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Die Frau in Weiss

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»Wollen Sie nur gütigst sagen, daß ich den Brief verstehe und herzlich dafür danke?« sagte ich zu ihm. »Weiter ist für den Augenblick Nichts zu bestellen.«

Gerade in dem Augenblicke, in dem ich diese Worte sagte und den Brief offen in der Hand hielt, kam Graf Fosco um die Ecke der Hauptstraße und stand vor mir, als ob er aus der Erde emporgeschossen wäre.

Sein plötzliches Erscheinen an einem Orte, an dem ich ihn in der ganzen Welt am wenigsten zu sehen erwartete, machte mich sprachlos vor Erstaunen. Der Bote empfahl sich und stieg wieder in die Droschke – ich konnte kein Wort zu ihm sagen, sogar nicht einmal seinen Gruß erwidern. Ich war wie versteinert durch die Ueberzeugung, daß ich entdeckt sei, und noch dazu von diesem Manne unter allen andern.

»Kehren Sie zum Hause zurück, Miß Halcombe?« frug er, ohne das geringste Zeichen der Ueberraschung von seiner Seite und ohne der Droschke nachzublicken, welche davonfuhr, als er mich anredete.

Ich sammelte mich hinreichend, um ein Zeichen der Bejahung zu machen.

»Ich gehe ebenfalls zurück,« sagte er, »bitte, gestatten Sie mir das Vergnügen, Sie begleiten zu dürfen. Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten? Sie scheinen erstaunt, mich zu sehen!«

Ich nahm seinen Arm. Das Erste, was mir von meinem zerstreuten Bewußtsein wiederkehrte, war, daß ich lieber Alles opfern müsse, ehe ich ihn uns zum Feinde machte.

»Sie scheinen erstaunt, mich zu sehen?« wiederholte er mit seiner ruhigen Beharrlichkeit.

»Es schien mir, daß ich Sie mit Ihren Vögeln im Frühstückszimmer beschäftigt sah, Graf Fosco,« sagte ich so ruhig und fest, als mir dies möglich war.

»Allerdings. Aber meine gefiederten kleinen Kinder, theure Dame, sind nur zu sehr andern Kindern gleich. Sie haben ihre Tage des Eigensinns, und von diesen ist der heutige Morgen einer. Meine Frau kam herein, als ich sie eben wieder in ihren Bauer setzte, und sagte mir, Sie seien soeben allein auf einen Spaziergang ausgegangen. Sie sagten ihr dies, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Nun, Miß Halcombe, das Vergnügen, Sie zu begleiten, war eine Versuchung für mich; der ich nicht zu widerstehen vermochte. In meinem Alter liegt doch nichts Böses in diesem Geständnisse, wie? Ich ergriff meinen Hut und eilte, mich Ihnen als Begleiter anzutragen. Selbst ein so dicker, alter Mann wie Fosco scheint mir besser als gar keine Begleitung, wie? Ich schlug den verkehrten Weg ein, kehrte in Verzweiflung wieder um, und hier bin ich endlich – darf ich es sagen? – auf dem Gipfel meines Glückes.«

In diesem complimentenreichen Schwunge redete er fort, und zwar mit einer Geläufigkeit, die mir keine weitere Anstrengung überließ, als die, meine Fassung zu bewahren. Er deutete auch nicht im Entferntesten auf das hin, was er auf dem Wege gesehen hatte, noch auf den Brief, den ich immer noch in der Hand hielt. Diese bedeutungsvolle Discretion half, mich davon zu überzeugen, daß er durch die allerehrlosesten Mittel das Geheimniß meines Schreibens in Laura’s Interesse entdeckt haben mußte, und daß er jetzt, nachdem er sich von der heimlichen Art und Weise, in der ich die Antwort empfangen, überzeugt hatte, für seine Zwecke genug wußte und es sich jetzt nur angelegen sein ließ, den Argwohn einzuschläfern, den er in mir erweckt zu haben gewiß sein konnte. Ich war unter diesen Umständen klug genug, keinen Versuch zur Erklärung zu machen, und Weib genug, um ungeachtet meiner Furcht vor ihm zu fühlen, daß meine Hand dadurch befleckt werde, daß sie auf seinem Arme ruhte.

Vor dem Hause begegneten wir dem Gig, das nach dem Stalle zurückgefahren wurde. Sir Percival war soeben zurückgekehrt. Er kam an die Hausthür, um uns zu begrüßen. Welche sonstige Erfolge seine Reise auch gehabt haben mochte, seine Laune hatte sie nicht verbessert.

»O, hier sind endlich Zwei von der Gesellschaft,« sagte er mit finsterem Blicke.

