

»Ja, Herr.«

»Jetzt hört mich an. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Versteckt Euch hinter jenem Grabmal. Vor neun Uhr heute Abend werdet Ihr mich bis zu jener Stelle mit dem Manne, auf den Ihr zu warten habt, über den Kirchhof gehen sehen. Er wird eine Stunde bei dem Pfarrer in dem Hause da drüben zubringen. Ich werde hier still stehen und zu ihm sagen: ‚Sie können jetzt Ihren Weg im Dunkeln nicht mehr verfehlen, ich will umkehren.‘ Wenn ich weit genug von ihm fort bin, werde ich auf meiner Pfeife ein Signal geben. In dem Augenblick, wo Ihr das Zeichen hört, folgt dem Mann und schlagt ihn zu Boden, bevor er den Kirchhof verlassen hat. Habt Ihr Euren Knittel bei Euch?«

Thomas Wild hielt seinen Knittel in die Höhe. Turlington ergriff seinen Arm und befühlte denselben argwöhnisch.

»Ihr habt schon einen Anfall gehabt«, sagte er, »was hat das Zittern zu bedeuten?«

Während er dies sagte, zog er eine Branntweinflasche aus seinem Rocke. Thomas Wild riß sie ihm aus der Hand, leerte sie auf einen Zug und sagte dann: »Nun ist alles wieder in Ordnung, Herr!« Turlington befühlte abermals seinen Arm; er war bereits ruhiger geworden. Wild schwang seinen Knittel und tat einen tüchtigen Hieb damit auf einen der neben ihm befindlichen Rasenhügel. »Wird er davon zu Boden fallen, Herr?« fragte er.

Turlington fuhr mit seinen Instruktionen fort: »Wenn Ihr ihn zu Boden geworfen habt, plündert ihn aus. Nehmt ihm sein Geld und seine Juwelen ab und gebt ihm den Gnadenstoß. Sein Tod muß als Folge eines Raubmordes erscheinen. Ehe Ihr fortgeht, vergewissert Euch, daß er tot ist; dann geht nach dem Malzhause. Ihr braucht nicht bange zu sein, daß man Euch sieht: alle Leute werden in ihren Häusern sein, um den Weihnachtsabend zu feiern. Im Malzhause werdet Ihr andere Kleider und einen alten Kessel mit ungelöschtem Kalk finden. Zerstört die Kleider, die Ihr auf dem Leibe habt und zieht die anderen an. Folgt dem Kreuzweg, bis er Euch auf die Landstraße führt und wendet Euch da zur Linken. Wenn Ihr etwa zwei Stunden gegangen seid, kommt Ihr nach der Stadt Harminster. Übernachtet da und geht morgen früh mit dem ersten Zug wieder nach London. Hier geht nach meinem Comptoir, fragt nach dem ersten Commis und sagt: ‚Ich komme, um meinen Empfangschein zu quittieren.‘ Unterzeichnet denselben mit Eurem Namen und Ihr werdet Eure hundert Pfund bekommen. Das sind Eure Verhaltungsmaßregeln. Habt Ihr sie verstanden?«

Wild nickte mit dem Kopf zum Zeichen, daß er verstanden habe und verschwand wieder zwischen den Gräbern. Turlington kehrte nach seinem Hause zurück.

Er hatte die Mitte des Gartens erreicht, als er durch den Klang von Fußtritten aufgeschreckt wurde, die von der Stelle des Ganges herzukommen schienen, wo derselbe an einer Ecke des Hauses vorüberführte. Raschen Schrittes eilte er vorwärts und stellte sich hinter eine vorspringende Ecke der Mauer, so daß er die betreffende Person den Lichtstreifen durchschreiten sehen konnte, der aus dem unbewehrten Fenster des Zimmers drang, in welchem er selbst vorhin Wache gehalten hatte. Der Fremde ging sehr rasch. Alles, was Turlington sehen konnte, als jener durch den Lichtstreifen hindurch ging, war, daß er den Hut tief über die Stirne gezogen hatte und daß er einen dicken Schnurr- und Backenbart trug. Als er, ins Haus zurückgekehrt, seinem Diener den Mann beschrieb, erfuhr er, daß ein Fremder mit einem großen Bart schon seit einigen Tagen in der Gegend bemerkt worden sei. Nach seiner eigenen Angabe sei er ein Feldmesser, der mit Vermessungen für eine demnächst zu veröffentlichende Karte dieser Gegend beschäftigt sei.

