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Blinde Liebe

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Siebenundsechzigstes Kapitel

Drei Tage später fuhr ein Londoner Cab bei der sehr angesehenen Rechtsanwaltsfirma vor, welche die Geschäfte der Familie Norland führte. Sie waren außerdem noch die Sachwalter von zwei oder drei anderen Familien und verdienten trotz des landwirtschaftlichen Niedergangs viel Geld mit ihren bequemen Geschäften. In dem Cab saß eine Dame in tiefer Trauer.

Lady Harry Norland erwartete nichts anderes, als daß sie mit Kälte und Argwohn empfangen werden würde. Ihr Gatte hatte, wie sie nur zu gut wußte, nicht das Leben geführt, welches man in unseren Tagen von einem jüngeren Sohn einer vornehmen Familie erwartet. Ebensowenig war die Erinnerung, welche sein älterer Bruder, das Haupt der Familie, von ihm hatte, eine derartige, daß sie ihn bei diesem hätte besonders wert machen können. Weitere Gründe zur Furcht lagen in ihrem Schuldbewußtsein als Mitwisserin gewisser Dinge, welche leicht durch einen Zufall herauskommen konnten. Ueberdies hatte Iris noch niemals mit Rechtsanwälten zu thun gehabt und kannte daher deren Art und Weise nicht.

Anstatt daß sie indessen empfangen wurde von einem Herrn mit der feierlichen Miene eines Mitglieds des Kanzleigerichtes oder dem drohenden Blick eines Mitgliedes des Assisenhofes, fand sie einen älteren Herrn von väterlich freundlichem Benehmen, der ihre beiden Hände festhielt und aussah, als hätte er über den schweren Verlust, den sie erlitten, geweint. Durch lange Praxis verstand es dieser würdige Mann, immer zur rechten Zeit den Schein anzunehmen, als ob er mit seinen Klienten weinte und wehklagte.

»Meine teure Lady,« sprach er mit leiser, trauervoller Stimme, »meine teure Lady, dies ist eine schwere Zeit für Sie.«

Sie sah ihn erschreckt an, denn sie fürchtete, daß schon etwas herausgekommen.

»Gerade jetzt, wo Sie kaum den schmerzlichen Verlust erlitten haben, schon an Geschäfte denken zu müssen!«

»Ich bringe Ihnen,« antwortete sie kurz, »meines Gatten – meines verstorbenen Gatten letzten Willen.«

»Ich danke Ihnen. Mit Ihrer Erlaubnis – es wird Sie allerdings etwas aufhalten – werde ich ihn sogleich durchlesen. Aha, der ist ja sehr kurz und bündig und klar. Dieses Testament wird uns wenig Mühe und Arbeit machen. Leider muß ich indessen die Befürchtung aussprechen, daß Sie, Mylady, außer der Versicherungssumme nicht sehr viel erhalten werden.«

»Ich weiß das. Es wird gar nichts sein. Mein Gatte war stets ein armer Mann, wie Sie ja auch selbst wissen werden. Zur Zeit seines Todes verfügte er nur über sehr wenig bares Geld. Ich bin daher wirklich in großer Verlegenheit.«

»Das sollen Sie nicht länger sein, Mylady; Sie brauchen sich nur auf uns zu berufen. Was Lord Harrys Tod anbetrifft, so sind wir davon schon durch Doktor Vimpany benachrichtigt, der sein Freund sowohl als sein ärztlicher Berater gewesen zu sein scheint.«

»Doktor Vimpany hat eine Zeit lang mit meinem Gatten zusammengelebt.«

»Er hat uns geschrieben, daß die Krankheit Ihres Gatten einen sehr schnellen Verlauf gehabt.«

»Ich war gerade fern von meinem Gatten, als er starb. Ich befand mich in Geschäftsangelegenheiten schon eine Zeit lang vor seinem Tod hier in London. Ich wußte es nicht einmal, daß sein Zustand gefährlich war. Als ich zurück nach Passy eilte, kam ich zu spät. Mein Gatte war schon – war schon beerdigt.«

