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Ein tiefes Geheimniss

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Nachdem sie die Tür wieder verschlossen, besah sie das große Schlüsselbund, welches sie aus dem Wirtschaftszimmer genommen, mit größerer Aufmerksamkeit als sie demselben bis jetzt gewidmet.

Außer dem an dem Ringe, der es zusammenhielt, befestigten Elfenbeintäfelchen waren auch noch kleinere Pergamentblättchen an die Griffe einiger der Schlüssel gebunden, um die Zimmer zu bezeichnen, deren Türen sie öffneten. Der besondere Schlüssel, dessen sie sich bediente, war auch mit einem solchen Blättchen versehen. Sie hielt dasselbe dicht an das Licht und las darauf in von der Zeit halb verwischten Buchstaben geschrieben:

»Das Myrtenzimmer.«

Das Zimmer, in welchem der Brief versteckt war, hatte also einen Namen! Es war ein Name von angenehmem Klang, welcher die meisten Menschen angezogen und sich angenehm ihrer Erinnerung eingeprägt haben würde – ein Name, dem aber Sara nach dem, was sie getan, eben aus diesem Grunde mißtrauen mußte.

Sie nahm ihr Nähfutteral aus der Tasche ihrer Schürze und schnitt mit der darin befindlichen Schere das Pergamentblättchen von dem Schlüssel.

War es aber wohl genug, bloß dieses eine zu vernichten? Sie verlor sich in ein Labyrinth von nutzlosen Mutmaßungen und schnitt zuletzt auch die andern Blättchen ab – aus keinem andern Grunde, als weil sie instinktartiges Mißtrauen dagegen hegte.

Nachdem sie sorgfältig die Pergamentstreifchen vom Boden aufgelesen, steckte sie dieselben nebst dem kleinen rostigen Schlüssel, den sie aus dem Myrtenzimmer mit herausgebracht, in die leere Tasche ihrer Schürze. Dann lenkte sie, mit dem großen Schlüsselbund in der Hand und indem sie sorgfältig die Türen, die sie auf ihrem Wege nach der Nordseite von Porthgenna Tower geöffnet, wieder verschlossen, ihre Schritte zurück nach dem Wirtschaftszimmer, ging, ohne jemand zu sehen, hinein und hing das Schlüsselbund wieder an den Nagel in der Wand.

Da die Morgenstunden mittlerweile vorgerückt waren und sie daher fürchten mußte, einer oder der andern der Dienerinnen zu begegnen, so eilte sie nun zurück auf ihr Schlafzimmer.

Das Licht, welches sie hier hatte stehen lassen, brannte noch matt in dem frischen Tageslicht. Als sie, nachdem sie das Licht ausgelöscht, den Fenstervorhang auf die Seite zog, flog selbst in dem hellen Tageslicht, welches jetzt hereinfiel, ein Schatten ihrer frühern Furcht über ihr Gesicht. Sie öffnete das Fenster und lehnte sich begierig hinaus in die kühle Luft.

Mochte es nun zum Guten oder zum Schlimmen sein, so war das verhängnisvolle Geheimnis doch nun verborgen – die Tat war geschehen. Es lag etwas Beruhigendes in dem ersten Bewußtsein dieser einen Tatsache. Sie konnte nun gefaßter an sich selbst und an die ungewisse Zukunft denken, die vor ihr lag.

Jetzt, wo das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Herrin durch den Tod getrennt worden, konnte sie auf keinen Fall erwarten, in ihrer bisherigen Stellung zu verbleiben. Sie wußte, daß Mistreß Treverton in den letzten Tagen ihrer Krankheit sie der Güte und dem Schutze ihres Gemahls dringend empfohlen hatte und sie war überzeugt, daß die letzten Wünsche der Gattin in diesem wie in allen andern Fällen von ihm als die heiligste Verpflichtung betrachtet werden würden. Konnte sie aber wohl Schutz und Güte von der Hand eines Herrn annehmen, den sie betrügen geholfen und den sie durch den soeben getanen Schritt auch noch ferner in der Täuschung zu erhalten beabsichtigte? Schon der Gedanke an eine solche Niedrigkeit war so empörend, daß sie fast mit einem Gefühl von Erleichterung die einzige noch übrige traurige Alternative ergriff – nämlich die, das Haus sofort zu verlassen.