Der schuldbewußte Turlington war weit entfernt, sich von dieser mageren Auskunft befriedigt zu fühlen. Der Mann konnte doch im Dunkeln keine Vermessungen vornehmen. Was konnte er zu dieser späten Stunde in der einsamen Umgebung des Hauses und des Kirchhofs zu suchen haben? —

Was der Mann suchte, war, was er ein wenig weiter, unterhalb des Ganges in einer lockeren Stelle der Kirchhofsmauer fand – ein Brief von einer jungen Dame. Der Brief, den er bei dem Lichte einer Taschenlaterne, die er bei sich führte, las, beglückwünschte ihn zuerst wegen des vollständigen Gelingens seiner Verkleidung, und versprach dann, daß die Schreiberin am nächsten Morgen, bevor jemand im Hause wach sei, am Fenster ihres Schlafzimmers zur Flucht bereit stehen werde. Unterzeichnet war der Brief »Natalie« und die Ansprache in dem Briefe lautete: »Liebster Launce«.

Inzwischen schloß Turlington wieder die Fensterläden des Zimmers und sah nach seiner Uhr. Es war erst ein Viertel vor neun Uhr. Er nahm seine Hundepfeife vom Kaminsims und ging nach dem Salon, in welchem seine Gäste den Abend zubrachten.

Zwölftes Kapitel.
Innerhalb des Hauses

Der Salon in dem Landhause konnte für ein Ideal häuslichen Komforts gelten. Ein lustiges Holz— und Kohlenfeuer brannte im Kamin; die Lampen verbreiteten ein sanftes Licht im Zimmer; die fest geschlossenen Läden und die dicken, roten Vorhänge bannten die kalte Nachtluft an die Außenseite zweier hohen Fenster, welche auf den Hintergarten hinausgingen. Bequeme Lehnsessel standen überall im Zimmer umher.

In einem derselben war Sir Joseph fest eingeschlafen; in einem anderen saß Fräulein Lavinia strickend; in einem dritten Lehnsessel, der von den übrigen entfernt stand, vor einem großen, runden Tische in einer Ecke des Zimmers, saß Natalie, den Kopf auf die Hand gestützt, ein Buch vor sich auf dem Schoß. Sie sah bleich und erschöpft aus; Angst und peinliche Ungewißheit hatten sie so angegriffen, daß sie nur noch wie ein Schatten ihrer selbst erschien. Beim Eintritt in das Zimmer schlug Turlington absichtlich die Tür hinter sich ins Schloß. Natalie erschreckte. Fräulein Lavinia warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Sein Zweck aber war erreicht, Sir Joseph erwachte.

»Wenn du noch heute Abend zu dem Pfarrer gehen willst, Graybrooke«, sagte Turlington, »so ist es wohl Zeit für dich, aufzubrechen, nicht wahr?«

Sir Joseph rieb sich die Augen und sah nach der Pendule auf dem Kaminsims. »Ja, ja, Richard«, antwortete er schläfrig, »ich muß wohl gehen. Wo ist mein Hut?«

Seine Schwester und seine Tochter versuchten es beide, ihn zu überreden, einen Boten mit einer Entschuldigung zum Pfarrer zu schicken, anstatt noch so spät im Dunkeln dahin zu gehen. Sir Joseph schwankte wie gewöhnlich. Aufgrund ihres gemeinschaftlichen Enthusiasmus für das altmodische Tricktrack hatte sich nämlich zwischen ihm und dem Pfarrer rasch ein Freundschaftsbündnis gebildet. Am vorigen Abend hatte Sir Joseph in Turlingtons Hause über seinen Gegner den Sieg davon getragen und hatte nun dem Pfarrer versprochen, am heutigen Abend zu ihm zu kommen und ihm Revanche zu geben. Als Turlington seine Unentschlossenheit bemerkte, wußte er ihn schlau zum Gehen zu reizen. Er gab sich den Anschein, als glaube er wirklich, Sir Joseph scheue sich, im Dunkeln auszugehen.

