Blinde Liebe

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Elftes Kapitel.

Es war ein schöner, sonniger Tag; Mrs. Lewsons Mut begann zu wachsen.

»Ich habe immer an dem Glauben festgehalten,« gestand die würdige alte Frau, »daß schönes Wetter Glück bringt – natürlich vorausgesetzt, daß der betreffende Tag kein Freitag ist. Heute ist aber Mittwoch. Fassen Sie also Mut, Miß.«

Der Bote kehrte mit guten Nachrichten zurück. Mr. Arthur war wie immer fröhlich und guter Dinge gewesen. Er hatte seine Spässe über einen zweiten Brief voll guter Ratschläge gemacht, der ihm ohne Unterschrift zugekommen war.

»Mrs. Lewson aber soll ihren Willen haben,« hatte er gesagt. »Aus Liebe zu der guten Alten will ich zwei Stunden später aufbrechen und werde daher erst um fünf Uhr zum Mittagessen zurück sein.«

»Wo gab Ihnen Mr. Arthur diesen Auftrag?« fragte Iris.

»In dem Stalle, Miß, während ich mein Pferd wieder aufzäumte. Die Leute, die umherstanden, grinsten alle, als sie Mr. Arthurs Worte hörten.«

Iris, noch immer in der krankhaften Aufregung, bedauerte stillschweigend, daß dieser Auftrag nicht schriftlich, sondern mündlich gegeben worden war. Auch hiebei kam sie wieder auf ähnliche Gedanken wie der wilde Lord: sie fürchtete die Horcher.

Die Stunden schlichen träge dahin, bis es endlich vier Uhr nachmittags geworden war. Iris konnte das Stillsitzen nicht länger ertragen.

»Es ist so schönes Wetter,« sagte sie zu Mrs. Lewson, »wir wollen einen Spaziergang machen und Arthur ein Stück Wegs entgegen gehen.«

Ihr Vorschlag fand bei der alten Haushälterin die freudigste Zustimmung.

Es war beinahe fünf Uhr, als sie eine Stelle erreichten, an der ein Nebenweg durch den Wald sich von der Landstraße abzweigte, der sie bis hierher gefolgt waren. Mrs. Lewson fand einen Sitz auf einem gefällten Baume.

»Wir thun besser, nicht weiter zu gehen,« sagte sie.

Iris fragte nach dem Grunde.

Es gab einen sehr guten Grund für die soeben ausgesprochene Ansicht Mrs. Lewsons. Eine Strecke weiter bog die Landstraße ab von der geraden Linie – im Interesse einer großen Ackerbau treibenden Ortschaft – und schlug dann wieder ihre frühere Richtung ein. Der Nebenweg durch den Wald diente für Reiter und Fußgänger als Richtweg von dem einen abweichenden Punkte der Landstraße bis zu dem andern. Es war daher sehr wohl möglich, daß Arthur diesen Nebenweg bei seiner Rückkehr benützen würde. Da aber Zufall oder Laune ihn auch die Landstraße vorziehen lassen konnte, lag die Notwendigkeit auf der Hand, ihn an einem Punkte zu erwarten, von dem aus man beide Straßen übersehen konnte.

Zu aufgeregt, um in ruhiger Erwartung an einer Stelle sitzen zu bleiben, machte Iris den Vorschlag, sie wolle ein Stück weit auf dem Nebenwege in den Wald hineingehen und umkehren, wenn sie nichts von Arthur sähe.

»Sie sind ermüdet,« sagte sie zu ihrer Begleiterin, »bitte, bleiben Sie hier und ruhen Sie sich einstweilen aus!«

Mrs. Lewson machte zu diesem Vorschlage ein ziemlich verdrießliches Gesicht, aber ohne Erfolg:

»Sie können sich verirren. Miß. Geben Sie nur ordentlich auf den Weg acht!«

Iris verfolgte die hübschen Windungen des Waldweges und dehnte ihren einsamen Spaziergang in der bestimmten Hoffnung, Arthur zu begegnen, um ein Beträchtliches aus. Die helle Linie der Landstraße, die weiter durch den Wald führte, schimmerte schon wieder durch die Bäume, als sich Iris entschloß, zu Mrs. Lewson zurückzukehren.