Aber wie sollte sie es verlassen? Dadurch, daß sie ihren Dienst förmlich kündigte und sich auf diese Weise Fragen bloßstellte, durch die sie ganz gewiß in Angst und Verwirrung gesetzt würde? Konnte sie es wagen, nach dem, was sie getan, wieder ihrem Herrn gegenüberzutreten, da doch seine ersten Fragen ganz gewiß sich auf ihre Herrin bezogen, da er sich ganz bestimmt nach den letzten betrübenden Einzelheiten und nach dem geringfügigsten Wort erkundigte, welches während der Sterbeszene, deren alleinige Zeugin sie gewesen, gesprochen worden?

Sie fuhr, als die sichern Folgen, wenn sie sich diesem furchtbaren Verhör aussetzte, ihr in immer dichteren Massen vor die Augen traten, empor, nahm ihren Mantel von seinem Nagel an der Wand und horchte, plötzlich von Argwohn und Furcht erfüllt, an ihrer Tür.

Hatte sie Tritte gehört? Ließ ihr Herr sie vielleicht schon holen?

Nein, alles war still draußen. Einige Tränen rollten über ihre Wangen, während sie den Hut aufsetzte und fühlte, daß sie durch die Ausführung dieser einfachen alltäglichen Verrichtung der letzten und vielleicht schwersten der grausamen Notwendigkeiten gegenübertrat, in welche das Verbergen des Geheimnisses sie verwickelt hatte. Es ließ sich nicht ändern, sie mußte es auf die Gefahr ankommen lassen, alles zu verraten, oder die doppelte Prüfung auf sich nehmen, Porthgenna Tower zu verlassen und zwar es heimlich zu verlassen.

Heimlich – ohne ein Wort an ihren Herrn, ohne auch nur eine schriftliche Zeile, um ihm für seine Güte zu danken und ihn um Verzeihung zu bitten. Sie hatte ihr Pult aufgeschlossen und aus demselben ihre Börse, einige Briefe und ein kleines Gesangbuch genommen, ehe ihr diese Erwägungen einfielen. Dieselben veranlaßten sie, mit dem Wiederschließen des Pultes innezuhalten.

»Soll ich schreiben,« fragte sie sich selbst, »und den Brief hier lassen, damit er gefunden werde, wenn ich fort bin?«

Ein wenig weiteres Nachdenken bestimmte sie, diese Frage mit Ja zu beantworten. So rasch als ihre Feder die Buchstaben formen konnte, schrieb sie einige Zeilen, an Kapitän Treverton gerichtet, in welchen sie bekannte, daß sie ihm ein Geheimnis verschweige, mit dessen Mitteilung sie beauftragt gewesen, indem sie hinzufügte, sie sei fest überzeugt, daß dadurch, daß sie unterlassen, diese Pflicht zu erfüllen, weder ihm noch irgend jemand, für den er sich interessiere, ein Nachteil erwachsen werde. Sie schloß, indem sie ihn noch um Verzeihung bat, daß sie das Haus heimlich verließe, und als letzte Gunst begehrte, daß man keinerlei Nachforschungen nach ihr anstelle.

Nachdem sie dieses kurze Briefchen versiegelt und auswendig den Namen ihres Herrin darauf geschrieben, legte sie es auf ihren Tisch, horchte dann wieder an der Tür, und nachdem sie sich überzeugt, daß noch niemand auf den Füßen war, begann sie die Treppe von Porthgenna Tower zum letzten Male hinabzugehen.

Am Eingange des Korridors, der nach der Kinderstube führte, blieb sie stehen. Die Tränen, welche sie, seitdem sie ihr Zimmer verlassen, unterdrückt, begannen wieder zu fließen. So dringend ihre Gründe auch waren, ihre Flucht, ohne einen Augenblick Zeit zu versäumen, auszuführen, so näherte sie sich doch mit der seltsamsten Inkonsequenz einige Schritte der Kinderstubentür. Ehe sie noch weit gekommen war, schlug ein leichtes Geräusch in dem untern Teile des Hauses an ihr Ohr und hemmte sofort ihr ferneres Vorschreiten.

Während sie so zweifelhaft dastand, stieg der Kummer in ihrem Herzen – ein größerer Kummer, als welchen sie bis jetzt verraten – unwiderstehlich auf ihre Lippen und entrang sich denselben durch tiefes keuchendes Schluchzen.

Das Geräusch desselben schien sie zum Bewußtsein der Gefahr ihrer Lage, wenn sie noch einen Augenblick länger bliebe, aufzurütteln. Sie eilte deshalb wieder nach der Treppe, erreichte unaufgehalten die Küchenetage und ging zu der Gartentür hinaus, welche der Diener ihr bei der Morgendämmerung geöffnet hatte.