»Ich will dich sicher über den Kirchhof bringen«, sagte er, »und der Diener des Pfarrers wird dich sicher zurückbringen.« Der Ton, in dem er das sagte, war für Sir Joseph sofort entscheidend.

»Ich bin noch nicht wieder kindisch geworden, Richard«, erwiderte er verdrießlich. »Ich kann meinen Weg allein finden.« Er küßte seine Tochter auf die Stirne und sagte: »Fürchte nichts, Natalie, ich komme rechtzeitig wieder, um meinen Glühwein zu trinken. Nein, Richard, bemühe dich nicht.« Darauf küßte er seiner Schwester die Hand und ging hinaus auf den Vorplatz, um seinen Hut zu nehmen, während Turlington ihm trotz seines Protestes folgte und sich in ziemlich kurzem Tone als eine besondere Gunst die Erlaubnis erbat, ihn wenigstens einen Teil des Weges begleiten zu dürfen. Die Damen, die im Salon zurückblieben, hörten, wie der gutmütige Sir Joseph die ihm abgetrotzte Erlaubnis gewährte. Die beiden Männer gingen zusammen fort.

»Hast du Richard beobachtet, seit er wieder ins Zimmer getreten ist?« fragte Fräulein Lavinia. »Ich denke mir, er hat in London schlechte Nachrichten bekommen. Er sieht aus, als wenn ihn etwas drückte.«

»Das habe ich nicht bemerkt, Tante.«

Im Augenblick sprachen sie nicht weiter. Fräulein Lavinia fuhr in ihrer monotonen Strickarbeit fort. Natalie verfolgte über den ungelesenen Blättern des in ihrem Schoß liegenden Buches ihre angstvollen Gedanken. Plötzlich wurde die tiefe in und außer dem Hause herrschende Stille durch einen Pfiff, der vom Kirchhof her zu dringen schien, unterbrochen. Natalie fuhr erschreckt zusammen und stieß einen leichten Schrei aus. Fräulein Lavinia sah von ihrer Strickarbeit auf. »Liebes Kind, deine Nerven müssen krankhaft aufgeregt sein. Was ist denn da zu erschrecken?«

»Ich fühle mich nicht ganz wohl, Tante. Es ist hier heute Abend so still, das leiseste Geräusch erschreckt mich.«

Wieder entstand eine Pause. Es war nach neun Uhr, als sie hörten, wie die Hintertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Turlington trat rasch in den Salon, wie wenn er einen besonderen Grund habe, sobald wie möglich wieder bei den Damen zu sein. Zur Überraschung beider aber setzte er sich ohne Weiteres in eine Ecke, das Gesicht gegen die Wand gekehrt und nahm die Zeitung zur Hand, ohne die Damen auch nur eines Blickes zu würdigen oder ein Wort mit ihnen zu reden.

»Hat Joseph das Pfarrhaus unversehrt erreicht?« fragte Fräulein Lavinia.

»Jawohl.« Er gab die kurze Antwort in einem verdrossenen Tone, ohne sich auch jetzt dabei umzusehen.

Fräulein Lavinia versuchte es noch einmal, ihn gesprächig zu machen. »Haben Sie draußen ein Pfeifen gehört? Natalie war bei der großen, sonst herrschenden Stille ganz erschrocken darüber.«

Jetzt erst drehte sich Turlington halb herum und sagte nach einer kleinen Pause: »Vermutlich mein Schäfer, der seinem Hunde gepfiffen hat.« Darauf wandte er sich wieder um und versenkte sich aufs Neue in seine Zeitung.

