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Die Blinde

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Frau Finch hörte Nugent wie hilflos zu, hob die langen Röcke des Baby empor und sah sie sich an, · starrte Nugent Dubourg mit kläglicher Miene an, öffnete die Lippen um zu reden, besann sich aber dann eines Besseren und heftete ihre wässerigen Augen auf ihren Gatten. Herr Finch machte einen neuen Versuch, seine Würde zur Geltung zu bringen und wollte dieses Mal eine gewaltig satyrische Antwort loslassen.

»Sie müssen mir in Betreff Ihres meiner Frau ertheilten Rathes zu bemerken erlauben, Herr Nugent, daß derselbe von größerem praktischem Gewichte sein würde, wenn er der Rath eines verheiratethen Mannes wäre. Ich möchte Sie daran erinnern.«

»Sie möchten mich daran erinnern, daß mein Rath der eines Junggesellen ist? O, gehen Sie, damit dürfen Sie mir jetzt nicht mehr kommen. Den Einwand hat Doctor Johnson schon vor einem Jahrhundert ein für alle Mal beseitigt. »Mein Herr« sagte er zu Jemand, der so dachte wie Sie, »Sie können einen Tischler, der Ihnen einen schlechten Tisch gemacht hat, schelten, wenn Sie auch selbst keinen Tisch machen können.« Und ich sage zu Ihnen, Herr Finch, ich darf einen Fehler in den Röcken eines Baby tadeln, wenn ich auch selbst kein Baby habe! Finden Sie das nicht überzeugend? Nicht? Nun wohl, nehmen Sie ein anderes Beispiel. Sehen Sie sich Ihr Zimmer hier an. Ich sehe ans den ersten Blick, daß es schlechtes Licht hat. Es hat nur ein Fenster und müßte zwei haben. Braucht man ein praktischer Baumeister zu sein, um das zu entdecken? Dies wäre doch eine absurde Forderung. Sind Sie jetzt überzeugt? Nein? Nehmen Sie ein anderes Beispiel: Was für bedrucktes Papier liegt da auf dem Kaminsims? Luxussteuer? Aha, das geht, das können wir als Beispiel brauchen. Sie sind nicht Mitglied des Unterhauses, Sie sind auch nicht Schatzkanzler. Haben Sie aber darum nicht doch Ihre eigene Meinung? Müssen Sie und ich im Parlamente sitzen, um zu sehen, daß die altersschwache englische Verfassung in den letzten Zügen liegt?«

»Und die junge kräftige Republik ihre ersten Athemzüge thut!« platzte ich nach meiner Gewohnheit, bei jeder möglichen Gelegenheit das Pratolungo-Programm zu verkünden, heraus.

Sofort drehte sich Nugent Dubourg wieder auf den Fersen herum, wandte sich an mich und sagte mir seine Meinung über meine Ansichten, gerade wie er dem Pfarrer seine Meinung über die richtige Art, den Hamlet vorzulesen, und Frau Finch über die zweckmäßigste Art, Baby’s zu kleiden, gesagt hatte.

»Durchaus nicht,« rief er in höchst positivem Tone. »Die junge Republik ist in der politischen Familie das Kind mit dem doppelten Gliedern; geben Sie das Kind auf, Madame, Sie werden es nie zum Manne erziehen.«

Ich versuchte es mit genau demselben Erfolge wie vorher der Pfarrer, meine Ansicht zur Geltung zu bringen und berief mich entrüstet auf die Autorität meines berühmten Gatten.

»Doctor Pratolungo« – fing ich an.