Als sie die nächste Umgebung von Porthgenna Tower hinter sich hatte, lenkte sie, anstatt den nächsten Weg über das Moorland, der nach der Landstraße führte, einzuschlagen, ihre Schritte nach der Kirche, blieb aber, ehe sie dieselbe erreichte, an dem öffentlichen Brunnen der Nachbarschaft stehen, der hier in der Nähe der Fischerhütten des Dorfes Porthgenna gegraben worden.

Nachdem sie sich vorsichtig umgeschaut, ließ sie den kleinen rostigen Schlüssel, den sie mit aus dem Myrtenzimmer gebracht, in den Brunnen fallen, eilte dann weiter und ging in den Kirchhof hinein. Hier lenkte sie ihre Schritte unmittelbar nach einem der Gräber, welches durch einen kleinen Zwischenraum von den übrigen geschieden war. Auf dem zu Häupten desselben stehenden Steine standen folgende Worte:

Gewidmet dem Andenken an

Hugh Polwheal

Gestorben in seinem 26. Lebensjahr.

Der Tod ereilte ihn

durch den Sturz eines Felsens in

dem Porthgenna-Schacht

am 17. Dezember 1823.

Nachdem Sara von dem Gras auf dem Grabe einige Halme abgepflückt, öffnete sie das kleine Gesangbuch, welches sie aus ihrem Zimmer in Porthgenna mitgenommen, und legte die Halme sorgfältig und behutsam zwischen die Blätter. Als sie dies tat, blies der Wind das Titelblatt des Gesangbuches offen, sodaß die darauf in großen plumpen Buchstaben geschriebene Inschrift sichtbar ward: »Dies Buch gehört Sara Leeson, die es von Hugh Polwheal geschenkt erhalten.«

Nachdem sie die Grashalme zwischen die Blätter des Buches gelegt, lenkte sie ihre Schritte wieder nach dem Fußsteig zurück, der nach der Landstraße führte. Auf dem Moorland angekommen, nahm sie aus ihrer Schürzentasche die von den Schlüsseln abgeschnittenen Pergamentstreifen und warf sie vereinzelt unter das Heidekraut hinein.

»Nun ist alles getan!« sagte sie. »Gott helfe und verzeihe mir – nun ist alles getan und vorüber!«

Mit diesen Worten kehrte sie dem alten Hause und der Aussicht auf das Meer jenseits desselben den Rücken und ging weiter über das Moorland hinweg nach der Landstraße.

Vier Stunden später befahl Kapitän Treverton einem Diener, Sara Leeson zu sagen, er wünsche alles zu hören, was sie ihm über die letzten Augenblicke ihrer Herrin mitzuteilen habe.

Der Bote kam mit Blicken und Worten der Bestürzung und mit dem Briefe zurück, den Sara an ihren Herrn gerichtet.

 

Sofort, nachdem Kapitän Treverton den Brief gelesen, befahl er, schleunige Nachforschungen nach der Entflohenen anzustellen. Sie war in Folge der frühzeitigen Ergrauung ihres Haares, des seltsamen, scheuen Blicks ihrer Augen und ihrer Gewohnheit, fortwährend mit sich selbst zu sprechen, so leicht zu beschreiben und zu erkennen, daß ihre Spur mit Sicherheit bis Truro verfolgt ward.

In dieser großen Stadt aber ging diese Spur verloren und ward nie wieder aufgefunden. Es wurden Belohnungen ausgesetzt, die Behörden des Distrikts für die Sache interessiert, alles, was Reichtum und Ansehen tun konnten, um sie zu entdecken, ward getan, aber vergebens. Man ermittelte keinen Aufschluß, welcher auch nur einen Verdacht in Bezug auf ihren Aufenthaltsort an die Hand gegeben, oder auch nur im mindesten zur Aufklärung über die Beschaffenheit des in ihrem Briefe angedeuteten Geheimnisses beigetragen hätte.

Man sah und hörte in Porthgenna Tower nach dem Morgen des dreiundzwanzigsten August achtzehnhundertundneunundzwanzig von ihr nichts wieder.

Drittes Kapitel
Fünfzehn Jahre später

Die Kirche von Long Beckley – eines bedeutenden landwirtschaftlichen Dorfes in einer der Binnengrafschaften Englands – besitzt, obschon sie sich weder durch ihre Größe, noch durch ihre Bauart, noch durch ihr Alter auszeichnet, nichtsdestoweniger einen Vorzug, welchen die kaufmännischen Despoten von London ihrer stattlichen St. Pauls-Kathedrale barbarischerweise versagt haben. Sie steht nämlich auf einem großen freien Platz und man kann sie daher rings herum von jedem Punkte aus mit Bequemlichkeit überschauen.