»Das traf sich sehr unglücklich. Und außerdem die Thatsache, daß Seine Lordschaft nicht auf freundschaftlichem Fuß mit den Mitgliedern seiner Familie lebte, – bitte, mißverstehen Sie mich nicht, Mylady, ich will durchaus nicht irgend eine Meinung über diese Verhältnisse aussprechen – aber diese Thatsache hat jedenfalls sein Ende noch unglücklicher gemacht.«

»Er hatte Doktor Vimpany,« sagte Iris in einem Ton, welcher Mißtrauen gegen den Rechtsanwalt oder Mißfallen gegen den Doktor ausdrückte.

»Es bleibt uns jetzt nur noch übrig,« sagte der Anwalt, »das Testament eröffnen zu lassen und Ihre Forderung an die Lebensversicherungsgesellschaft geltend zu machen. Ich habe die Police hier. Lord Harry hatte sein Leben bei der Royal Unicorn Insurance Company für die Summe von fünfzehntausend Pfund versichert. Wir können nun nicht erwarten, daß diese große Forderung sogleich befriedigt wird. Vielleicht wird die Gesellschaft drei Monate für die Auszahlung verlangen. Aber Mylady können sich inzwischen, wie ich Ihnen schon sagte, auf uns berufen.«

»Sind Sie auch sicher, daß die Gesellschaft zahlen wird?«

»Ganz sicher. Warum nicht? Sie muß zahlen.«

»Ich dachte nur, daß vielleicht eine so große Summe –«

»Meine liebe gnädige Frau,« – der Mann, der so große Vermögen verwaltete, mußte unwillkürlich lächeln – »fünfzehntausend Pfund sind für uns keine große Summe. Wenn eine Versicherungsgesellschaft die Auszahlung einer gesetzlich anerkannten Forderung verweigern würde, so würde sie sich dadurch selbst eine Grube graben, denn ihre ganze Existenz hängt nur einzig und allein davon ab, daß sie alle gerechten und gesetzlich anerkannten Forderungen befriedigt. Wenn der Tod eines Menschen amtlich beglaubigt worden ist, dann bleibt der Versicherungsgesellschaft nichts anderes übrig, als die Versicherungssumme der Person auszuzahlen, welche zum Empfang des Geldes berechtigt ist. In diesem Fall bin ich diese Person als Ihr Stellvertreter.«

»Ja, ich verstehe; aber ich dachte nur, daß sich vielleicht einige Schwierigkeiten ergeben würden, weil mein Gatte im Ausland gestorben ist.«

»Schwierigkeiten könnten allerdings vorhanden sein, wenn Lord Harry in Zentralafrika gestorben wäre. Aber er starb in einer Vorstadt von Paris, und das französische Gesetz ist in solchen Fällen noch viel sorgfältiger und genauer als unser eigenes. Wir haben die offiziellen Papiere und die Beglaubigung des Doktors. Wir haben außerdem eine Photographie des unglücklichen jungen Edelmanns, wie er auf seinem Totenbett liegt. Sie ist von wunderbarer Aehnlichkeit, und die Sonne kann nicht lügen; es war das ein ausgezeichneter Gedanke von dem Doktor, den Toten zu photographiren. Wir haben ferner auch eine Photographie von dem erst kürzlich errichteten Grabstein. Zweifel? Meine teure Lady, man könnte ebensowenig einen Zweifel an der Richtigkeit der Sachlage haben, wenn Ihr Gatte in dem Familienerbbegräbnis bestattet wäre. Wenn irgend etwas einen Grund an Zweifeln entfernen kann, so ist es die Thatsache, daß die einzige Person, welche aus Lord Harrys Tod einen Vorteil zieht, Sie selbst sind. Wenn er dagegen in den Händen von Leuten gewesen wäre, welche Grund hätten, seinen Tod zu wünschen, dann könnten allerdings Zweifel entstehen. Das wäre aber Sache der Polizei und nicht der Versicherungsgesellschaft.«