»Was soll es heißen, daß das ganze Haus leer ist? Wo ist Lady Glyde?«

Ich erzählte ihm von dem Verluste der Broche und daß Laura hinausgegangen sei, um sie zu suchen.

»Broche oder nicht,« brummte er verdrießlich, »ich empfehle ihr, nicht zu vergessen, daß ich sie in einer halben Stunde in der Bibliothek erwarte.«

Ich zog meine Hand von des Grafen Arm hinweg und stieg langsam die Stufen hinan. Er beehrte mich mit einer seiner süperben Verbeugungen und wandte sich dann fröhlich zu dem mürrischen Herrn des Hauses.

»Sage mir, Percival,« begann er, »hast Du eine angenehme Fahrt gemacht? Und ist Deine hübsche, blanke, braune Molly auch ermüdet zurückgekommen?«

»Zum Henker mit der braunen Molly – und mit der Fahrt ebenfalls! Ist das Frühstück fertig? Mich hungert.«

»Und ich möchte mich erst auf fünf Minuten allein mit Dir unterhalten,« entgegnete der Graf, »fünf Minuten mein Freund, hier auf dem Rasen.«

»Worüber?«

»Ueber Sachen, die ganz außerordentlich Dich betreffen.«

Ich zögerte lange genug, indem ich durch die Hausthür ging, um diese Frage und Antwort zu hören, auch zu sehen. wie Sir Percival mit verdrießlichem Zaudern die Hände in die Tasche steckte.

»Wenn Du mir noch mehr von Deinen verwünschten Scrupeln aufzutischen hast,« sagte er, »so will ich sie nicht hören. Mich hungert.«

»Komm’ her und höre, was ich Dir zu sagen habe,« wiederholte der Graf, ohne sich durch Sir Percival’s grobe Reden im Geringsten reizen zu lassen.

Sir Percival ging die Stufen hinunter. Der Graf nahm ihn beim Arm und führte ihn langsam fort. Die »Sachen,« die ihn betrafen, bezogen sich, wie ich überzeugt war, auf die Unterschrift. Sie sprachen ohne allen Zweifel von Laura und mir. Ich fühlte, wie ich vor Sorge förmlich schwach wurde. Es durfte für uns von der größten Wichtigkeit sein, zu wissen, was sie in diesem Augenblicke zusammen sprachen, und doch war es eine Unmöglichkeit, auch nur ein Wort davon aufzufangen.

Ich ging im Hause umher von einem Zimmer ins andere mit dem Briefe des Advokaten im Kleide (denn ich fürchtete mich bereits, selbst im Verschlusse ihn aufzubewahren), bis mich der Druck der Erwartung beinahe wahnsinnig machte. Es war noch immer Nichts von Laura zu sehen, und ich dachte schon daran, hinauszugehen und sie aufzusuchen. Aber die Angst und Besorgniß, in der ich den ganzen Morgen gelebt, hatten mich so erschöpft, daß mich jetzt die Hitze ganz überwältigte, und als ich versuchte zur Thüre zu gehen, war ich genöthigt umzukehren und mich im Salon auf das nächste Sopha zu legen, um mich erst wieder zu erholen.

Es gelang mir eben etwas ruhiger zu werden, als die Thür leise geöffnet wurde, und der Graf hereinschaute.

»Ich bitte tausendmal um Vergebung, Miß Halcombe,« sagte er, »ich wage nur die Thür zu öffnen, weil ich gute Nachricht für Sie habe. Percival, der, wie Sie wissen; in Allem capriciös ist, hat sich herabgelassen, im letzten Augenblicke seine Meinung zu ändern, und das Geschäft mit der Unterschrift ist einstweilen verschoben. Eine große Erleichterung für uns Alle, wie ich mit Vergnügen in Ihrem Gesichte lese, Miß Halcombe. Bitte, machen Sie Lady Glyde meine hochachtungsvolle Empfehlung, wenn Sie ihr diesen angenehmen Wechsel der Verhältnisse mittheilen.«

Er verließ mich, ehe ich mich noch von meinem Erstaunen erholen konnte. Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß diese merkwürdige Veränderung in Bezug auf die Unterschrift seinem Einflusse zuzuschreiben war, und daß seine Entdeckung meines gestrigen Schreibens nach London und der heute von mir in Empfang genommenen Antwort auf dasselbe ihm die Mittel geboten hatte, sich mit sicherem Erfolge ins Mittel zu legen.

Ich fühlte dies, doch schien mein Geist die Erschöpfung meines Körpers zu theilen, denn ich war nicht im Stande, diese Gedanken zusammenhängend weder mit der zweifelhaften Gegenwart, noch mit der drohenden Zukunft in Verbindung zu bringen. Ich versuchte zum zweiten Male hinauszugehen, um Laura zu suchen, aber es wurde mir schwindelig und die Kniee zitterten mir, so daß mir nichts weiter. übrig blieb, als wieder zum Sopha zurückzukehren und mich sehr wider Willen abermals niederzulegen.