»War ein rechtschaffener Mann,« unterbrach mich Nugent. »Ich bin selbst ein liberaler Fortschrittsmann; ich achte ihn hoch; aber alle aufrichtigen Republikaner haben denselben Mißgriff gemacht, sie glauben an das Vorhandensein eines Gemeinsinnes in Europa. Täuschung! Der Gemeinsinn ist todt in Europa. Gemeinsinn ist eine edle Regung junger Nationen, neuer Völker. In dem selbstsüchtigen alten Europa ist das Privatinteresse an die Stelle des Gemeinsinnes getreten. Ihr Gatte ging, als er die Republik predigte, von der Voraussetzung aus, daß die Republik die Nation erheben werde. Pah! Wenn Sie von mir verlangen, daß ich die Republik annehmen soll, so müssen Sie mir beweisen, daß ich mich dabei selbst erheben kann, dann will ich Sie anhören. Das ist die einzige Kraft, durch welche Sie je hoffen können, republikanische Institutionen in der alten Welt einzuführen.«

Ich war entrüstet über solche Gesinnungen. »Mein berühmter Gatte,« fing ich wieder an.

»Würde lieber gestorben sein, ehe er an die niedrigsten Instincte seiner Mitmenschen appellirt hätte. Vollkommen richtig das war gerade sein Fehler. Darum hat er auch nie etwas aus der Republik machen können. Darum eben ist die Republik in der politischen Familie das Kind mit doppelten Gliedern. Quot erat demonstrandum,« schloß Nugent Dubourg, in dem er mich mit einem liebenswürdigen Lächeln und mit einer leichten ausdrucksvollen Handbewegung abthat, wie wenn er sagen wollte: »Jetzt bin ich mit diesen drei Leuten nach der Reihe fertig geworden; ich bin ebenso zufrieden mit mir wie mit ihnen!«

Sein Lächeln war unwiderstehlich. So sehr ich wünschte, die entwürdigenden Schlüsse, zu denen er gelangt war, zu bestreiten, so hatte ich doch im Augenblick nicht Feuer genug in mir, meine eigene Entrüstung zu nähren. Der Ehrwürdigte Finch saß ingrimmig in einer Ecke und war damit beschäftigt, so gut er konnte, die neue Entdeckung zu verdauen, daß es noch außer dem Pfarrer von Dimchurch einen Mann gäbe, der eine außerordentlich hohe Meinung von sich selbst habe und diese Meinung mit beredtester Zuversicht kund gäbe. Die kurze Pause, die nun entstand, benutzte Oscar, um zum ersten Male das Wort zu er greifen. Bisher hatte es ihm völlig genügt, seinen geistreichen Bruder zu bewundern. Jetzt trat er an mich heran und fragte mich, was aus Lucilla geworden sei.

»Die Magd sagte mir, sie sei hier,« sagte er, »ich möchte ihr Nugent gerne vorstellen.«

Nugent schlang seinen Arm zärtlich um den Hals seines Bruders und drückte ihn an’s Herz.

»Du lieber alter Junge, ich möchte es gerade so gern wie Du.«

»Lucilla hat vorhin das Zimmer verlassen, um einen Gang durch den Garten zu machen,« antwortete ich.

»Ich will sie suchen,« sagte Oscar. »Warte Du hier auf mich, Nugent, ich bringe sie her.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Noch bevor er die Thür geschlossen hatte, erschien eine der Mägde, um Frau Finch eine vertrauliche Mittheilung über ein häusliches Ereigniß zu machen. Nugent bat diese, als sie an ihm vorüberging, mit komischem Ernst flehentlich, sich doch von Vorurtheilen loszumachen und die Frage der Baby-Kleidung gründlich zu prüfen. Herr Finch nahm diese zweite Bezugnahme auf den Gegenstand übel. Er erhob sich, um seiner Frau zu folgen:

»Wenn Sie erst einmal verheirathet sind, Herr Nugent,« sagte der Pfarrer in strengem Ton, »werden sie wohl lernen, die Behandlung eines Säuglings der eigenen Mutter zu überlassen.«

»Da sind Sie wieder im Irrthum,« bemerkte Nugent, indem er Herrn Finch mit unveränderter guter Laune bis an die Thür folgte. »Die Vorstellung, die sich ein verheiratheter Mann von einem andern Manne als Ehemann macht, reducirt sich immer auf die Vorstellung, die er von sich selbst hat.«

Als sich die Thür hinter Herrn Finch schloß, wandte er sich zu mir und sagte: »Jetzt sind wir allein, Madame Pratolungo, ich möchte mit Ihnen über Fräulein Finch reden. Wir müssen die Augenblicke, bis sie wieder hereinkommt, benutzen. Oscar hat mir nur geschrieben, daß sie blind sei. Ich interessire mich natürlich für Alles, was die künftige Frau meines Bruders angeht und ganz besonders für das Leiden, mit dem sie unglücklicher Weise behaftet ist. Darf ich fragen, seit wann sie blind ist?«

»Seit ihrem zweiten Lebensjahre,« antwortete ich.