»O, wie bin ich froh, zu hören, daß die Angelegenheit keinen Anstand weiter hat. Ich verstehe so gar nichts von Geschäften und glaubte daher –«

»Nein, nein, Mylady, Sie brauchen keinen solchen Gedanken zu haben. Da ich ja voraussehen konnte, daß Sie mich aufsuchen würden, so habe ich schon vorher an den Geschäftsleiter der Versicherungsgesellschaft geschrieben. Er drückte allerdings seine lebhafte Verwunderung über die Ursache des Todes aus, denn in der Familie Ihres Gatten war noch kein Fall von Auszehrung vorgekommen. Aber Lord Harry hat auch, wenn ich mich so ausdrücken darf, sehr große Anforderungen an seine Gesundheit gestellt. Ja, ja, etwas zu starke, so habe ich es wenigstens der Gesellschaft erklärt.«

In Wirklichkeit hatte jedoch dieser würdige Mann die Erklärung in ganz anderen Worten gegeben. Was er wirklich gesagt hatte, lautete folgendermaßen: »Lord Harry Norland, Sir, war ein Teufel. Es gab nichts, was er nicht gethan hatte; ich wundere mich nur darüber, daß er überhaupt noch so lange gelebt hat. Wenn man mir gesagt hätte, daß er an allen Krankheiten zusammen gestorben wäre, so würde ich darüber nicht im mindesten erstaunt gewesen sein. Die gewöhnliche galoppirende Schwindsucht war viel zu einfach für solch einen Mann.«

Iris nannte dem Rechtsanwalt ihre Londoner Adresse und ließ sich von ihm zum voraus hundert Pfund geben, wovon sie die Hälfte an William Linville in Louvain schickte. Dann begab sie sich nach Hause, um dort zu warten. Sie mußte jetzt so lange in London bleiben, bis die Forderung ausgezahlt wurde.

Sie wartete sechs Wochen. Am Ende dieser Zeit erfuhr sie durch ihren Rechtsanwalt, daß die Versicherungsgesellschaft die Sache in Ordnung gebracht und daß er als ihr Rechtsanwalt bei ihrem Bankier die Summe von fünfzehntausend Pfund als vollen Betrag der Versicherungssumme eingezahlt habe.

In Uebereinstimmung mit den Anordnungen ihres Gatten suchte sie sich dann ein anderes Bankhaus und eröffnete bei diesem ein Konto für einen gewissen William Linville, einen Edelmann, der im Ausland lebte. Sie ließ eine Probe der eigenhändigen Namensunterschrift William Linvilles zurück und zahlte auf dieses Konto eine Anweisung von achttausend Pfund ein. Dann sprach sie mit dem Geschäftsführer ihrer eigenen Bank und erklärte ihm, daß sie diese Summe für eine sichere Kapitalanlage brauche, und bat ihn außerdem noch um zweitausend Pfund in Banknoten, die sie für einen andern Zweck benötige. Der Bankier glaubte, sie beabsichtige irgend eine wohlthätige Stiftung damit zu machen – vielleicht ein Sühnopfer für die Ausschreitungen ihres verstorbenen Gatten.

Dann schrieb Iris sofort an Mr. Vimpany, der sich in Paris aufhielt, und verabredete eine Zusammenkunft mit ihm.