Fräulein Lavinia winkte ihrer Nichte und zeigte bedeutungsvoll auf Turlington hin. Nachdem Natalie einen Augenblick mit Widerstreben nach ihm hinübergesehen hatte, lehnte sie ihren Kopf ermattet auf die Schulter ihrer Tante. »Bist du müde, Kind?« flüsterte ihr die alte Dame zu.

»Mir ist unbehaglich zumute, Tante – ich weiß selbst nicht, warum«, erwiderte Natalie flüsternd. »Ich gäbe die Welt darum, wenn ich in London sein, die Wagen rasseln und die Menschen in den Straßen hören könnte.«

Turlington ließ seine Zeitung fallen. »Was habt ihr beiden da miteinander zu zischeln?« rief er in grobem Tone.

»Wir reden leise, weil wir Sie nicht gern in Ihrer Lektüre stören wollen, das ist alles«, entgegnete Fräulein Lavinia. »Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet, Richard?«

»Was zum Henker veranlaßt Sie, das zu glauben?«

Die alte Dame fühlte sich durch diese Antwort beleidigt und schwieg. Natalie schmiegte sich noch enger an sie. Im Zimmer herrschte eine tiefe, nur durch das einförmige Ticken der Uhr unterbrochene Stille. Plötzlich schob Turlington seine Zeitung beiseite und trat aus seiner Ecke hervor. »Wir wollen gute Freunde sein!« platzte er mit einer angenommenen plumpen Lustigkeit heraus. »Das nenne ich nicht Weihnachtsabend feiern! Lassen Sie uns gesellig sein und plaudern. Liebste Natalie!« Dabei schlang er seinen Arm roh um ihren Leib und zog sie mit Gewalt von der Seite ihrer Tante weg. Sie wurde totenbleich und rang, sich von ihm loszumachen. »Ich bin leidend – ich bin krank – lassen Sie mich!«

Er war taub für ihre Bitten. »Wie? Deinen künftigen Gatten behandelst du so? Darf ich nicht einen Kuß beanspruchen? – Ich will einen haben!« Mit der einen Hand hielt er sie fest, mit der anderen ergriff er ihren Kopf und versuchte es, ihre Lippen an die seinigen zu bringen. Sie widersetzte sich ihm mit dem ganzen Aufgebot der Kraft, über welche auch das schwächste Weib, wenn es gereizt ist, gebietet. Halb entrüstet, halb erschrocken über Turlingtons Rohheit, erhob sich Fräulein Lavinia, um sich ins Mittel zu legen. Im nächsten Augenblick würde er statt einer, zwei Frauen zu bewältigen gehabt haben, als ein von außen her dringendes Geräusch plötzlich dem widerwärtigen Kampfe ein Ende machte.

 

Man hörte Fußtritte auf dem Kieswege, der zwischen dem Hause und dem Rasen hinführte. Ein Klopfen erfolgte – ein einmaliges, schwaches Klopfen an einer der Fensterscheiben. Alle drei standen still. Im nächsten Augenblick war nichts zu hören. Dann aber vernahm man ein dumpfes Geräusch, wie wenn ein schwerer Körper zur Erde fällt. Dann ein Stöhnen, und abermals trat völlige Stille ein.

Turlington ließ Natalie los. Sie schmiegte sich wieder an ihre Tante. Instinktiv blickten die beiden Frauen in der Erwartung auf ihn, daß er sofort versuchen werde, den sonderbaren Vorfall vor dem Hause aufzuklären. Mit Entsetzen aber gewahrten sie, daß er allem Anschein nach noch erschrockener und hilfloser sei, als sie selbst.

»Richard«, sagte Fräulein Lavinia, indem sie nach dem Fenster deutete, »da draußen ist etwas vorgefallen – sehen Sie doch nach.«

Regungslos, als ob er ihre Worte nicht gehört hätte, stand er da, bleich vor Schrecken, den Blick unverwandt auf das Fenster geheftet.