Dieser große freie Raum um die Kirche herum ist von drei verschiedenen Richtungen her zugänglich. Es führt eine Straße geradeaus nach dem Haupteingange. Zweitens gibt es einen breiten Kiesweg, der an dem Tore des Pfarrhauses anfängt, quer über den Kirchhof führt und gebührendermaßen bis an den Eingang der Sakristei reicht. Drittens führt ein Fußweg über die Felder, mittelst dessen der Gutsherr und die feineren Leute, die in seiner erhabenen Nachbarschaft wohnen, überhaupt die Seitentür der Kirche erreichen können, so oft ihre angeborene Demut, von günstiger Witterung unterstützt, sie geneigt macht, die Heiligung des Sabbaths unter ihren Dienstleuten dadurch zu ermutigen, daß sie gleich der geringeren Klasse von Andächtigen auf ihren eigenen Füßen zur Kirche gehen.

Um halb acht Uhr an einem gewissen schönen Sommermorgen des Jahres achtzehnhundertvierundvierzig würde ein fremder Beobachter, wenn er zufällig in einem unbemerkten Winkel des Kirchhofs gestanden und mit scharfen Augen um sich geblickt hätte, wahrscheinlich Augenzeuge von Vorgängen gewesen sein, die ihn zu dem Glauben verleitet haben würden, daß in Long Beckley eine Verschwörung im Werke sei, deren Sammelpunkt die Kirche wäre und deren Haupträdelsführer aus den angesehensten Einwohnern bestünden.

Gesetzt, er hätte, als die Uhr die halbe Stunde schlug, nach dem Pfarrhause geblickt, so würde er gesehen haben, wie der Pfarrer oder Vikar von Long Beckley, der ehrwürdige Doktor Chennery, argwöhnisch sein Haus durch die Hintertür verließ, sich wie mit bösem Gewissen umsah, als er sich dem nach der Sakristei führenden Kieswege näherte, geheimnisvoll außen vor der Tür stehen blieb und unruhig die nach dem Dorfe führende Straße hinabschaute.

Angenommen, unser fremder Beobachter hätte sich versteckt gehalten und gleich dem Pfarrer die Straße hinabgeschaut, so hätte er sodann den Küster, einen würdevollen Mann mit einem strengen gelben Gesicht – er war ein protestantischer Loyola seinem Ansehen und ein fleißiger Schuhmacher seinem Handwerke nach – mit einem Blick unaussprechlichen Geheimnisses in seinem Gesicht und einem dicken Schlüsselbund in der Hand sich nähern gesehen haben.

Er würde ferner gesehen haben, wie der Küster sich gegen den Pfarrer mit einem grimmigen Lächeln geheimen Einverständnisses verneigte, gerade so wie Guy Fawkes sich wahrscheinlich gegen Catesby verneigte, als diese beiden bedeutenden Schießpulvereigentümer zusammenkamen, um in ihrer umfangreichen Niederlage unter den Parlamentshäusern Inventur zu halten.

Er würde gesehen haben, wie der Pfarrer in zerstreuter Weise dem Küster zunickte und – es war dies unzweifelhaft eine geheime Parole unter der doppelten Maske der alltäglichen Bemerkung und der freundlichen Frage – sagte: »Ein schöner Morgen, Thomas. Habt Ihr schon gefrühstückt?« Er würde ferner gehört haben, wie Thomas mit einer argwöhnischen Rücksicht auf die kleinsten Einzelheiten antwortete: »Ich habe eine Tasse Tee und eine Brotrinde zu mir genommen, Sir.«

Und dann würde er gesehen haben, wie diese beiden Verschwörer, nachdem sie beide gleichzeitig den Blick auf die Kirchenuhr geworfen, sich mit einander nach der Seitentür bewegten, welche die Aussicht auf den über die Felder führenden Fußweg hatte.

Wäre er ihnen gefolgt – wie unser fremder Beobachter doch ganz gewiß getan haben würde – so hätte er noch drei fernerweite Verschwörer entdeckt, welche den Fußweg entlang kamen.

Der Anführer dieses verräterischen Trupps war ein ältlicher Herr mit verwittertem Gesicht und einer biedern geraden Haltung, welche ganz bewundernswürdig geeignet war, den Argwohn zu entwaffnen.