Auf ihrem Rückwege machte sie eine Entdeckung. Eine Ruine, die sie vorher gar nicht bemerkt hatte, kam zwischen den Bäumen auf der linken Seite des Weges zum Vorschein. Ihre Neugierde wurde rege; sie bog von dem Wege ab, um die Trümmer genauer zu untersuchen. Die halb verfallenen Mauern sahen, als sie ihnen näher kam, wie die Ueberreste eines gewöhnlichen Wohnhauses aus. Alter ist ein wesentliches Erfordernis für die malerische Wirkung des Verfalls; eine moderne Ruine ist unnatürlich und hat etwas Niederdrückendes; hier zeigte sich der traurige Anblick.

Als sie ihre Schritte wieder nach dem Wege zurücklenkte, trat ein Mann aus dem Raume, der von den Trümmern des zerstörten Hauses umschlossen war. Ein Schrei des Schreckens entfuhr ihr. War sie ein Opfer des Schicksals oder ein Spielball des Zufalls? Da stand der wilde Lord vor ihr, welchen sie gelobt hatte, nicht wieder zu sehen, der Herr ihres Herzens – vielleicht der Herr ihres Geschickes!

Jeder andere Mann würde erstaunt gewesen sein, sie zu sehen und gefragt haben, wie es komme, daß eine englische Dame plötzlich hier vor ihm mitten in einem irischen Walde erscheine. Dieser Mann aber war entzückt, sie zu sehen, und nahm ihr Hiersein als einen Glücksfall auf, nach dessen Ursache nicht gefragt zu werden brauchte.

»Mein Engel ist vom Himmel herabgestiegen,« sagte er. »Dem Himmel sei Dank dafür!« Er trat an sie heran und umschloß ihre Gestalt mit seinen Armen. Sie versuchte, sich seiner Umarmung zu entziehen. In demselben Augenblick aber vernahmen sie beide in dem Gebüsch unter den Bäumen rings umher ein Zerknicken und Zerbrechen von Holz. Lord Harry blickte auf.

»Das ist ein gefährlicher Platz,« flüsterte er. »Ich wartete hier, um Arthur ungefährdet vorbeireiten zu sehen. Lassen Sie sich von mir küssen, oder ich bin ein toter Mann!«

Seine Augen sagten ihr, daß er sich wirklich in einer besorgniserregenden Lage befand. Ihr Kopf sank an seine Brust. Als er sich zu ihr niederbeugte und sie küßte, traten drei Männer aus ihren Verstecken unter den Bäumen hervor. Sie hatten ohne Zweifel auf Befehl der mordgierigen, furchtbaren Brüderschaft, welcher sie angehörten, auf ihn gelauert. Ihre Pistolen blitzten schußfertig in ihren Händen – und welche Entdeckung machten sie nun? Da stand der Bruder, der als Verräter denunzirt war, keines schlimmeren Verrates schuldig, als daß er in einem Walde mit seiner Geliebten zusammengetroffen war!

»Wir bitten um Verzeihung, Mylord!« riefen sie mit echt irischer Freude über ihren eigenen Irrtum, brachen dann in ein lautes Gelächter aus und ließen die Liebenden allein.

So hatte Iris zum zweitenmale Lord Harry in einer bedenklichen Lebenslage gerettet.

»Laß mich jetzt gehen!« flüsterte sie leise, vor heimlicher Furcht zitternd, als sie sich nun erst ihrer Lage recht bewußt wurde.

Er aber hielt sie so fest in seinen Armen, als ob er sie nie wieder von sich lassen wollte.

»O, Du mein süßes Kind, gib mir nur noch einmal, zum letzenmale Gelegenheit und hilf mir, ein besserer Mensch zu werden! Du brauchst nur zu wollen, Iris, und Du kannst mich Deiner würdig machen!«

Plötzlich fingen seine Arme, die sie an seine Brust drückten, an zu beben und sanken herab. Die ringsum herrschende Stille wurde durch ein entferntes Geräusch gestört, welches wie das Echo eines Schusses klang. Er blickte nach dem vor ihnen liegenden Ende des Waldes hin. Eine Minute später wurde der dumpfe Hufschlag eines im Galopp dahinjagenden Pferdes hörbar aus der Richtung her, wo sich der Reitweg zwischen den Bäumen verlor. Es kam näher und näher und erschien endlich in ihrem Gesichtskreis, vor Furcht rasend und mit reiterlosem Sattel auf seinem Rücken. Lord Harry sprang auf den Weg und hielt das scheu gewordene Tier auf, welches bei seinem Anblick sich hoch aufbäumte. Vorn an dem leeren Sattel war eine Ledertasche befestigt.