»Es hat nicht die mindeste Mühe gemacht,« schrieb sie, nachdem das alles besorgt war, an ihren Gatten, »und wird auch in Zukunft keine weitere verursachen. Die Lebensversicherungsgesellschaft hat meine Forderung schon berichtigt. Von dem erhaltenen Geld habe ich achttausend Pfund auf das Konto von William Linville eingezahlt. Mein eigener Bankier, der meinen Vater kennt, glaubt, daß das Geld zu einer Kapitalanlage verwendet wird, und ich glaube, mein lieber Harry, daß, wenn nicht der Doktor uns wieder zu quälen anfängt, – und er wird dies sicher thun, sobald er sein Geld durchgebracht hat – vor uns ein ebener Weg liegt. Laß uns, wie ich Dich schon einmal gebeten habe, geradenwegs nach einem entlegenen Teil von Amerika gehen, wo wir sicher sind, nicht erkannt zu werden. Du kannst Dein Haar färben und Deinen Bart wachsen lassen, um uns vor jeder Entdeckung zu schützen. Laß uns weit weg gehen von jedem Ort und von jeder Person, die uns an die Vergangenheit erinnern kann. Dann werden wir vielleicht etwas von dem alten Frieden wiederfinden und, wenn das jemals noch möglich ist, die alte Selbstachtung.«

 

Es sollten ihr indessen doch noch Mühen und Unannehmlichkeiten erwachsen und zwar derartige, die sie wenig erwartet hatte, und vor denen sie sich auch nicht schützen konnte, und diese Unannehmlichkeiten wurden durch Iris' eigene Handlungsweise hervorgerufen.

Achtundsechzigstes Kapitel

Iris sah Fannys Annonce, und ihr erster Gedanke war, das Mädchen wieder in ihre Dienste zu nehmen; aber sie erinnerte sich daran, daß sie vor allen früheren Bekannten verborgen bleiben müßten. Sie durfte sich und ihren Gatten nicht in die Gewalt dieses Mädchens geben, dessen Treue auf zu harte Proben gestellt werden könnte.

Daher beantwortete sie die Annonce durch einen Brief, der keine Adresse enthielt und den sie selbst auf das Hauptpostamt trug. Sie überlegte ihre Worte sehr sorgfältig. Sie durfte nicht zu viel und nicht zu wenig sagen.

»Ich lege diesem Brief,« schrieb sie, »eine Banknote von zehn Pfund bei, welche Sie für sich verwenden sollen. Ich stehe im Begriff, ins Ausland zu reisen, muß aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen auf die Dienste eines Kammermädchens Verzicht leisten. Im weiteren Verlauf meiner Reisen werde ich, wie ich hoffe, auch nach Brüssel kommen. Wenn Sie daher mir etwas zu sagen oder mich etwas zu fragen haben, so schreiben Sie, bitte, dorthin postlagernd an mich, und innerhalb von ungefähr sechs Monaten werde ich den Brief, wie ich mit Sicherheit annehmen zu können glaube, von dort abholen lassen. Ich erwarte aber dann auch gewiß einen Brief von Ihnen. Denken Sie nicht etwa, daß ich Sie oder Ihre treuen Dienste vergessen habe, obgleich ich für den Augenblick außer stande bin, Sie an meine Seite zu rufen. Fassen Sie sich daher in Geduld!«

Daß in dem Brief keine Adresse angegeben war, mußte befremden. Wenn Lady Harry sich in London befand, – und der Brief war auf dem dortigen Hauptpostamt aufgegeben – warum nannte sie dann ihre Adresse nicht? Und wenn sie sich im Ausland befand, warum verheimlichte sie selbst dann ihren Aufenthaltsort? Auf jeden Fall, warum sollte sie sich ohne ein Kammermädchen behelfen, sie, die niemals ohne ein solches gewesen war, der ein Kammermädchen so notwendig war wie eine ihrer Hände? – O, sie konnte überhaupt niemals ohne Kammermädchen sein. Fanny wußte natürlich nichts, noch ahnte sie irgend etwas von den Geschäften, welche Iris in London gehabt hatte, und von deren Teilnahme an dem Verbrechen.

Sie wandte sich daher wieder an ihre einzige Freundin, an Mrs. Vimpany, welcher sie den Brief von Lady Harry schickte, und beschwor sie, wenn es möglich wäre, Mr. Mountjoy jetzt die ganze Geschichte zu erzählen.