Die Stille im Hause und das leise Summen der Sommerinsekten draußen vor den Fenstern beruhigten mich. Meine Augen schlossen sich von selbst, und ich versank allmälich in einen seltsamen Zustand, der kein Wachen war – denn ich wußte Nichts von dem, was um mich her vorging – und auch kein Schlaf, denn ich war mir meiner eigenen Ruhe bewußt. In diesem Zustande entfloh mir mein fieberhaft erregter Geist, während mein müder Körper ruhte, und in dieser Art von Erstarrung oder wachem Träumen – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll – sah ich Walter Hartright. Ich hatte, seit ich diesen Morgen ausgestanden war, nicht wieder an ihn gedacht; Laura hatte kein Wort gesprochen, das entweder direct oder indirect Bezug auf ihn gehabt hätte – und doch sah ich ihn jetzt so deutlich, wie wenn die Vergangenheit wieder zurückgekehrt und wir Beide wieder in Limmeridge gewesen wären.

Er erschien mir mitten unter vielen andern Männern, von deren Gesichtern ich keins unterscheiden konnte. Sie lagen alle auf den Stufen eines ungeheuren verfallenen Tempels. Riesige tropische Bäume, um deren Stämme sich endlose Schlingpflanzen zogen und hinter deren Aesten und Blättern scheußliche steinerne Götzenbilder glitzerten und grinsten, umgaben den Tempel, schlossen den Blick auf den Himmel aus und warfen einen trüben Schatten über die schlummernden Männer auf den Stufen. Weiße Dünste stiegen kräuselnd und heimlich aus dem Erdboden empor, näherten sich wie kleine Rauchwolken den Schläfern, berührten sie, und streckten sie einen nach dem andern todt auf der Stelle hin, auf der sie lagen. Die Todesangst des Mitleids für Walter löste meine Zunge, und ich flehte ihn an zu entfliehen.

»Komm zurück! o komm zurück!« sagte ich. »Erinnere Dich des Versprechens, daß Du ihr und mir gegeben hast. Kehr zu uns zurück, ehe die Pest Dich ereilt und Dich todt zu den Uebrigen legt.«

 

Er blickte mich mit überirdischer Ruhe im Gesichte an. »Warte!« sagte er, »ich werde zurückkehren. Jene Nacht, in der ich dem verlassenen Weibe auf der Landstraße begegnete, war die, welche mein Leben zum Werkzeuge eines Zweckes erwählte, den ich bis jetzt noch nicht erkenne. Hier einsam in der Wildniß, oder dort bewillkommt im Lande meiner Heimath, wandere ich immer auf dem dunkeln Pfade hin, der mich und Dich und die Schwester Deiner und meiner Liebe einer unbekannten Vergeltung, einem unvermeidlichen Ende zuführt. Warte und schaue. Die Pest, welche die Andern dahin streckt, wird an mir vorüber gehen.«

Ich sah ihn zum zweiten Male. Er war noch in dem Walde, und die Zahl seiner Gefährten war auf ganz wenige zusammengeschmolzen. Der Tempel war fort und die Götzenbilder, und statt ihrer lauerten mörderisch hinter den Blättern und Zweigen dunkle zwerghafte Männer, die in ihren Händen gespannte Bogen hielten. Mir bangte wieder um Walter, und ich schrie auf, um ihn zu warnen, und abermals wandte er sich mit derselben unerschütterlichen Ruhe im Gesichte zu mir. »Noch ein Schritt auf dem dunkeln Pfade,« sagte er. »Warte und schaue. Die Pfeile, welche, die Andern treffen, werden mich unberührt lassen.«

Ich sah ihn zum dritten Male in einem gescheiterten Schiffe, das an einem wilden, sandigen Ufer gestrandet war. Die überladenen Boote machten sich von ihm fort dem Lande zu und ließen ihn allein auf dem Schiffe zurück, um mit demselben zu sinken. Ich rief ihm zu, das letzte Boot zurückzurufen und eine letzte Anstrengung zu machen, um sein Leben zu retten. Das unbewegliche Gesicht schaute mich abermals an, und die ruhige Stimme gab mir die unveränderliche Antwort »Noch ein Schritt auf dem dunkeln Pfade. Warte und schaue. Die See, welche die Andern verschlingt, wird mich verschonen.«

Ich sah ihn zum letzten Male. Er kniete an einem Grabmale von weißem Marmor, und der Schatten einer verschleierten Frau stieg aus dem Grabe empor und stand wartend an seiner Seite. Die überirdische Ruhe in seinem Gesichte hatte sich in überirdischen Kummer verwandelt. Doch die furchtbare Sicherheit seiner Worte blieb dieselbe.