»Durchsuche sie!« rief er Iris zu, während er das erschreckte Tier zum Stillstehen zwang. Sie zog eine silberne Feldflasche heraus. Ein Blick auf den eingravirten Namen verkündete ihm die entsetzliche Wahrheit. Seine zitternden Hände verloren ihre Kraft. Das wütende Pferd riß sich los und jagte davon. Von seinen Lippen ertönten die Worte:

»O, mein Gott, sie haben ihn getötet!«

Zwölftes Kapitel.

Während über den Weg, welchen die Eisenbahn zwischen Culm und Everill nehmen sollte, noch Erörterungen gepflogen wurden, rief der Ingenieur einige Meinungsverschiedenheiten zwischen den Geldmännern hervor, die an der Spitze des Unternehmens standen, indem er die Frage aufwarf, ob sie unter den Stationen ihrer Bahn auch die kleine alte Stadt Honeybuzzard vorgesehen hätten.

Schon seit Jahren war der Handel dieses kleinen und merkwürdigen Ortes niedergegangen, und seine Bevölkerung hatte sich vermindert. Maler kannten ihn gut und priesen seine mittelalterlichen Baulichkeiten als eine reichhaltige Fundgrube des wertvollsten Materials für ihre Kunst. Auf dem alten Marktplatze war noch eine lange Reihe von Marktgesetzen zu lesen, welche einst in längst vergangenen Tagen der Bürgermeister und der Gemeinderat hatten ergehen lassen, aber von Woche zu Woche verminderte sich die Zahl der Marktbesucher, die diesen Bestimmungen gehorchen konnten. In dem letzten Geschäfte, welches sich noch in einem sehr dürftigen Zustande erhielt, war gewöhnlich kein Käufer zu erblicken; die Schaufenster waren meistens geschlossen, ein einsamer Mann machte das ganze schläfrige Personal aus und langweilte sich entsetzlich, in der halb geöffneten Ladenthüre lehnend. Ein Advokat war in der Stadt, der aber keine Gelegenheit fand, sich einen Schreiber zu halten; es gab auch einen Doktor, der immer hoffte, er könne seine Praxis für einen annehmbaren Preis verkaufen.

Die Direktoren der neuen Eisenbahn beschlossen in einer stürmischen Sitzung, der sterbenden Stadt noch eine letzte Möglichkeit zu bieten, sich wieder zu erholen, dadurch, daß sie eine Haltestelle hinlegten. Der Stadt war jedoch nicht mehr die nötige Lebenskraft geblieben, um sich dafür dankbar zu erweisen. Unter allen Stationsvorständen in Großbritannien und Irland war der von Honeybuzzard der unthätigste Mensch – und dies, wie er zu dem unbeschäftigten Portier sagte, nicht etwa aus Mangel an eigener Energie.

 

An einem regnerischen Augustnachmittage ließ der Zug einen Fremden auf der Station zurück. Er war einem Wagen erster Klasse entstiegen und trug einen Sonnenschirm und eine Reisetasche. Er erkundigte sich nach dem Wege zum besten Gasthofe. Der Stationsvorsteher und der Portier tauschten gegenseitig ihre Meinungen über ihn aus. Der eine von ihnen sagte: »Offenbar ein Gentleman,« und der andere fügte hinzu: »Was mag der wohl hier zu thun haben?«

Der Fremde verirrte sich zweimal in den engen und winkeligen Gassen der alten Stadt, bevor er den Gasthof erreichte. Als er seine Wünsche aussprach, fand es sich, daß er drei Dinge haben wollte: ein Zimmer, etwas zu essen und, während das Essen zubereitet wurde, Feder, Tinte und Papier, um einen Brief zu schreiben.

Auf die Fragen ihrer Tochter antwortend, beschrieb die Wirtin, als sie aus dem Fremdenzimmer wieder heruntergekommen war, ihren Gast als einen hübschen Mann in tiefer Trauerkleidung.

»Jung, mein Kind, mit schönem dunkelbraunem Haar, einem großen Barte und milden, traurigen Augen. Ja, diese Augen erzählen, daß die schwarzen Kleider nicht bloßer Schein sind. Ob er verheiratet ist oder ledig, kann ich natürlich nicht sagen; aber ich entdeckte seinen Namen auf seiner Reisetasche; – ein vornehmer Name; wenn ich recht gelesen habe: Hugh Mountjoy. Ich bin begierig, was er zu seinem Essen für ein Getränk bestellen wird. Wie gut wäre es, wenn wir bei dieser Gelegenheit wieder eine Flasche von dem sauren französischen Weine los würden!«

Die Glocke in dem Zimmer des Fremden erschallte in diesem Augenblicke, und die Tochter der Wirtin – es ist eigentlich unnötig, es noch besonders zu erwähnen – benützte die günstige Gelegenheit, sich eine eigene Meinung über Mr. Hugh Mountjoy zu bilden.