Seine beiden Begleiter waren ein junger Herr und eine junge Dame, welche Arm in Arm gingen und flüsternd miteinander sprachen. Sie trugen beide das allereinfachste Morgenkostüm. Die Gesichter beider waren ein wenig bleich und das Benehmen der Dame ein wenig aufgeregt.

Außerdem war nichts Besonderes an ihnen zu bemerken, bis sie an das in den Kirchhof hineinführende Pförtchen kamen, wo dann das Benehmen des jungen Herrn auf den ersten Anblick ziemlich befremdend erschien.

Anstatt das Pförtchen zu öffnen und die Dame zuerst eintreten zu lassen, blieb er nämlich zurück, ließ es sie selbst öffnen, wartete bis sie die andere Seite erreicht hatte, streckte dann die Hand über das Pförtchen und ließ sich von ihr durch den Eingang hindurchführen, als wenn er sich plötzlich aus einem erwachsenen Mann in ein hilfloses kleines Kind verwandelt hätte.

Unser fremder Beobachter würde, wenn er dies bemerkt hätte, sowie ferner, daß, als die Personen vom Felder her sich dem Pfarrer so weit genähert hatten, daß sie ihn grüßen konnten, und nachdem der Küster von seinem Schlüsselbund Gebrauch gemacht, um die Kirchentür zu öffnen, der Begleiter der jungen Dame in die Kirche – diesmal aber von Doktor Chennerys Hand – ebenso in die Kirche hineingeführt, wie er früher durch das Pförtchen geführt ward, zu dem unvermeidlichen Schlusse gekommen sein, daß die einen solchen Beistand bedürfende Person mit dem Übel der Blindheit behaftet sei.

Durch diese Entdeckung ein wenig stutzig gemacht, würde er noch mehr erstaunt sein, wenn er in die Kirche hineingeschauet und gesehen hätte, daß der Blinde und die junge Dame miteinander vor dem Altar standen mit dem ältlichen Herrn als Vater daneben.

Seine nun in ihm erwachende Vermutung, daß der Zweck, welcher die Verschwörer zu dieser frühen Stunde zusammenführte, eine Vermählung beträfe und daß es sich hier um die Feier einer Hochzeit unter der strengsten Verschwiegenheit handle, würde binnen fünf Minuten durch das Erscheinen des Doktor Chennery bestätigt worden sein, welcher in voller Amtstracht aus der Sakristei heraustrat und mit seiner sanften, wohlklingenden Stimme die Traurede und Trauformel ablas.

Nach Beendigung dieser Zeremonie würde der Fremde in immer größere Verwunderung geraten sein, wenn er bemerkt hätte, daß die dabei beteiligten Personen in dem Augenblick, wo das Unterzeichnen, Küssen und bei solchen Gelegenheiten gebräuchliche Gratulieren vorüber war, sich wieder trennten und rasch nach den verschiedenen Richtungen hin entfernten, von welchen her sie sich der Kirche genähert hatten.

Wir lassen den Küster auf dem Dorfwege, die Braut, den Bräutigam und den ältlichen Herrn auf dem Fußwege über die Felder zurückkehren und den fingierten fremden Beobachter als Beute getäuschter Neugier nach irgend einer beliebigen Richtung hin verschwinden und folgen dem Doktor Chennery zum Frühstück im Pfarrhause, um zu hören, was er in Bezug auf seine amtlichen Leistungen an diesem Morgen innerhalb der vertrauten Atmosphäre seines Familienkreises zu sagen hat.

Die bei diesem Frühstück versammelten Personen waren erstens Mr. Phippen, ein Gast; zweitens Miß Sturch, eine Gouvernante; drittens, viertens und fünftens Miß Louise Chennery, zehn Jahre alt; Miß Amely Chennery, neun Jahre alt, und Master Robert Chennery, acht Jahre alt. Es war kein Mutterantlitz gegenwärtig, um das häusliche Gemälde vollständig zu machen. Der Doktor war seit der Geburt seines jüngsten Kindes verwitwet.

Der Gast war ein alter Universitätsfreund des Pfarrers und verweilte jetzt, wie man annahm, um seiner Gesundheit willen in Long Beckley. Die meisten Menschen von irgendwelchem Charakter wissen sich einen Ruf von irgendeiner Art zu erwerben, der sie in dem geselligen Zirkel, in welchem sie sich bewegen, individualisiert. Mr. Phippen war ein Mann von einigem Charakter und lebte in der Wertschätzung seiner Freunde auf den Ruf hin, ein Märtyrer von Verdauungsbeschwerden zu sein, mit großer Auszeichnung. Überall wohin Mr. Phippen ging, dahin gingen auch die Leiden seines Magens mit ihm. Er übte öffentliche Diät und kurierte sich öffentlich. Er war mit sich selbst und seinen Krankheiten so unausgesetzt beschäftigt, daß er einen zufälligen Bekannten binnen fünf Minuten schon in die Geheimnisse der Beschaffenheit seiner Zunge einweihete, und ganz ebenso fortwährend bereit war, den Zustand seiner Verdauung zu besprechen, wie die Leute im Allgemeinen bereit sind, den Zustand des Wetters zu erörtern.