»Immer dunkler und immer weiter,« sagte er. »Der Tod nimmt die Guten, die Schönen und die Jungen – und mich verschont er. Die Pest, die verwüstet, der Pfeil, welcher trifft, die See, welche verschlingt, das Grab, das sich über Liebe und Hoffnung schließt, sind Schritte auf meiner Wanderung und bringen mich dem Ende näher und immer näher.«

Mein Herz sank mir unter einer Angst, für die es keine Worte, einem Kummer, für den es keine Thränen giebt. Die Finsterniß umhüllte den Pilger am Marmorsteine, die verschleierte Frau aus dem Grabe, und die Träumerin, die auf sie hinblickte. Ich sah und hörte Nichts weiter.

Ich erwachte, indem ich fühlte, wie sich mir eine Hand auf die Schulter legte. Es war Laura’s Hand.

Sie war neben dem Sopha niedergekniet – ihr Gesicht war erhitzt und bewegt, und ihre Augen begegneten den meinen mit einem verwirrten, aufgeregten Blicke. Ich fuhr in die Höhe, sowie ich sie erblickte.

»Was hat sich zugetragen?« frug ich. »Was hat Dich erschreckt?«

Sie blickte sich um nach der halb geöffneten Thür, brachte ihre Lippen dicht an mein Ohr und antwortete flüsternd:

»Marianne! – die Gestalt am See – die Schritte gestern Abend – ich habe sie soeben gesehen! ich habe soeben mit ihr gesprochen!«

»Mit wem, um Gotteswillen?«

»Mit Anna Catherick.«

– Ich war so erschrocken über Laura’s verstörtes Gesicht und aufgeregtes Wesen und durch die ersten wachen. Eindrücke meines Traumes so außer Fassung gebracht, daß ich nicht im Stande war, die Offenbarung zu erfassen, die sich mir aufthat, als der Name Anna Cathericks von ihren Lippen fiel. Ich konnte nur wie angewurzelt dastehen und sie in athemlosem Schweigen anschauen.

Sie war zu sehr mit dem, was sich zugetragen hatte, beschäftigt, um die Wirkung ihrer Antwort auf mich zu bemerken. »Ich habe Anna Catherick gesehen! Ich habe mit Anna Catherick gesprochen!« wiederholte sie, als ob ich sie nicht gehört habe. »O Marianne, ich habe Dir so viele Dinge zu erzählen! Komm mit – wir könnten hier gestört werden – komm gleich auf mein Zimmer!«

Mit diesen eifrigen Worten ergriff sie meine Hand und führte mich durch die Bibliothek in das Eckzimmer im Erdgeschoß, das zu ihrem besondern Gebrauch hergerichtet worden. Keine dritte Person außer ihrer Kammerjungfer hätte einen Vorwand finden können, um uns hier zu überraschen. Sie schob mich vor sich hinein, verschloß die Thür und zog die Glanzkattun-Vorhänge, die auf der Innenseite derselben hingen, darüber hin.

Das seltsame, betäubte Gefühl, das mich ergriffen hatte, dauerte noch immer fort. Aber die wachsende Ueberzeugung, daß das Gewebe, das sich schon so lange um uns zu ziehen gedroht hatte, uns Beide plötzlich fest gefangen hielt, begann sich jetzt meinem Geiste aufzudrängen. Ich konnte dies nicht mit Worten ausdrücken – kaum, daß ich mir dessen selbst unklar bewußt wurde. »Anna Catherick!«, flüsterte ich mit unnützen hülfloser Wiederholung vor mich hin – Anna Catherick!«

Laura zog mich zu dem nächsten Sitze, einem viereckigen Sopha mitten in der Stube, hin »Sieh!« sagte sie; »sieh her!« und deutete auf ihre Brust.

Ich sah zum erstenmale, daß die Broche wieder an ihrer Stelle stak. In dem Anblicke lag etwas Wirkliches und im Berühren derselben etwas Faßliches, das dem Strudel meiner Gedanken Einhalt zu thun schien und, mir half mich zu sammeln.

»Wo fandest Du Deine Broche?« Die ersten Worte, die ich in diesem wichtigen Augenblicke sprechen konnte, waren die, welche diese unerhebliche Frage enthielten.