Sie kam, mit einem Briefe in der Hand, zurück, von dem eitlen Verlangen nach den Vorteilen vornehmer Geburt verzehrt.

»O Mutter, wenn ich eine junge Dame der höheren Gesellschaft wäre, dann wüßte ich genau, wessen Frau ich sein möchte!«

Die Wirtin zeigte jedoch kein besonderes Verständnis und keine Teilnahme für dergleichen gefühlvolle Herzensergießungen ihrer Tochter, sondern verlangte nur den Brief Mr. Mountjoys zu sehen. Der Bote, der mit der Besorgung beauftragt wurde, sollte auf Antwort warten. Die Aufschrift des Briefes lautete: »Miß Henley, per Adresse Clarence Vimpany, Esquire, Honeybuzzard.« Von ihrer erregten Phantasie getrieben, verlangte die Tochter darnach, Miß Henley zu sehen. Die Mutter konnte gar nicht begreifen, warum sich Mr. Mountjoy überhaupt die Mühe gegeben hatte, den Brief zu schreiben.

»Wenn er weiß, daß die junge Dame in des Doktors Hause wohnt,« sagte sie, »warum geht er denn nicht einfach hin und sucht Miß Henley auf?« Sie gab den Brief der Tochter zurück. »Der Hausknecht soll ihn besorgen, er hat so wie so nichts zu thun.«

»Nein, Mutter. Die schmutzigen Hände des Hausknechts dürfen den Brief nicht berühren. Ich werde ihn selbst hintragen. Vielleicht bekomme ich bei der Gelegenheit Miß Henley zu sehen.«

Einen solchen Eindruck hatte Mr. Hugh Mountjoy auf ein junges, gefühlvolles Mädchen ganz ohne sein Zuthun gemacht, welches das Schicksal in die enge Sphäre von Thätigkeit, die ein Landwirtshaus gewähren konnte, gebannt hatte.

Die Wirtin trug das Essen hinauf – zuerst natürlich Hammelrippchen mit Kartoffeln, so unvollkommen gekocht, wie es nur in einer englischen Küche möglich ist. Ihren sauren französischen Wein hatte die gute Frau nicht vergessen und fragte daher ihren Gast:

»Was wünschen Sie zu trinken, Sir?«

Mr. Mountjoy schien wenig daran zu liegen, was man ihm als Getränk vorsetzen würde.

»Wir haben französischen Wein, Sir.«

»Es ist recht, gute Frau; bringen Sie von dem.«

Als die Glocke wieder ertönte, damit der zweite Teil der Mahlzeit, Käse und Sellerie, hinaufgebracht werde, überließ die Wirtin dies Geschäft dem Kellner. Die Erfahrung, die sie mit den Landleuten gemacht hatte, die ihr Gasthaus besuchten und die sich in einigen wenigen Fällen hatten dazu verleiten lassen, diesen Wein zu trinken, riet ihr, dem Ausbruche des gerechten Zornes bei Mr. Mountjoy aus dem Wege zu gehen. Er würde sie jedenfalls ebenso wie die anderen auch fragen, was ihr denn eigentlich einfiele, ihn mit einem derartigen Stoff wie dieser vergiften zu wollen.

Als der Kellner wieder herunterkam, fragte sie ihn daher:

»Hat sich der Herr über den französischen Wein beklagt?«

»Er wünscht Sie wegen dem Weine zu sprechen.«

Die Wirtin wurde blaß. Seiner Entrüstung in Worten Ausdruck zu geben, das hatte sich Mr. Mountjoy augenscheinlich für die Herrin des Hauses aufgespart.

»Fluchte er,« fragte sie, »als er den Wein gekostet hatte?«

»Gott bewahre, Madame. Er trank ihn aus einem Wasserglase und – wenn Sie es mir glauben wollen – der Wein schien ihm zu schmecken.«

Die Wirtin bekam ihre Farbe wieder. Dank der Vorsehung dafür, daß sie endlich einmal einen Gast in das Wirtshaus geführt hatte, der sauren Wein, ohne es zu bemerken, trinken konnte, war ihr Hauptgedanke, als sie das Fremdenzimmer betrat. Mr. Mountjoy rechtfertigte diese ihre Vermutungen. Er war wirklich gutmütig genug, mit dem Glase vor sich auf dem Tische und diesem Weine gewissermaßen unter seiner Nase, eine Entschuldigung anzufangen.