»In Folge eines Unglücksfalls?«

»Nein.«

»Also wohl in Folge eines hitzigen Fiebers oder einer anderen schweren Krankheit?«

Dieses Eingehen auf medizinische Einzelheiten von seiner Seite fing an, mich ein wenig zu befremden.

»Ich habe nie gehört, daß ihre Blindheit die Folge eines hitzigen Fiebers oder einer anderen Krankheit gewesen sei,« erwiderte ich. »Soviel ich weiß, erblindete sie, ohne daß eine für ihre Umgebung erkennbare Ursache vorgelegen hätte.«

Zutraulich rückte er seinen Stuhl etwas näher an mich heran und fragte mich: »Wie alt ist sie?«

Diese Frage kam mir noch befremdlicher vor; er mochte es wohl merken, als ich ihm Lucilla’s Alter sagte. »Unter den obwaltenden Umständen,« erklärte er mir, »habe ich besondere Gründe, welche mich davon zurückhalten, mich mit meinem Bruder oder irgend einem Mitglied der Familie über die Blindheit näher zu unterhalten. Ich muß damit warten, bis ich mit meiner Unterhaltung einen guten praktischen Zweck verbinden kann. Mit Ihnen aber kann ich getrost auf den Gegenstand eingehen. Als sie damals erblindete, hat man doch natürlich kein Mittel zu ihrer Wiederherstellung unversucht gelassen?«

»So wird es wohl sein,« entgegnete ich. »Es ist so lange her, ich habe nie darnach gefragt.«

»So lange her,« wiederholte er und dachte dann einen Augenblick nach.

Seine Reflectionen veranlaßten ihn zu der schließlichen Frage.

»Sie selbst und auch ihre Umgebung haben sich vermuthlich ganz in den Gedanken ergeben, daß sie für Lebenszeit hoffnungslos erblindet sei?«

Anstatt ihm zu antworten stellte ich ihm meinerseits eine Frage. Mein Herz fing an rascher zu schlagen, ohne daß ich wußte warum.

»Herr Nugent Dubourg,« sagte ich, »was bedeuten Ihre Fragen in Betreff Lucilla’s?«

»Madame Pratolungo,« erwiderte er, »sie bedeuten, daß ich etwas erwäge, woran ein Freund von mir mich in Amerika aufmerksam machte.«

»Ist das der Freund, dessen Sie in Ihrem Briefe an Ihren Bruder Erwähnung thaten?«

»Derselbe.«

»Der deutsche Herr, den Sie mit Oscar und Lucilla bekannt machen wollten?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, wer er ist?«

Nugent Dubourg fixirte mich scharf, dachte wieder einige Augenblicke nach und antwortete dann: »Es ist der größte lebende Augenarzt.

Im Nu war mir klar, was allen seinen Fragen zu Grunde gelegen hatte.

»Gerechter Gott!« rief ich aus, »Sie werden doch nicht so wahnsinnig sein, zu glauben, daß Lucilla’s Blindheit, nachdem sie einundzwanzig Jahre lang gedauert hat, geheilt werden könne?«

Plötzlich bedeutete er mich durch ein Zeichen zu schweigen. In diesem Augenblick nämlich öffnete sich die Thür und Lucilla trat, gefolgt von Oscar, in’s Zimmer.

 

Fünftes Kapitel.
Nugent sieht Lucilla

Der erste Eindruck, den das arme Fräulein Finch auf Nugent Dubourg machte, war ganz derselbe, den sie auf mich gemacht hatte.