»Sie fand sie, Marianne!«

»Wo?«

»Am Boden im Boothause. O, wie soll ich anfangen, – wie soll ich Dir Alles erzählen! Sie sprach so seltsam zu mir, sah so entsetzlich leidend aus, verließ mich so plötzlich – –«

Ihre Stimme wurde lauter, als der Aufruhr ihrer Erinnerungen ihre Gedanken drängte. Der eingewurzelte Argwohn, der in diesem Hause Nacht und Tag meinen Geist bedrückt, erhob sich schnell in mir, um sie zu warnen – gerade wie der Anblick der Broche einen Augenblick vorher mich so schnell veranlaßt hatte, sie zu befragen.

»Sprich leise,« sagte ich »Das Fenster ist offen, und es zieht sich ein Gartensteig darunter hin. Fange von vorn an, Laura. Sage mir Wort für Wort, was sich zwischen Dir und jener Frau zugetragen hat.«

»Soll ich zuvor das Fenster schließen?«

»Nein; nur sprich leise: bedenke, daß Anna Catherick unter dem Dache Deines Mannes ein gefährlicher Gegenstand ist. Wo sahst Du sie zuerst?«

»Im Boothause, Marianne. Ich ging, wie Du weißt, hinaus, um meine Broche zu suchen und schritt langsam den Weg durch die Anlagen entlang, indem ich bei jedem Schritte sorgfältig zu beiden Seiten auf den Boden blickte So langte ich nach ziemlich langer Zeit im Boothause an, und sobald ich drin war, kniete ich nieder und suchte auf dem ganzen Boden nach der Broche.

Ich suchte noch immer, mit dem Rücken dem Eingange zugewandt, als ich eine sanfte fremde Stimme hinter mir ›Miß Fairlie!‹ rufen hörte.«

»Miß Fairlie!«

»Ja – meinen alten Namen – den lieben, bekannten Namen, von dem ich auf immer geschieden zu sein glaubte. Ich sprang auf – nicht erschrocken, denn die Stimme war zu sanft und angenehm, um irgend Jemanden erschrecken zu können – aber sehr überrascht. Da am Eingange stand eine Frau, deren Gesicht ich nie zuvor gesehen zu haben mich erinnerte, und sah mich an.«

»Wie war sie gekleidet?«

»Sie trug ein sauberes, hübsches weißes Kleid und darüber ein ärmliches, dünnes dunkles Tuch. Ihr Hut war von braunem Stroh und ebenso ärmlich und abgetragen, wie der Shawl. Mich frappirte der Unterschied zwischen ihrem Kleide und ihrem übrigen Anzuge, und sie sah, daß ich ihn bemerkte. ›Sehen Sie meinen Hut und mein Tuch nicht an,‹ sagte sie mit schnellem, athemlos plötzlichem Wesen; ›wenn ich nicht Weiß tragen kann, ist mir’s einerlei, was ich trage. Sehen Sie mein Kleid an, soviel Sie wollen; seiner schäme ich mich nicht.‹ War es nicht seltsam? Ehe ich noch etwas Begütigendes sagen konnte, streckte sie eine Hand aus, und ich sah meine Broche darin. Ich war so froh und glücklich darüber, daß ich ganz nahe an sie heran trat, um ihr zu sagen, was ich wirklich fühlte. ›Sind Sie dankbar genug, um mir eine kleine Gefälligkeit zu erzeigen?‹ frug sie. ›Ja gewiß!‹ sagte ich, ›ich will mit Freuden Alles für Sie thun, was in meiner Macht liegt.‹ ›Dann lassen Sie mich die Broche jetzt, da ich sie gefunden habe, auch an Ihrem Kleide befestigen.‹ Ihre Bitte war so unerwartet, und sie sprach sie mit einem solchen Eifer aus, daß ich ein paar Schritte zurückwich, Marianne, und nicht recht wußte, was ich thun sollte. ›Ach!‹ sagte sie, ›Ihre Mutter hätte sich die Broche von mir anstecken lassen!‹ Es lag in ihrer Stimme und ihrem Blicke sowohl, als in der vorwurfsvollen Weise, in der sie des Namens meiner Mutter erwähnte, Etwas, das mich über mein Mißtrauen beschämt machte. Ich nahm ihre Hand, in der sie die Broche hielt, und legte sie sanft auf meine Brust. ›Sie kannten meine Mutter?‹ sagte ich. ›War es vor sehr langer Zeit? Habe ich Sie früher gesehen?‹ Ihre Hände waren beschäftigt, die Broche zu befestigen; dann drückte sie dieselben auf meine Brust. ›Sie erinnern sich wohl nicht eines schönen Frühlingstages zu Limmeridge,‹ sagte sie, ›wo Ihre Mutter den Pfad zur Schule entlang ging und an jeder Seite ein kleines Mädchen hatte? Ich habe seit der Zeit an nichts Anderes zu denken gehabt, und ich erinnere mich dessen wohl. Sie waren das eine von den beiden kleinen Mädchen, und ich war das andere. Die hübsche, kluge Miß Fairlie und die arme dumme Anna Catherick standen einander damals näher, als jetzt!‹«