»Es thut mir leid, Sie zu belästigen, Frau Wirtin. Ich möchte Sie nur fragen, woher Sie diesen Wein haben.«

»Der Wein, Sir, stammt noch von meinem verstorbenen Gatten her. Ein Franzose schuldete ihm Geld, aber es war von ihm nichts anderes zu bekommen als dieser Wein.«

»Er ist auch Geld wert, Frau Wirtin.«

»Wirklich, Sir?«

»Ja, ganz gewiß. Das ist der beste und reinste französische Rotwein, den ich seit langer Zeit getrunken habe.«

Ein beunruhigender Verdacht trübte die heitere Seelenruhe der Wirtin. War diese vortreffliche Beurteilung des Weines eine aufrichtige? Oder war es nur ein teuflischer Plan Mr. Mountjoys, sie in eine Falle zu locken, indem er sie durch seine Anerkennung verleiten wollte, auch ihrerseits den Wein zu loben, damit er dann sie als Betrügerin entlarven könnte, wenn er erklärte, was er wirklich über den Wein dächte? Sie nahm ihre Zuflucht zu einer vorsichtigen Antwort.

»Sie sind der erste meiner Gäste, Sir, der nichts an dem Weine auszusetzen findet.«

»In dem Falle würden Sie vielleicht froh sein, ihn los zu werden!« bemerkte Mr. Mountjoy.

Die Wirtin blieb immer noch vorsichtig.

»Wer würde mir den Wein wohl abkaufen, Sir?«

»Ich. Wie viel fordern Sie für die Flasche?«

Jetzt war es klar, daß er nicht hinterlistig und falsch war, sondern nur ein bißchen verrückt. Die welterfahrene Wirtin zog aus diesem Umstande Vorteil und verdoppelte den Preis. Ohne Zögern sagte sie: »Fünf Schilling die Flasche, Sir.«

Oft, nur allzu oft führt die Ironie des Schicksals auf dieser irdischen Schaubühne die entgegengesetzten Charaktere des Schlechten und des Guten zusammen. Eine lügnerische Wirtin und ein zum Lügen unfähiger Gast standen sich hier an einem kleinen Tische gegenüber, beide ohne Ahnung des unermeßlichen moralischen Abgrundes, der zwischen ihnen lag. Unter dem Einflusse seines durch und durch ehrenhaften Fühlens und Denkens machte der harmlose Hugh Mountjoy das Verlangen der Wirtin nach Geld zur verderblichsten menschlichen Begierde.

»Ich glaube, Sie kennen den Wert Ihres Weines nicht genau,« sagte er. »Ich habe französischen Rotwein in meinem Keller, der lange nicht so gut ist wie dieser hier, und der mich doch mehr gekostet hat, als Sie verlangen. Es ist nur gerecht, wenn ich Ihnen für die Flasche sieben Schillinge anbiete.«

Wenn ein überspannter Reisender, von dem für irgend etwas ein bestimmter Preis als Bezahlung verlangt wird, diesen Preis zu seinem eigenen Schaden mit Ueberlegung erhöht, wo ist die kluge Frau – besonders wenn es zufällig eine Witwe ist, die ein wenig einträgliches Geschäft hat – die zögern würde, diese selten günstige Gelegenheit auszunützen?

»Sie sollen den Wein um den von Ihnen genannten Preis haben, Sir,« sagte die Wirtin.

Nachdem so der Handel abgeschlossen, klopfte ihre Tochter an der Thüre.

»Ich habe Ihren Brief selbst besorgt, Sir,« sagte sie bescheiden, »und hier ist die Antwort.«

Sie hatte Miß Henley gesehen, aber nichts Besonderes an ihr finden können.

Mountjoy sprach ihr seinen Dank aus in Worten, die das empfängliche junge Mädchen niemals vergaß. Dann öffnete er den Brief, der kurz genug war, um in einem Augenblicke gelesen werden zu können, aber jedenfalls einen günstigen Bescheid enthielt; denn Mr. Mountjoy ergriff eiligst seinen Hut und ließ sich den Weg nach Mr. Vimpanys Hause zeigen.

Dreizehntes Kapitel.

ountjoy hatte sich entschlossen, nach Honeybuzzard zu reisen, sobald als er erfahren hatte, daß Miß Henley sich in dieser Stadt bei fremden Leuten aufhielt. Da er aber früher keine Gelegenheit gefunden hatte, sie auf seinen Besuch vorzubereiten, schrieb er ihr vom Gasthause aus. Er hatte es nach reiflicher Ueberlegung besser gefunden, sich vorher anzumelden, als unerwartet im Hause des Doktors zu erscheinen. Wie würde sie den treu ergebenen Freund empfangen, dessen Heiratsantrag sie zum zweitenmale abgelehnt, als sie zuletzt in London mit ihm zusammengetroffen war?