»Guter Gott!« rief er aus, »die sixtinische Madonna!«

Lucilla hatte schon durch mich von ihrer außerordentlichen Aehnlichkeit mit der Hauptfigur des berühmten Raphael’schen Bildes gehört; von Nugent’s Bestätigung dieser Aehnlichkeit nahm sie keine Notiz. Kaum aber hatte er zu reden angefangen, als sie ihrerseits, betroffen von der merkwürdigen Aehnlichkeit der Stimme Nugent’s mit der seines Bruders, plötzlich in der Mitte des Zimmers stehen blieb.

»Oscar?« fragte sie in einem etwas gereizten Tone, »stehst Du hinter oder vor mir?«

Oscar lachte und antwortete hinter ihr stehend: »Hier bin ich.«

Sie wandte sich nach der Stelle, wo Nugent gesprochen hatte, und sagte, indem sie Nugent schüchtern anredete: »Es ist wunderbar, wie Ihre Stimme der Oscar’s gleicht. Gleicht Ihr Gesicht dem seinigen auch so völlig? Darf ich mich selbst von Ihrer Aehnlichkeit überzeugen? Ich vermag es nur auf eine Weise, durch Betastung.«

Oscar trat vor und stellte einen Stuhl für seinen Bruder neben Lucilla hin.

»Sie hat Augen in ihren Fingerspitzen,« sagte er. »Setze Dich hin, Nugent, und laß sie Dir mit ihrer Hand über das Gesicht fahren.«

Nugent gehorchte ihm schweigend. Jetzt, nachdem der erste überraschende Eindruck vorüber war, beobachtete ich, daß eine merkliche Veränderung in seinem Benehmen eintrat.

Nach und nach bemächtigte sich seiner ein unnatürlicher Zwang. Seine sonst so beredte Zunge wußte nichts zu sagen und statt seiner so ungezwungenen Manieren beschlich ihn jetzt ein verlegenes ungeschicktes Wesen. Mehr als je glich er seinem Bruder, als er sich auf den Stuhl setzte, um sich Lucilla’s Untersuchung zu unterwerfen. Sie hatte im ersten Moment, wie mir schien, einen Eindruck auf ihn gemacht, auf den er nicht gefaßt gewesen war und der ihn derart in Verwirrung brachte, daß er nicht sogleich Herr darüber zu werden vermochte. Seine Augen blickten sie wie verzaubert an, er wurde abwechselnd bleich und roth, sein Athem wurde hörbar rascher, als ihre Finger sein Gesicht berührten.

»Was ist Dir?« fragte Oscar indem er ihn überrascht ansah.

»Nichts,« antwortete er in dem leisen abweisenden Ton eines Menschen, der im Geheimen seinen eigenen Gedanken nachgeht.

Oscar sagte nichts weiter. Lucilla fuhr mit der Hand zu wiederholten Malen über Nugent’s Gesicht. Er ließ es sich mit ernster Miene und ohne sich zu rühren gefallen, im schärfsten Gegensatz zu dem gesprächigem lebhaften, jugendlichen Wesen, das er noch vor einer halben Stunde gezeigt hatte.

Lucilla brauchte viel längere Zeit, ihn zu untersuchen, als sie bei mir gebraucht hatte.