Jetzt wurde die Stille draußen aufs Neue unterbrochen und zwar dieses Mal durch einen Hilferuf. Natalie stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Die Stimme draußen, die einen Augenblick laut und heftig erklang und dann plötzlich wieder hinschwand, war ihrem Ohre nicht fremd. Die Vorhänge auseinander reißend, drang sie mit Worten und Gebärden in ihre Tante, ihr zu helfen. Mit vereinten Kräften hoben sie die schwere Ladenstange und öffneten die Läden und das Fenster. Die freundliche Helle des Zimmers ergoß sich über einen mit dem Gesichte gegen die Erde gekehrten, am Boden liegenden Mann. Sie kehrten den Mann um, Natalie hob seinen Kopf in die Höhe – es war ihr Vater!

Sein Gesicht war mit Blut bespritzt. Über dem Ohr klaffte eine furchtbare Wunde. Er sah sie an und erkannte sie, dann sank er in ihren Armen aufs Neue in Ohnmacht. Seine Hände und seine Kleider waren mit Erde beschmutzt, er mußte sich eine ziemliche Strecke weit fortgeschleppt haben. In diesem schrecklichen Zustande mußte er mehr als einmal gestolpert und gefallen sein, bevor er das Haus erreichte. Seine Schwester wischte ihm das Blut aus dem Gesicht. Seine Tochter rief ihn in wahnsinniger Aufregung an, ihr zu vergeben, bevor er sterbe, der harmlose, sanfte, gutherzige Vater, der ihr niemals ein hartes Wort gesagt habe – der Vater, den sie betrogen hatte!

Die Dienstboten kamen erschrocken ins Zimmer gelaufen. Ihr Erscheinen erweckte ihren Herrn aus dem Zustande völliger Erstarrung, in den er verfallen war. Er stand schon am Fenster, bevor der Diener dahin gelangen konnte. Turlington und Natalie trugen ihn nun ins Zimmer hinein und legten ihn aufs Sofa. Natalie kniete neben ihm nieder und stützte ihm den Kopf und Fräulein Lavinia suchte das noch immer fließende Blut mit ihrem Taschentuche zu stillen. Während die weiblichen Dienstboten Leinen und kaltes Wasser herbei brachten, eilte der Diener fort, den Arzt zu holen, der am anderen Ende des Dorfes wohnte. Als die Frauen mit Turlington wieder allein waren, bemerkte Natalie, daß seine Blicke unverwandt, wie forschend, auf den Kopf ihres Vaters gerichtet waren. Er sprach kein Wort. Er starrte und starrte unausgesetzt die Wunde an…

Der Arzt kam. Noch bevor die Tochter oder die Schwester des Verwundeten die Frage tun konnte, tat sie Turlington: »Ist die Wunde lebensgefährlich?«

Der Arzt sondierte die Wunde vorsichtig. »Beruhigen Sie sich. Ein wenig tiefer oder an der Stirn hätte die Wunde bedenklich werden können. Jetzt ist keine Gefahr – halten Sie ihn ruhig und er wird bald wieder hergestellt sein.«

Bei diesen beglückenden Worten sanken Natalie und ihre Tante in überströmender Dankbarkeit schweigend auf die Knie. Nachdem der Doktor die Wunde verbunden hatte, sah er sich nach dem Herrn des Hauses um. Turlington, der noch vor wenigen Minuten so übereifrig beflissen gewesen war, schien jetzt alles Interesse an dem Fall verloren zu haben. Nachdenklich stand er beiseite am Fenster und blickte nach dem Kirchhofe hinaus, so daß die Fragen, die der Arzt zu tun hatte, von den Damen beantwortet werden mußten. Die Dienstboden leisteten bei der Untersuchung der Kleider des Verwundeten Beistand: sie entdeckten, daß seine Börse und seine Uhr fehlten. Als es notwendig wurde, ihn die Treppe hinaufzutragen, mußte der Doktor nur mit Hilfe des Dieners den Transport übernehmen. Turlington ging ohne ein Wort der Erklärung mit bloßem Kopfe in den Hintergarten hinaus, um, wie der Doktor und der Diener annahmen, die Spur des Räubers, der Sir Joseph angefallen hatte, aufzusuchen. Seine Abwesenheit wurde im ersten Augenblick kaum bemerkt. Die Schwierigkeit, den Verwundeten auf sein Zimmer zu bringen, nahm die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ganz in Anspruch. Während sie ihn die steilen und engen Treppen hinauftrugen, gewann Sir Joseph teilweise sein Bewußtsein wieder.