»Erinnertest Du Dich ihrer, Laura, als sie Dir ihren Namen sagte?«

»Ja – ich erinnerte mich, daß Du mich eines Tages in Limmeridge nach Anna Catherick und darnach fragst, ob ich mich entsänne, daß man eine Aehnlichkeit zwischen uns gefunden habe.«

»Was erinnerte Dich daran, Laura?«

»Sie erinnerte mich daran. Während ich sie anschaute, als sie ganz dicht vor mir stand, fuhr es mir plötzlich durch den Sinn, daß wir einander ähnlich seien! Ihr Gesicht war bleich, mager und kummervoll, aber der Anblick desselben ließ mich zusammenzucken, weil es war, als ob es mein eigenes Gesicht gewesen wäre, das ich nach langer Krankheit im Spiegel sah. Die Entdeckung erschütterte mich so – ich weiß kaum warum – daß ich einen Augenblick nicht im Stande war, zu ihr zu sprechen.«

»Schien sie sich durch Dein Schweigen verletzt zu fühlen?«

»Ich fürchte es. ›Sie haben weder das Gesicht noch das Herz Ihrer Mutter,‹ sagte sie. ›Das Gesicht Ihrer Mutter war dunkel, und Ihrer Mutter Herz, Miß Fairlie, war das eines Engels.‹ ›Gewiß, ich will Ihnen herzlich wohl,‹ sagte ich, »obgleich ich nicht im Stande sein mag, dies auszudrücken, wie ich wohl sollte. Warum nennen Sie mich Miß Fairlie –?‹ ›Weil ich den Namen Fairlie liebe und den Namen Glyde hasse,‹ rief sie mit Heftigkeit aus. Ich hatte bisher Nichts an ihr wahrgenommen, das wie Wahnsinn ausgesehen hätte; jetzt aber dünkte mich, daß ich etwas der Art in ihren Augen sah. ›Ich dachte nur, Sie wüßten vielleicht nicht, daß ich verheirathet sei,‹ sagte ich, indem ich des Briefes gedachte, den sie in Limmeridge an mich geschrieben hatte, um sie zu besänftigen. Sie seufzte schwer auf und wandte sich von mir ab. ›Ich sollte nicht wissen, daß Sie verheirathet sind!‹ wiederholte sie. ›Ich bin ja nur hier, weil sie verheirathet sind. Ich bin hier, um Ihnen Genugthuung zu geben, ehe ich hingehe und Ihrer Mutter begegne dort in der Welt über dem Grabe.‹ Sie zog sich immer weiter von mir zurück, bis sie ganz außerhalb des Boothauses war, und dann stand sie und horchte eine kleine Weile. Als sie sich wieder umwandte, um zu sprechen, blieb sie stehen, wo sie war und sah mich an, während sie sich zu beiden Seiten des Einganges mit einer Hand festhielt. ›Sahen Sie mich gestern Abend am See?‹ sagte sie, ›hörten Sie, wie ich Ihnen durch’s Holz folgte? Ich habe schon seit vielen Tagen gewartet, um Sie allein zu sprechen, Miß Fairlie, ich habe die einzige Freundin, die ich in der Welt besitze, in Sorge und Kummer um mich verlassen, ich habe es darauf ankommen lassen, wieder im Tollhause eingesperrt zu werden, und dies Alles für Sie, Miß Fairlie – Alles für Sie.‹ Ihre Worte erschreckten mich, Marianne, und doch lag in ihrem Wesen Etwas, das mir tiefes Mitleiden einflößte. Ich fühle, daß mein Mitleiden aufrichtig war; denn es gab mir Muth genug, um sie zu bitten, wieder in’s Boothaus zu kommen und sich zu mir zu setzen.«