Während die Untersuchung ihren Fortgang nahm, hatte ich Muße, über das nachzudenken, was vor Lucilla’s Eintritt in Betreff ihrer Blindheit zwischen Nugent und mir verhandelt worden war. Ich hatte jetzt meine völlige Gemüthsruhe wieder gewonnen und war im Stande, mich zu fragen, was die kühne Idee dieses jungen Menschen in der That werth sei. Lag es im Bereich der Möglichkeit, daß ein so zarter Sinn, wie das Gesicht, nachdem er einundzwanzig Jahre lang geschlummert hatte, wie durch ein Wunder wieder erweckt werden könne? Eine solche Annahme erschien mir unmöglich. Wenn die geringste Hoffnung vorhanden gewesen wäre, meinem armen lieben Kinde den Segen des Augenlichtes wieder zu verschaffen, würden sachverständige Leute schon vor Jahren den Versuch einer solchen Wiederherstellung gemacht haben. Ich schämte mich, daß ich mich einen Augenblick lang durch den neuen Gedanken, welchen Nugent mir mitgetheilt hatte, so heftig hatte aufregen lassen. Jetzt war ich wahrhaftig entrüstet, daß er mich durch die eitelste aller Hoffnungen so nutzlos in Verwirrung gesetzt hatte. Als das einzige Verständige erschien es mir, diesen leichtfertigen und unbeständigen jungen Menschen zu ermahnen, seine verrückte Idee in Betreff Lucilla’s für sich zu behalten und mir selbst diese Idee ein für alle Male aus dem Kopfe zu schlagen.

Eben hatte ich diesen verständigen Entschluß gefaßt, als meine Aufmerksamkeit durch Lucilla’s Stimme, welche mich bei meinem Namen rief, wieder auf das gelenkt wurde, was in dem Zimmer vorging.

»Die Aehnlichkeit ist merkwürdig,« sagte sie. »Aber doch glaube ich eine Verschiedenheit zwischen beiden herauszufinden.«

In der That bestand die einzige Verschiedenheit zwischen beiden in ihrer Hautfarbe und im Benehmen, zwei Verschiedenheiten, welche beide mehr oder weniger nur durch das Auge wahrnehmbar erscheinen mußten.

»Und welchen Unterschied finden Sie?« fragte ich.

Langsam kam sie mit einer ängstlich verwirrten Miene wie brütend auf mich zu.

»Ich kann es nicht erklären,« antwortete sie nach einer längeren Pause.

Als Lucilla sich von Nugent abwandte, stand er von seinem Stuhl auf. Plötzlich ergriff er in einer derb zufahrenden Weise die Hand seines Bruders und sprach mit demselben in einem sonderbar aufgeregten sich fieberhaft überstürzenden Tone.

»Mein lieber Junge,« sagte er, »jetzt nachdem ich sie gesehen habe, gratuliere ich Dir noch herzlicher als zuvor. Sie ist reizend, sie ist einzig. Oscar! Wenn Du es nicht wärst, ich könnte Dich fast beneiden.«

Oscar!« strahlte vor Wonne. Die Meinung seines Bruders galt ihm mehr als die aller übrigen Menschen. Noch ehe er ein Wort antworten konnte, verließ ihn Nugent ebenso plötzlich, wie er auf ihn zugetreten war, trat an’s Fenster und blickte hinaus.

Lucilla hatte seine Worte nicht gehört, sie stand noch immer mit derselben Miene brütend da. Offenbar quälte und ängstigte sie das unerklärliche Problem der Aehnlichkeit der beiden Brüder. Ohne daß ich irgend etwas gesagt hätte, was sie zu einer weiteren Aeußerung über den Gegenstand hätte veranlassen können, wiederholte sie hartnäckig ihre Behauptung.

»Ich sage Ihnen noch einmal, ich merke eine Verschiedenheit zwischen beiden,« wiederholte sie, »obgleich Sie mir nicht zu glauben scheinen.«

Ich legte mir diese mit einem Ausdruck von Unbehaglichkeit vorgebrachte Behauptung dahin aus, daß es ihr mehr darauf ankomme, sich selbst als mich zu überzeugen. In ihrem Zustande der Blindheit war es doppelt und dreifach unangenehm für sie, die beiden Brüder nicht voneinander unterscheiden zu können. Ich begriff ihre Ungeneigtheit, das zuzugeben, ich fühlte, wie eine solche Verlegenheit mich in ihrer Lage irritirt haben würde. Sie wartete ungeduldig auf eine Erwiderung von mir. Ich bin, wie der Leser bereits weiß, eine indiscrete Person. Ohne jede böse Absicht that ich eine meiner unvorsichtigen Aeußerungen.