Das Wohnhaus des Doktors war in einer stillen Nebenstraße gelegen und gewährte eine Aussicht, die nicht gerade ermutigend auf einen Mann wirken mußte, der sich dem ärztlichen Beruf gewidmet hatte. Die Aussicht ging nämlich auf den Kirchhof. Die Thür wurde von einem Dienstmädchen geöffnet, welches den Fremden argwöhnisch betrachtete. Ohne auf eine Frage zu warten, sagte sie, der Herr Doktor sei nicht zu Hause.

Mountjoy nannte seinen Namen und fragte nach Miß Henley.

Das Benehmen des Mädchens änderte sich sofort zum Besseren; sie bat ihn, in ein kleines Empfangszimmer einzutreten, welches unschön und dürftig ausgestattet war. Einige Bilder in armseligen Rahmen zierten die Wände; es waren – vielleicht nicht ganz am Platz in dem Hause eines Arztes – Porträts von berühmten Bühnenkünstlerinnen, die einst in früheren Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die weltbedeutenden Bretter als Königinnen beherrscht hatten. Auch die wenigen Bücher, die auf einem kleinen Büchergestell über dem Kamin ihren Platz hatten, gehörten der dramatischen Literatur an.


»Wer liest diese Sachen?« fragte sich Mountjoy im stillen. »Und wie fand Iris ihren Weg in dieses Haus?«

Während er so an sie dachte, trat Miß Henley selbst in das Zimmer.

Ihr Aussehen war bleich und sorgenvoll; Thränen schimmerten in ihren Augen, als Hugh Mountjoy auf sie zutrat. In seiner Gegenwart empfand Iris das Entsetzliche, welches der durch feigen Meuchelmord herbeigeführte Tod seines Bruders Arthur hatte, tiefer, als sie bis jetzt davon berührt worden war. Einer plötzlichen Eingebung folgend, bog sie seinen Kopf zu sich herab mit der zärtlichen Vertraulichkeit einer Schwester und küßte ihn auf die Stirn.

»O Hugh,« sagte sie schmerzlich bewegt, »ich weiß, wie Sie und Arthur einander liebten! Meine Worte können nicht ausdrücken, was ich für Sie fühle!«

»Es bedarf keiner Worte, liebe Iris,« erwiderte er zärtlich. »Ihre Teilnahme spricht für sich selbst.«

Er führte sie zum Sofa und ließ sich neben ihr nieder.

»Ihr Vater hat mir gezeigt, was Sie ihm geschrieben haben,« begann er, »Ihren Brief aus Dublin und Ihren zweiten Brief von hier. Ich weiß, was Sie Hochherziges in Arthurs Interesse gewagt und erduldet haben. Es würde mir eine gewisse Genugthuung gewähren, wenn ich Ihnen einen Gegendienst – und wenn es auch nur ein sehr bescheidener Gegendienst wäre, Iris – für alles das erweisen könnte, was Arthurs Bruder der besten Freundin, die jemals ein Mensch gehabt hat, schuldig ist. Ach, lassen Sie doch,« fuhr er fort, in herzlicher Weise den Ausdruck ihrer Dankbarkeit unterbrechend. »Ihr Vater hat mich nicht hierher geschickt, aber er weiß, daß ich London mit der bestimmten Absicht verlassen habe, Sie aufzusuchen, und er weiß auch, warum. Sie haben ehrerbietig und liebevoll an ihn geschrieben; Sie haben um Verzeihung und Versöhnung gebeten, wo er doch der schuldige Teil ist. Darf ich Ihnen sagen, was er mir zur Antwort gab, als ich ihn fragte, ob ihm denn gar kein Glaube mehr an sein eigenes Kind geblieben wäre? ›Hugh,‹ sagte er, ›Sie verschwenden Ihre Worte an einen Mann, der mit dieser Sache abgeschlossen hat. Ich will meiner Tochter wieder Vertrauen schenken, wenn jener irische Lord im Grabe liegt – eher nicht.‹ Das ist ein Unrecht gegen Sie, Iris, das ich nicht zugeben kann, selbst wenn es Ihr Vater thut. Er ist hart, er ist unversöhnlich, aber er muß und wird sich ändern. Ich hoffe, daß ich ihn noch dazu bringen werde, Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dies vorzubereiten, bin ich hierher gekommen. Darf ich mit Ihnen über Lord Harry sprechen?«