»That sie es?«

»Nein. Sie schüttelte den Kopf und sagte, sie müsse bleiben, wo sie sei, um aufzupassen und zu horchen, damit wir nicht von einer dritten Person überrascht würden. Und da blieb sie stehen von Anfang bis zu Ende unserer Unterredung, auf jeder Seite sich mit einer Hand an dem Eingange haltend, wobei sie einmal sich schnell hineinbeugte, um mit mir zu sprechen, und dann wieder plötzlich hinaus, um sich umzuschauen. ›Ich war gestern, ehe es dunkel wurde, hier und hörte Sie und die Dame, die bei Ihnen war, zusammen sprechen. Ich hörte, wie Sie ihr von Ihrem Gemahl erzählten. Ich hörte Sie sagen, daß Sie nicht die Macht hätten, ihn zu bewegen, Ihnen zu glauben, noch zu schweigen. Ach! ich wußte, was jene Worte bedeuteten, mein eigenes Gewissen sagte mir es, während ich lauschte. Warum ließ ich es zu, daß Sie ihn heiratheten! O meine Furcht, meine tolle, jämmerliche, gottlose Furcht –‹ sie barg ihr Gesicht hinter ihrem ärmlichen, abgetragenen Tuche und stöhnte und murmelte hinter demselben zu sich selbst. Ich begann zu fürchten, sie möchte in wilde Verzweiflung ausbrechen, die dann weder sie, noch ich zu bemeistern im Stande sein würden. ›Suchen Sie sich zu fassen,‹ sagte ich, ›versuchen Sie, mir zu sagen, auf welche Weise Sie meine Heirath hätten verhindern können.‹ Sie nahm das Tuch von ihrem Gesichte fort und sah mich mit einem zerstreuten Blicke an. ›Ich hätte den Muth haben sollen, in Limmeridge zu bleiben,« sagte sie. ›Ich hätte mich nicht durch die Nachricht, daß er kommen werde, fortschrecken lassen sollen. Ich hätte Sie warnen und retten sollen, ehe es zu spät war. Warum hatte ich blos Muth genug, um Ihnen jenen Brief zu schreiben? Warum richtete ich nur Unheil an, da ich doch gut und recht handeln wollte? O, meine tolle, jämmerliche, gottlose Furcht – –‹ sie wiederholte diese Worte und barg abermals ihr Gesicht in ihrem Tuche. Es war schrecklich, sie anzusehen und anzuhören.«

 

»Du frugst sie doch natürlich, Laura, was es für eine Furcht war, auf die sie so ernstlich zurückkam?«

»Ja, ich frug sie.«

»Und was sagte sie?«

»Sie fragte mich, ob ich mich nicht vor einem Manne fürchten würde, der mich in ein Tollhaus gesperrt hätte und wieder einsperren würde, sobald es ihm möglich sei. Ich sagte: ›Fürchten Sie sich noch davor? Sie würden aber nicht hier sein, wenn Sie sich jetzt noch davor fürchteten?‹ ›Nein,‹ sagte sie, ›jetzt fürchte ich mich nicht mehr.‹ Ich frug: ›Warum nicht?‹ Sie beugte sich plötzlich vorwärts in’s Boothaus hinein und sagte: ›Können Sie’s nicht errathen?‹ Ich schüttelte den Kopf. ›Sehen Sie mich an,‹ fuhr sie fort. Ich sagte ihr, es schmerze mich, zu bemerken, daß sie sehr krank und leidend aussehe. Sie lächelte zum erstenmale. ›Krank!‹ wiederholte sie. ›Ich bin im Sterben. Jetzt wissen Sie, warum ich mich nicht länger vor ihm fürchte. Glauben Sie, daß ich Ihre Mutter im Himmel sehen werde? Wird sie mir dann vergeben?‹ Ich war so erschrocken und erschüttert, daß ich Nichts erwidern konnte. ›Ich habe hieran fortwährend gedacht,‹ fuhr sie fort, ›während der ganzen Zeit, daß ich mich vor Ihrem Manne versteckte, und während meiner ganzen Krankheit. Meine Gedanken haben mich hergetrieben, ich muß es wieder gut machen, ich muß all das Unheil, das ich angerichtet habe, wieder gut machen.‹ Ich bat sie so ernstlich wie möglich, mir zu sagen, was sie meine. Sie sah mich wieder mit starren geistesabwesenden Blicken an. ›Soll ich es wieder gut machen?‹ sagte sie zweifelhaft zu sich selbst. ›Sie haben Verwandte, die Ihnen beistehen werden. Wenn Sie sein böses Geheimniß kennen, so wird er sich vor Ihnen fürchten, er wird es nicht wagen, gegen Sie zu handeln, wie er gegen mich gehandelt hat. Er muß Sie um seiner selbst willen gütig behandeln, wenn er sich vor Ihnen und Ihren Verwandten fürchtet. Und wenn er Sie gütig behandelt, und ich dann sagen kann, daß es durch mich geschehen –‹ ich lauschte eifrig, aber sie schwieg nach diesen Worten.«