»Ich glaube Alles, was sie mir sagen, liebes Kind,« antwortete ich. »Ich zweifle nicht, daß Sie eine Verschiedenheit zwischen den beiden Brüdern herausgefunden haben. Aber doch möchte ich gern einen Beweis dafür sehen.«

Sie erröthete. »Wie?« fragte sie kurz.

»Versuchen Sie es doch einmal,« schlug ich vor, »die Gesichter beider abwechselnd zu betasten und zwar in der Art, daß Sie diese Versuche dreimal wiederholen und es den Brüdern überlassen, zwischen jedem Male ihre Plätze nach Belieben zu wechseln. Wenn Sie es dreimal hintereinander richtig treffen, haben Sie bewiesen, daß Sie wirklich eine Verschiedenheit zwischen beiden Brüdern herausgefunden haben.«

Lucilla schreckte vor der Annahme dieser Herausforderung zurück und schüttelte schweigend den Kopf. Nugent, der meine Worte gehört hatte, wandte sich plötzlich vom Fenster herum und unterstützte meinen Vorschlag.

»Eine famose Idee!« platzte er heraus. »Laßt uns das doch einmal versuchen. Du hast doch nichts dagegen, Oscar wie?«

»Ich sollte etwas dagegen haben?« rief Oscar, den der bloße Gedanke, daß er seinem Bruder gegenüber einen eigenen Willen haben könnte, entsetzte. »Wenn Lucilla bereit ist, sage ich mit dem größten Vergnügen ja.«

Die beiden Brüder traten Arm in Arm auf uns zu. Mit großem Widerstreben ließ sich Lucilla überreden, das Experiment zu versuchen. Zwei ganz gleiche Stuhle wurden vor sie hingestellt. Auf einen Wink von Nugent nahm Oscar schweigend den Platz zu ihrer Rechten ein. In Folge dieses Arrangements mußte sie jetzt mit derselben Hand, deren sie sich vorhin bei der Betastung von Nugent’s Gesicht bedient hatte, Oscars Gesicht betasten. Als sie sich beide gesetzt hatten, meldete ich ihr daß wir bereit seien. Lucilla legte ihre Hände auf die Gesichter der beiden Brüder, ohne die entfernteste Idee davon zu haben, welchen Platz jeder von ihnen eingenommen hatte.

Nachdem sie zuerst beide mit beiden Händen zugleich betastet hatte, versuchte sie es demnächst mit jedem einzeln und machte den Anfang mit Oscar indem sie sich dabei nur ihrer rechten Hand bediente. Dann ging sie zu Nugent, indem sie sich wieder ihrer rechten Hand bediente, kehrte dann zu Oscar zurück, dann wieder zu Nugent, zauderte, schien mit sich ins Reine zu kommen, klopfte Nugent leicht auf den Kopf und rief: »Oscar!«

Nugent lachte laut auf. Das Lachen sagte ihr, noch bevor einer von uns reden konnte, daß sie bei dem ersten Versuch sich geirrt habe.

»Versuche es noch einmal, Lucilla,« sagte Oscar freundlich.

»Nein!« antwortete sie, indem sie mit erzürnter Miene zurücktrat. »An einer Mystification ist es genug.«

Jetzt versuchte es Nugent, sie zu überreden, das Experiment noch einmal zu machen. Aber sie unterbrach ihn sofort mit den Worten:

»Denken Sie, ich würde für Sie thun, was ich für Oscar zu thun mich geweigert habe? Sie haben über mich gelacht. Was war denn da zu lachen? Sie und Ihr Bruder haben ganz gleiche Gesichtszüge, ganz gleiches Haar und ganz gleiche Größe. Was ist denn nun so lächerlich daran, wenn ein armes, blindes Mädchen Sie bei einer solchen Aehnlichkeit miteinander verwechselt? Ich möchte gern um Oscar’s willen eine gute Meinung von Ihnen behalten; wenn Sie sich aber wieder lustig über mich machen, werde ich glauben müssen, daß Sie nicht das gute Herz Ihres Bruders haben!«

Nugent und Oscar sahen einander wie versteinert von diesem plötzlichen Zornesausbruch an, Nugent noch bestürzter als sein Bruder.