 

»Wie können Sie daran zweifeln?«

»Liebe Iris, es ist für mich sehr peinlich, davon mit Ihnen zu sprechen.«

»Und für mich sehr beschämend,« stieß Iris bitter hervor. »Hugh, Sie sind ein Engel im Vergleich zu diesem Mann! Wie heruntergekommen muß ich sein, daß ich ihn liebe, wie unwürdig Ihrer guten Meinung! Fragen Sie, was Sie wollen, schonen Sie mich nicht!« schrie sie in unverhohlener Selbstanklage. »Warum mißhandeln Sie mich nicht, wie ich es verdiene?«

Mountjoy kannte die Frauennatur gut genug, um stillschweigend über diesen leidenschaftlichen Ausbruch hinwegzugehen, anstatt die Aufregung in ihr noch dadurch zu steigern, daß er ihr widersprach.

»Ihr Vater wird auf Gefühlsäußerungen nichts geben,« fuhr er fort, »aber es ist möglich, ihn durch Thaten dahin zu bringen, daß er Ihnen gerecht wird. Geben Sie mir die Gelegenheit, mit ihm ausführlicher über Lord Harry sprechen zu können, als Sie es in Ihren Briefen im stande sind. Ich muß wissen, was sich von der Zeit an ereignet hat, wo gewisse Vorfälle Sie nach Ardoon brachten und dort wieder mit dem irischen Lord zusammenführten, bis zu der Zeit, wo Sie ihn in Irland nach dem Tode meines Bruders wieder verließen. Wenn es den Anschein hat, daß ich Ihnen zu viel zumute, Iris, so denken Sie, bitte, daß es nur in Ihrem Interesse geschieht.«

In diesen Worten lag ganz die edle Denkungsweise Hugh Mountjoys. Iris zeigte sich ihrer würdig.

Ihr Bericht begann, um es kurz zu sagen, mit dem geheimnisvollen anonymen Briefe, welcher an Sir Giles gerichtet war.

Lord Harry hatte Iris in dankbarer Bereitwilligkeit darüber die erforderlichen Erklärungen gegeben, aber doch mit einer gewissen Zurückhaltung, nachdem sie ihm vorher gesagt hatte, wer der Fremde an dem Meilenstein in Wirklichkeit gewesen war.

»Hätte Sir Giles nur den zehnten Teil Ihres Mutes besessen,« hatte er gesagt, »so könnte Arthur jetzt noch am Leben und in England in Sicherheit sein. Ich kann nichts weiter sagen, ich darf nichts weiter sagen; es macht mich verrückt, wenn ich daran denke!«

Seine Verbindung mit den Unüberwindlichen – wie er selbst zugab, eine nicht zu entschuldigende, leichtsinnige und unbesonnene That – hatte es ihm, wie er weiter ausführte, möglich gemacht, in die mörderischen Pläne der Bruderschaft einzudringen und sie wenigstens für einige Zeit im geheimen zu vereiteln. Sein Erscheinen zuerst auf Arthurs Besitzung und dann später bei der Ruine im Wald stand im Zusammenhang mit den Plänen der Mordgesellen, die zu seiner Kenntnis gekommen waren. Als Iris mit ihm zusammengetroffen war, befand er sich auf der Lauer, in dem Glauben, sein Freund würde den kurzen Weg durch den Wald nehmen. Er war sich vollkommen bewußt, daß, wenn es ihm gelingen würde, Arthur zu warnen, er wahrscheinlich mit seinem eigenen Leben dafür büßen müßte. Nach der schrecklichen Entdeckung des Mordes, der auf der Landstraße begangen worden war, und nach der Flucht des Bösewichts, der der Unthat schuldig war, hatten sich Lord Harry und Miß Henley getrennt. Sie hatte ihn verlassen, um nach England zurückzukehren, und sich entschieden geweigert, die Einwilligung zu späteren Zusammenkünften zu geben, um die er sie bat.

An dieser Stelle ihrer Erzählung fühlte Mountjoy sich veranlaßt zu einigen direkteren Fragen, als er sie bisher an Iris gestellt hatte. Vielleicht war es möglich, daß er mit Hilfe der Eindrücke, die Lord Harry auf sie gemacht hatte, Iris von dem übel angebrachten Vertrauen der in Selbsttäuschung befangenen Frau heilen konnte.

»Fügte er sich willig Ihrer Abreise?« fragte er.

»Anfangs nicht,« antwortete sie.