Über dieses Lieblingsthema sprach er wie über jedes andere in freundlich sanfter Weise, zuweilen in wehmütigem, zuweilen auch in sentimental schmachtendem Tone. Seine Höflichkeit war von der drückend liebreichen Sorte und er machte, wenn er andere Leute anredete, fortwährend von dem Worte »Lieber« Gebrauch.

Was sein Äußeres betraf, so konnte man ihn nicht einen schönen Mann nennen. Seine Augen waren wässerig, groß und hellgrau und rollten in einem Zustande feuchter Bewunderung irgend eines Gegenstandes oder einer Person fortwährend von einer Seite zur andern. Seine Nase war lang, herabhängend und tief melancholisch, wenn in Bezug auf dieses Glied ein solcher Ausdruck statthaft ist. Übrigens hatten seine Lippen eine weinerliche Krümmung, seine Gestalt war klein, sein Kopf groß, kahl und locker zwischen den Schultern sitzend, seine Art sich zu kleiden ein wenig exzentrisch elegant, sein Alter ungefähr fünfundvierzig Jahre, sein Stand der eines ledigen Mannes.

Dies war Mr. Phippen, der Märtyrer der Verdauungsbeschwerden und Gast des Pfarrers von Long Beckley.

Miß Sturch, die Gouvernante, kann kurz und genau als eine junge Dame beschrieben werden, welche seit dem Tage ihrer Geburt niemals durch eine Idee oder eine Empfindung belästigt worden. Sie war ein kleines, feistes, ruhiges, weißes, lächelndes, nettgekleidetes Mädchen, genau zur Verrichtung gewisser Pflichten zu gewissen Stunden aufgezogen und im Besitz eines unerschöpflichen Wörterbuchs von Gemeinplätzen, welche, so oft es verlangt ward, stets in derselben Qualität zu jeder Stunde des Tages und zu jeder Jahreszeit freundlich von ihren Lippen rieselten. Miß Sturch lachte nie und weinte nie, sondern wählte den sichern Mittelweg, fortwährend zu lächeln. Sie lächelte, wenn sie des Morgens im Januar aus ihrem Schlafzimmer herunterkam und sagte, es wäre sehr kalt. Sie lächelte, wenn sie an einem Morgen im Juli herunterkam und sagte, es sei sehr heiß. Sie lächelte, wenn der Bischof einmal des Jahres sich einfand, um den Vikar zu besuchen; sie lächelte, wenn der Fleischerjunge jeden Morgen kam, um Bestellungen zu holen. Sie lächelte, wenn Miß Louise an ihrer Brust weinte und wegen ihrer Fehler in der Geographie um Nachsicht flehte; sie lächelte, wenn Master Robert ihr auf den Schoß sprang und ihr befahl, ihm das Haar zu bürsten. Es mochte im Pfarrhause geschehen, was da wollte, so war nichts im Stande, Miß Sturch aus dem einen glatten Gleise herauszuwerfen, in welchem sie sich fortwährend und stets in demselben Schritt hin- und herbewegte. Hätte sie während der Bürgerkriege in England in einer Royalistenfamilie gelebt, so hätte sie am Morgen der Hinrichtung Karls des Ersten dem Koche geklingelt, um das Mittagsmahl zu bestellen. Wäre Shakespeare wieder zum Leben erwacht und hätte er an einem Sonnabend abends sechs Uhr in dem Pfarrhause vorgesprochen, um Miß Sturch genau zu erklären, mit welchen Ideen er sich bei dem Verfassen des Trauerspiels Hamlet getragen, so hätte sie gelächelt und gesagt, es sei dies außerordentlich interessant, bis es sieben Uhr geschlagen, wo sie den Barden von Avon gebeten hätte, sie zu entschuldigen, um dann mitten in einem Redesatze fortzulaufen und die Hausmagd bei Vergleichung des Waschbuches zu beaufsichtigen.