Ich versuchte mich in’s Mittel zu legen und die Sache wieder ins Gleiche zu bringen. Bei meiner leichten Lebensphilosophie und meiner beweglichen französischen Natur war es mir unmöglich, einen hinreichenden Grund für diesen heftigen Anspruch der Uebellaune Lucilla’s zu erkennen. Vermuthlich lag etwas in meinem Ton, daß meine Worte sie nur noch aufgebrachter machten. Auch mich unterbrach sie sofort zornig mit den Worten: »Sie haben es vorgeschlagen. Sie trifft der stärkste Tadel.«

Ich entschuldigte mich. Nugent seinerseits folgte meinem Beispiel und Oscar unterstützte uns mit seinem größeren Einfluß. Er ergriff Lucilla’s Hand, küßte dieselbe und flüsterte ihr etwas in’s Ohr. Der Kuß und dass Flüstern wirkten wie ein Zauber. Sie reichte Nugent die Hand, schlang ihren Arm um meinen Nacken und umarmte mich mit der ihr eigenen Anmuth und Grazie. »Verzeiht mir,« sagte sie sanft. »Ich wollte, ich könnte Geduld lernen. Aber ach, Herr Nugent; es ist bisweilen so hart, blind zu sein.«

Ich kann wohl ihre Worte hier wiederholen, aber ich kann dem Leser keinen Begriff von der rührenden Einfachheit, mit welcher sie dieselben sprach und von ihrem kindlich angelegentlichen Bemühen geben, sich Verzeihung zu erwirken. Nugent war so gerührt, daß auch er, nachdem er Oscar einen Blick zugeworfen hatte, in welchem die Frage lag: »darf ich? die Hand, die sie ihm reichte, küßte. Als seine Lippen die Hand berührten, fuhr sie zusammen. Das zarte Roth, welches bei ihr immer das plötzliche Auftauchen eines Gedankens begleitete, überflog ihr Gesicht. Wie bewußtlos behielt sie Nugent’s Hand in der ihrigen, ganz hingenommen von dem Bemühen, sich ihren neuen Gedanken klar zu machen. Einen Augenblick stand sie regungslos brütend da wie eine Statue. Im nächsten Augenblick aber ließ sie Nugent‘s Hand fahren und wandte sich mit heiterer Miene zu mir.

»Werden Sie mich für sehr eigensinnig halten?« fragte sie.

»Warum, liebes Kind?«

»Ich bin noch nicht befriedigt. Ich möchte es noch einmal versuchen.«

»Nein, nein! Wenigstens heute nicht mehr.«

»Ich möchte es noch einmal versuchen,« wiederholte sie. »Nicht auf Ihre Weise, sondern auf meine eigene Art, die ich mir eben ausgedacht habe.« Sie wandte sich nach Oscar um. »Willst Du mir darin zu Willen sein?«

Ich brauche wohl Oscar’s Antwort nicht ausdrücklich anzugeben. Daran wandte sie sich zu Nugent: »Wollen Sie?«

»Sagen Sie nur, was Sie von mir wünschen?« antwortete er.

»Gehen Sie mit Ihrem Bruder an das andere Ende des Zimmers. Hier weiß ich zu genau, wo jeder von Ihnen steht. Madame Pratolungo wird mich hinführen und mich so hinstellen, daß ich Ihrer beider Hände ergreifen kann. Ich möchte, daß dann Jeder von Euch – wer anfangen soll, könnt Ihr durch ein Zeichen miteinander verabreden – meine Hand ergreife, sie einen Augenblick festhalte und dann wieder loslasse. Ich bilde mir ein, daß ich Euch auf diese Weise von einander unterscheiden könnte und ich möchte es sehr gern einmal damit versuchen.«

 

Die Brüder gingen schweigend an die andere Seite des Zimmers. Ich führte Lucilla ihnen nach bis an die Stelle, wo sie standen. Auf ein Zeichen von mir ergriff Nugent zuerst, wie sie es verlangt hatte, ihre Hand, hielt dieselbe einen Augenblick fest und ließ sie dann wieder fahren.