»Hat er Sie von dem Versprechen, das Sie ihm in unüberlegter Weise vor einigen Jahren gegeben haben und durch das Sie sich verpflichteten, ihn zu heiraten, entbunden?«

»Nein.«

»Hat er denn überhaupt bei dieser Gelegenheit jenes Versprechen erwähnt?«

»Er sagte, er würde daran festhalten als an der einzigen Hoffnung seines Lebens.«

»Und was haben Sie darauf erwidert?«

»Ich bat ihn flehentlich, mich nicht elend zu machen.«

»Sagten Sie nichts Bestimmteres als das?«

»Ich konnte es nicht über mich gewinnen, Hugh; ich mußte an alles das denken, was er unternommen hatte, um Arthur zu retten. Aber ich bestand fest auf meiner Abreise und habe sie auch durchgesetzt und ihn verlassen.«

»Erinnern Sie sich, was er beim Abschied zu Ihnen sagte?«

»Er sagte: ›So lange ich lebe, werde ich Dich lieben.‹«

Als sie diese Worte aussprach, nahm ihre Stimme unwillkürlich einen warmen, zärtlichen Klang an, der Mountjoy nicht entging.

»Ich muß ganz sicher sein,« sagte er ernst zu ihr, »über das, was ich Ihrem Vater zu berichten habe, wenn ich zu ihm zurückkomme. Kann ich ihm mit reinem Gewissen die bestimmte Versicherung geben, daß Sie niemals wieder Lord Harry sehen wollen?«

»Ich habe mir vorgenommen, ihn nicht wiederzusehen.« So weit hatte sie mit fester Stimme geantwortet. Ihre nächsten Worte aber wurden zögernd und in stockendem Ton gesprochen. »Ich fürchte jedoch bisweilen,« sagte sie, »daß die Entscheidung darüber nicht immer in meiner Macht bleiben wird.«

»Was soll das heißen?«

»Ich möchte es Ihnen lieber nicht sagen.«

»Das ist eine sonderbare Antwort, Iris.«

»Ich lege großen Wert auf Ihre gute Meinung, Hugh, und ich fürchte, sie dadurch zu verlieren.«

»Nichts hat meine Ansicht von Ihnen jemals geändert,« entgegnete er einfach und ruhig, »und nichts wird sie jemals ändern.«

Sie sah ängstlich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu ihm hin. Nach und nach verschwand der Ausdruck des Zweifels in ihrem Gesicht; sie wußte, wie sehr er sie liebte – sie beschloß, sich ihm anzuvertrauen.

»Seitdem ich Irland verlassen habe,« begann sie, »bin ich – ich weiß nicht, warum – in einen Zustand von abergläubischer Furcht verfallen. Ja, ich glaube an ein Verhängnis, welches mich auch gegen meinen Willen zu Lord Harry zurückführen wird. Zweimal schon, seitdem ich aus meines Vaters Haus geschieden, bin ich mit ihm zusammengetroffen, und jedesmal bin ich die Ursache gewesen, daß er einer großen Gefahr entging und gerettet wurde: das erstemal an dem Meilenstein und das zweitemal bei der Ruine im Walde. Wenn mich mein Vater jetzt noch beschuldigt, daß ich einen Abenteurer liebe, können Sie ihm mit ruhigem Gewissen und vollständig der Wahrheit gemäß sagen, daß ich mich vor diesem Abenteurer fürchte. Ich zittere vor der dritten Begegnung. Ich habe mein Möglichstes gethan, um diesem Mann zu entrinnen; aber Schritt für Schritt, wenn ich denke, ich bin fertig mit ihm, schleppt mich ein unseliges Geschick wieder zu ihm hin. Vielleicht bin ich jetzt wieder, da ich mich in dieser elenden kleinen Stadt sicher geborgen glaubte, auf dem Weg zu ihm. O, verachten Sie mich nicht, Hugh! Schämen Sie sich meiner nicht!«

»Meine liebe Iris, ich nehme Anteil, ich nehme den lebhaftesten Anteil an Ihrem Geschick. Daß es eine derartige, Einfluß ausübende Macht wie das Verhängnis in unserem armseligen irdischen Dasein gibt, wage ich nicht zu leugnen. Aber mit Ihrem Schluß kann ich mich nicht einverstanden erklären. Was das dunkle Verhängnis mit Ihnen und mit mir zu thun vorhat, das vorher zu wissen, können weder Sie noch ich behaupten. In Gegenwart dieses großen Geheimnisses muß die Menschheit sich bescheiden und ihre Unwissenheit zugestehen! Warten Sie, Iris, warten Sie!«