 

Eine sehr achtungswerte junge Person war Miß Sturch, wie die Damen von Long Beckley zu sagen pflegten, so umsichtig mit den Kindern und so treu in Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, von guten Grundsätzen beseelt und eine Pianistin mit markigem Anschlage, gerade hübsch genug, gerade gut genug gekleidet, gerade redselig genug, vielleicht nicht ganz alt genug und vielleicht ein wenig allzusehr zu einer zu Umarmungen verlockenden Korpulenz um die Taille herum geneigt – im ganzen genommen aber eine sehr schätzenswerte junge Person.

Bei den charakteristischen Eigentümlichkeiten der Schüler der guten Miß Sturch ist es nicht notwendig, sehr ausführlich zu verweilen.

Miß Louises zur Gewohnheit gewordene Schwäche war ein eingefleischter Hang, den Schnupfen zu bekommen.

Miß Amelys Hauptfehler war eine Geneigtheit, ihren Gaumen zu befriedigen, indem sie zu unberechtigten Zeiten und Stunden allerhand Ergänzungsmahlzeiten und Frühstücke zu sich nahm.

Master Roberts bemerkenswerteste Mängel hatten ihren Grund in der Schnelligkeit, womit er seine Kleider zerriß, und der Stumpfsinnigkeit, welche er beim Lernen des Einmaleins entwickelte.

Die Tugenden sämtlicher drei Geschwister waren ziemlich von einer und derselben Art – sie waren gut gewachsen, sie waren echte Kinder, und sie liebten ihre Miß Sturch auf sozusagen tumultuarische Weise.

Um die Galerie von Familienporträts vollständig zu machen, müssen wir wenigstens versuchen, einen Umriß von dem Vikar oder Pfarrer selbst hinzuzufügen.

Doktor Chennery gereichte in physischer Beziehung der Kirche, welche er angehörte, zur Zierde. Er maß sechs Fuß zwei Zoll, er wog siebzehn Stein, er war der beste Schläger in dem Cricket-Club von Long Beckley; er war in Bezug auf Wein und Hammelfleisch streng orthodox; er brachte auf der Kanzel niemals unangenehme Theorien über die künftige Bestimmung der Menschen zur Sprache; er zankte sich mit niemandem außerhalb der Kanzel; er knöpfte nie seine Taschen zu, wenn die Bedürfnisse seiner armen Brüder – auch mit Einschluß von Andersgläubigen – ihn aufforderten sie zu öffnen. Sein Weg durch die Welt war ein ruhiger Marsch die hohe trockene Mitte einer sichern Chaussee entlang. Die geschlängelten Nebenpfade theologischer Kontroversen konnte sich ihm rechts und links so verlockend öffnen wie sie wollten – er ging ruhig seinen Weg und ließ sich nicht irre machen. Neuerungssüchtige junge Rekruten der Kirchenarmee konnten ihm die Neununddreißig Artikel auf die verfänglichste Weise dicht unter der Nase aufschlagen, so schaute doch das vorsichtige Auge des Veterans nie um ein Haar breit weiter als seine eigene Unterschrift am Fuße derselben. Er verstand von der Theologie so wenig als möglich, er hatte seiner vorgesetzten Behörde während seines ganzen Lebens nie eine Minute lang irgend eine Belästigung verursacht, er war unschuldig an aller Beteiligung beim Lesen oder Schreiben von Flug- und Streitschriften – kurz, er war der ungeistlichste aller Geistlichen, aber trotz alledem machte er in seiner Amtstracht eine Erscheinung, wie man sie selten sieht.

Siebzehn Stein aufrechtes muskelstarkes Fleisch, ohne eine einzige wunde und unreine Stelle, besitzen jedenfalls das Verdienst, daß sie Ausdauer hoffen lassen und dies ist eine vortreffliche Tugend bei Säulen jeder Art, in der gegenwärtigen Zeit aber eine ganz besonders kostbare Eigenschaft an einer Säule der Kirche.

Sobald der Vikar in das Frühstückszimmer trat, kamen ihm die Kinder mit lautem Geschrei entgegen. Er war in Beobachtung der Pünktlichkeit bei Mahlzeiten sehr streng und sah sich jetzt selbst von der Uhr überführt, daß er eine Viertelstunde zu spät zum Frühstück kam.

»Es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen, Miß Sturch,« sagte der Vikar, »ich habe jedoch für meine Verspätung eine gute Entschuldigung.«

»O bitte, sprechen Sie nicht davon, Sir,« sagte Miß Sturch, indem sie freundlich ihre feisten kleinen Hände eine über der andern rieb. »Ein schöner Morgen. Ich fürchte, wir werden wieder einen warmen Tag bekommen. Robert, mein guter Junge, stemme dich nicht mit dem Ellbogen auf den Tisch. Ein schöner Morgen – wirklich ein schöner Morgen.«

»Ist dein Magen immer noch nicht in Ordnung, Phippen, wie?« fragte der Vikar, indem er den Schinken zu tranchieren begann.