»Du suchtest sie doch zu bewegen, fortzufahren?«

»Ja, ich versuchte es; aber sie zog sich nur noch weiter von mir zurück und legte ihre Arme und ihr Gesicht gegen die Wand des Boothauses. ›O!‹ hörte ich sie mit einer fürchterlichen, wahnsinnigen Zärtlichkeit in der Stimme sagen, ›o, wenn ich doch neben Ihrer Mutter begraben werden könnte! wenn ich doch an ihrer Seite erwachen könnte, wenn des Engels Trompete schmettern und das Grab seine Todten herausgeben wird bei der Auferstehung!‹ Marianne! ich zitterte am ganzen Körper, es war fürchterlich, sie anzuhören. ›Aber das darf ich nicht hoffen,‹ sagte sie, sich ein wenig aufrichtend, um mich wieder anzusehen, – ›das darf eine arme Fremde, wie ich, nicht hoffen. Ich werde nicht unter dem Marmorkreuze ruhen, das ich mit meinen Händen wusch und um ihretwillen so weiß und rein machte. O nein! o nein! Gottes Barmherzigkeit, nicht der Menschen, wird mich zu ihr führen, wo die Bösen sich nicht mehr betrüben und wo die Müden Ruhe finden.‹ Sie sprach diese Worte ruhig, aber kummervoll und mit einem schweren, hoffnungslosen Seufzer und schwieg dann eine kleine Weile. Ihr Gesicht war unruhig und verwirrt, sie schien nachzudenken oder wenigstens dies zu versuchen. ›Was war’s, das ich eben sagte?‹ frug sie nach einer kurzen Pause. ›Wenn Ihre Mutter in meinen Gedanken ist, so flieht alles Andere aus ihnen. Was sagte ich? was sagte ich doch?‹ Ich erinnerte das arme Wesen so sanft und schonend, wie es mir möglich war. ›Ach ja, ja,‹ sagte sie noch ebenso zerstreut wie zuvor. ›Sie sind hülflos mit Ihrem gottlosen Manne. Ja, und ich muß thun, was ich zu thun herkam, muß wieder gut machen gegen Sie, daß ich mich einst gefürchtet habe zu sprechen, da es noch Zeit war.‹ ›Was ist es, das Sie mir zu sagen haben?‹ frug ich. ›Ein Geheimniß,‹ antwortete sie, ›das Geheimniß, das Ihr grausamer Mann fürchtet.‹ Ihr Gesicht wurde finster und ihr Blick hart und zornig. Sie begann, mir auf sonderbar nichtssagende Weise mit der Hand zu winken. ›Meine Mutter kennt das Geheimniß,‹ sagte sie, wobei sie zum erstenmal langsam sprach und jedes Wort erwog, ehe sie es aussprach. ›Meine Mutter hat ihre halbe Lebenszeit unter dem Geheimnisse dahingesiecht. Eines Tages, als ich erwachsen war, sagte sie es mir; Ihr Gemahl erfuhr, daß sie es mir gesagt hatte, erfuhr es zu meinem Schaden. Ach, ich Arme! er wußte, wußte, wußte es.‹

»Ja! ja! was sagte sie weiter?«

»Sie schwieg abermals, Marianne, nach solchen Worten –«

»Und sagte Nichts weiter?«

»Sie lauschte eifrig. ›Still!‹ flüsterte sie, mir wieder mit der Hand zuwinkend, ›still!‹ und verließ den Eingang seitwärts gehend, langsam, leise, Schritt für Schritt, bis ich sie nicht mehr sah.«

»Du folgtest ihr doch?«

»Ja, meine Begierde mehr zu erfahren, machte mich kühn genug, um aufzustehen und ihr zu folgen. Als ich gerade beim Eingange anlangte, erschien sie plötzlich wieder um die Ecke des Boothauses. ›Das Geheimniß!‹ flüsterte ich ihr zu. ›Bleiben Sie und sagen Sie mir das Geheimniß!‹ Sie erfaßte meinen Arm und sah mich mit wilden, geängstigten Blicken an. ›Jetzt nicht,‹ sagte sie, ›wir sind nicht allein, man belauscht uns. Kommen Sie morgen um diese Zeit wieder her, aber allein, hören Sie? allein.‹ Sie schob mich hastig ins Boothaus zurück, und ich sah sie nicht mehr.«

»O Laura, Laura, wieder eine Gelegenheit verloren! Wäre ich nur bei Dir gewesen, sie hätte uns nicht wieder so entwischen sollen. Nach welcher Seite zu verlorst Du sie aus den Augen?«

»Nach der linken Seite zu, wo der Boden abwärts geht, und das Holz am dichtesten ist.«

»Liefst Du nicht hinaus und riefst sie zurück?«

»Wie konnte ich es wohl? Ich war zu sehr erschrocken, um mich zu rühren oder zu sprechen.«

»Aber als Du doch endlich aufstandest, als Du herauskamst –?«

»Eilte ich nach Hause, um Dir zu erzählen, was sich zugetragen.«