»Nugent,« rief sie, ohne sich einen Augenblick zu besinnen.

»Ganz richtig,« sagte ich.

Sie lachte vergnügt, nur weiter! Macht mich irre, wenn ihr könnt.«

Die Brüder wechselten geräuschlos ihre Plätze. Oscar, der jetzt genau an derselben Stelle stand, an welcher eben vorher Nugent gestanden hatte, ergriff ihre Hand.

Alsbald rief sie »Oscar!«

»Wieder richtig,« sagte ich.

Auf ein Zeichen Nugent’s ergriff Oscar ihre Hand zum zweiten Male. Sie wiederholte seinen Namen. Auf ein Zeichen von mir stellten sich die Brüder geräuschlos neben sie, Oscar an ihrer rechten, Nugent an ihrer linken Seite. Auf ein von mir gegebenes Signal ergriffen sie ein jeder in demselben Augenblick eine ihrer Hände. Dieses Mal besann sie sich einige Augenblicke, bevor sie sprach, dann aber bezeichnete sie die beiden Brüder wieder richtig. Lächelnd wandte sie sich zur Rechten und sagte, auf den an dieser Seite Stehenden deutend: »Oscar.«

Wir waren alle drei gleich überrascht. Ich untersuchte abwechselnd Oscar’s und Nugent’s Hand. Bis auf die jammervolle Verschiedenheit der Farbe waren die Hände in jeder Beziehung einander völlig gleich, von derselben Größe, derselben Form, derselben Textur der Haut auf keiner der beiden Hände eine Narbe oder ein Zeichen, durch welche man sie von der andern hätte unterscheiden können. Durch welchen geheimnißvollen Divinationsproceß war es ihr also gelungen, jedes Mal richtig herauszufinden, wessen Hand sie berührte?

Sie wollte oder konnte keine deutliche Antwort auf die Frage geben.

»Es regt sich etwas in mir bei der Berührung des Einen, was ich bei der Berührung des Andern nicht empfinde.«

»Und was ist das?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht aber es regt sich in mir bei der Berührung Oscar’s und nicht bei der Berührung Nugent’s.« Sie machte allen weiteren Fragen dadurch ein Ende, daß sie vorschlug, wir möchten den Abend mit etwas Musik in ihrem Wohnzimmer beschließen.

Als wir zusammen am Clavier saßen, während die Zwillingsbrüder sich an die andere Seite des Zimmers gesetzt hatten, um uns zuzuhören, flüsterte sie mir in’s Ohr:

»Ihnen will ich es sagen!«

»Was?« fragte ich.

»Woher ich weiß, wer Jeder von ihnen ist wenn sie beide meine Hände berühren. Wenn Oscar sie berührt ergießt sich eine entzückende Empfindung von seiner Hand in die meinige und durchrieselt mich ganz. Ich vermag es nicht deutlicher auszudrücken.«

»Ich verstehe. Und was empfinden Sie, wenn Nugent Ihre Hand berührt?«

»Nichts.«

»Und auf diesem Wege haben Sie die Verschiedenheit zwischen beiden herausgefunden?«

»Auf diesem Wege werde ich die Verschiedenheit zwischen beiden immer wieder herausfinden können. Wenn Oscar’s Bruder es jemals versuchen sollte, sich meine Blindheit zu Nutze zu machen – und er ist dazu im Stande, er lachte über meine Blindheit – so werde ich ihn auf diesem Wege erkennen. Ich habe Ihnen gesagt ehe ich ihn noch kannte, daß ich ihn hasse. – Und ich hasse ihn noch jetzt.«

»Meine liebe Lucilla!«

»Ich hasse ihn noch jetzt.«

Sie schlug die ersten Accorde auf dem Clavier mit einer eigensinnigen Falte auf ihrer niedlichen Stirn an. Unser kleines Abendconcert begann.