Mr. Phippen schüttelte kläglich seinen dicken Kopf, legte seinen gelben, mit einem großen Türkisenring geschmückten Zeigefinger auf das mittelste Quarré seiner hellgrünen Sommerweste, sah Doktor Chennery kläglich an und seufzte, nahm den Finger wieder weg und brachte aus der Brusttasche seines Paletot ein kleines Mahagoni-Etui heraus. Aus diesem nahm er eine sauber gearbeitete kleine Apothekerwaage mit den dazugehörigen Gewichten, ein Stück Ingwer und ein blankpoliertes kleines silbernes Reibeisen.

»Sie werden einen Kranken entschuldigen, meine liebe Miß Sturch, nicht wahr?« sagte Mr. Phippen, indem er den Ingwer matt und langsam in die nächste Teetasse zu reiben begann.

»Ratet einmal, weshalb ich heute Morgen eine Viertelstunde zu spät komme,« sagte der Vikar, indem er geheimnisvoll einen Blick um den Tisch herumschweifen ließ.

»Du hast es verschlafen, Papa!« riefen die drei Kinder, indem sie triumphierend in die Hände klatschten.

»Was meinen Sie, Miß Sturch?« fragte Doktor Chennery.

Miß Sturch lächelte wie gewöhnlich, rieb wie gewöhnlich die Hände, hustete wie gewöhnlich sanft, um die Kehle frei zu machen, sah unverwandt die Teemaschine an und bat dann mit der anmutigsten Höflichkeit, man möge sie entschuldigen, wenn sie nichts sage.

»Nun bist du an der Reihe, Phippen,« sagte der Vikar. »Rate einmal, weshalb ich mich heute Morgen verspätet habe.«

»Mein lieber Freund,« sagte Mr. Phippen, indem er dem Doktor brüderlich die Hand drückte, »fordere mich nicht auf, zu raten, denn ich weiß es. Ich sah, was du gestern beim Dinner aßest – ich sah, was du nach dem Dinner trankst. Keine Verdauung könnte dies aushalten, nicht einmal die deinige. Ich soll erraten, weshalb du diesen Morgen so spät gekommen bist? Ach geh doch, ich weiß es ja ! Du gute, liebe Seele, du hast Arznei eingenommen!«

»Nein, Gott sei Dank, seit zehn Jahren ist davon kein Tropfen über meine Zunge gekommen,« sagte Doktor Chennery mit einem Blick frommer Dankbarkeit. »Nein, nein, du irrst dich vollständig. Du mußt nämlich wissen, ich bin in der Kirche gewesen und was glaubest du wohl, was ich da gemacht habe? Hören Sie, Miß Sturch – höret, Mädchen, mit allen euren Ohren! Der arme blinde junge Frankland ist endlich ein glücklicher Mann – heute Morgen eben habe ich ihn mit unserer lieben Rosamunde Treverton vermählt.«

»Ohne uns etwas zu sagen, Papa!« riefen die beiden Mädchen gleichzeitig im gellendsten Tone des Ärgers und der Überraschung. »Ohne uns etwas zu sagen, während du doch weißt, wie gern wir zugesehen hätten!«

Eben dies war der Grund, weshalb ich euch nichts davon sagte, meine lieben Kinder,« antwortete der Vikar. »Der junge Frankland ist noch nicht so an sein Übel gewöhnt, der arme junge Mann, daß er es ertragen könnte, sich in der Eigenschaft eines blinden Bräutigams öffentlich bemitleiden und angaffen zu lassen. Er hatte eine so große Furcht davor, an seinem Hochzeitstage Gegenstand der Neugier zu sein, und Rosamunde, dieses gutherzige Mädchen, war so darauf bedacht, ihm in allen Dingen den Willen zu tun, daß wir verabredeten, die Vermählung zu einer Stunde des Morgens zu vollziehen, wo sich vermuten ließe, daß noch keine müßigen Gaffer sich in der Nähe der Kirche herumtrieben. Mir war in Bezug auf den Tag die strengste Verschwiegenheit zur Pflicht gemacht und dasselbe war mit meinem Küster Thomas der Fall. Mit Ausnahme von uns beiden, der Braut, des Bräutigams und des Vaters der Braut, Kapitäns Treverton, wußte niemand –«