So vorsichtig sie den Patienten auch trugen, entrang ihm doch die Bewegung einen Schmerzensausruf, bevor sie oben angelangt waren. Der Korridor, der zu den Schlafzimmern führte, ging in dem alten und unregelmäßig gebauten Hause wiederholt auf— und abwärts. An der Tür des Schlafzimmers fragte der Doktor etwas ängstlich, ob dies das Zimmer sei. Nein, sie mußten noch drei Stufen hinabsteigen und um eine Ecke biegen, bevor sie das Zimmer erreichen konnten. Das erste war das Nataliens. Sie stellte es sofort für ihren Vater zur Verfügung. Der Doktor, welcher fand, daß es nicht nur das nächste, sondern auch das luftigste Zimmer sei, nahm das Anerbieten an.

Sir Joseph wurde in das Bett seiner Tochter gelegt. Der Doktor hatte sie eben mit der wiederholten Versicherung verlassen, daß sie sich keine Sorge zu machen brauchten, als sie unten schwere Schritte vernahmen. Turlington war wieder ins Haus zurückgekehrt. Er hatte sich, wie sie es vermutet hatten, nach dem Spitzbuben umgesehen, der Sir Joseph angegriffen hatte; freilich aus einem Beweggrund, den andere unmöglich erraten konnten. Seine eigene Sicherheit war jetzt von der Sicherheit Wilds abhängig. Sobald er im Dunkel der Nacht vom Hause aus nicht mehr erkannt werden konnte, begab er sich geradenwegs nach dem Malzhause. Die dort bereit liegenden Kleider waren noch unberührt, von seinem Komplizen war keine Spur zu sehen. Wo anders er sich nach ihm umsehen sollte, war unmöglich zu sagen. Turlington hatte keine andere Wahl, als wieder nach dem Hause zurückzukehren und sich Gewißheit zu verschaffen, ob in seiner Abwesenheit irgend ein Verdacht aufgetaucht sei. Er brauchte nur die Treppe hinaufzusteigen, um durch die offene Tür zu sehen, daß Sir Joseph in das Zimmer Nataliens gebettet worden sei.

»Was soll das heißen?« fragte er barsch.

Noch bevor es möglich war, ihm eine Antwort zu geben, erschien der Diener mit einer Botschaft. Der Doktor war noch einmal umgekehrt, um zu sagen, daß er es übernehmen wolle, auf seinem Wege nach Hause den Constabler von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen. Turlington fuhr zusammen und wechselte die Farbe. Wenn Wild von anderen gefunden und in Abwesenheit seines Herrn befragt wurde, so konnten daraus sehr ernste Folgen entstehen.

»Die Benachrichtigung des Constablers ist meine Sache«, sagte Turlington, indem er eilig die Treppe hinablief; »ich will mit dem Doktor gehen.«

Sir hörten, wie er unten die Tür öffnete, sie aber dann wieder schloß und den Diener rief, als ob ihm plötzlich etwas eingefallen sei. Das Haus hatte großen Mangel an Domestiken—Schlafzimmern, nur die weiblichen Dienstboten schliefen daher im Hause, und der Diener hatte ein Zimmer über dem Stall inne. Natalie und ihre Tante hörten, wie Turlington den Mann mindestens eine Stunde früher als gewöhnlich, für diese Nacht entließ. Das Nächste, was er dann vornahm, war noch sonderbarer. Vorsichtig über die Treppe hinabblickend, sah ihn Natalie alle Türen zu ebener Erde schließen und die Schlüssel abziehen. Als er fortging, hörte sie ihn auch die Haustüre hinter sich absperren. Unglaublich, wie es schien, die Tatsache stand unzweifelhaft fest: die Insassen des Hauses waren bis zu Turlingtons Rückkehr gefangen. Was hatte das zu bedeuten?