»Er ist nunmehr um so viel kräftiger und gesünder geworden,« schrieb Mrs. Vimpany zurück, »daß ich es demnächst werde wagen können, ihm alles mitzuteilen: aber übereilen Sie nichts. Wir wollen um Gottes willen nichts thun, was ihr irgendwelche Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Ich bin fest überzeugt, daß wieder irgend etwas im Werk ist, natürlich etwas Schlechtes. Ich habe Ihren Bericht von dem, was Sie erfahren und miterlebt haben, wieder und immer wieder durchgelesen und bin ebenso überzeugt wie Sie, daß Lord Harry und mein würdiger Gatte den vermeintlichen Tod des ersteren zu ihren unsauberen Zwecken ausbeuten. Wir können aber jetzt nichts thun, wir müssen warten.«

Drei Tage später schrieb sie wieder:

»Der günstige Augenblick, auf den ich gewartet habe, ist jetzt endlich gekommen. Mr. Mountjoy hat sich wieder, wie ich glaube, vollständig erholt. Als ich ihn heute morgen so gesund und kräftig fand, nahm ich die Gelegenheit wahr, ihn zu fragen, ob ich es wagen dürfte, ihm ein Buch vorzulegen, das eine Erzählung enthielte.

»›Betrifft die Erzählung Iris?‹ fragte er.

»›Sie hat mit Lady Harry indirekt zu thun.‹

»Eine Zeit lang gab er keine Antwort. Dann fragte er mich, ob sie auch deren Gatten betreffe.

»›Auch Lord Harry und meinen Gatten,‹ antwortete ich.

»Darauf schwieg er wieder eine Zeit lang.

»Nach einer Weile sah er auf und sagte:

»›Ich habe mir selbst das Versprechen gegeben, mich niemals wieder in Lady Harry Norlands Angelegenheiten zu mischen. Ist es Ihr besonderer Wunsch, daß ich diese Erzählung lese, Mrs. Vimpany?‹

»›Gewiß. Es liegt mir sehr viel daran, daß Sie sie lesen und mir dann einen Rat geben.‹

»›Wer hat sie geschrieben?‹

»›Fanny Mere, das Kammermädchen der Lady.‹

»›Wenn es sich nur darum handelt, mir zu sagen, daß Lord Harry ein Schurke ist, dann will ich sie nicht lesen.‹

»›Wenn Sie nun durch die Lektüre in stand gesetzt würden, Lady Harry vor einem furchtbaren Unglück zu bewahren?‹ wendete ich ein.

»›Geben Sie mir den Bericht, ich will ihn lesen,‹ sagte er darauf.

»Bevor ich ihm jedoch Ihre Aufzeichnungen einhändigte, – ich trug sie stets bei mir in meiner Tasche – zeigte ich ihm eine Zeitung, welche eine gewisse Anzeige enthielt.

»›Lord Harry tot?‹ rief er. ›Unmöglich, dann ist Iris ja frei?‹

»›Sie lesen vielleicht zuerst diese Aufzeichnungen von Fanny Mere,‹ entgegnete ich und zog das Buch aus der Tasche, übergab es ihm und ging aus dem Zimmer. Er sollte allein sein, während er Ihren Bericht las.

»Eine halbe Stunde später kam ich wieder zurück. Ich fand ihn in einem Zustand der heftigsten Erregung, jedoch ohne irgendwelches Zeichen von Schwäche, wie ich es bei früheren ähnlichen Gelegenheiten an ihm bemerkt hatte.

»›Mrs. Vimpany,‹ rief er, ›das ist ja entsetzlich! Für mich ist kein Zweifel, nicht der geringste Zweifel mehr vorhanden, daß der Däne Oxbye derjenige ist, welcher unter dem Namen Lord Harry Norlands auf dem Friedhof von Auteuil beerdigt wurde, und daß er ermordet worden ist, mit kaltem Blut ermordet worden von jenem schlechtesten aller Schurken –‹

»›Von meinem Gatten!‹ sagte ich.

»›Ja, von Ihrem Gatten, Sie unglücklichste aller Frauen! Was Lord Harrys Beteiligung an dem Mord betrifft, so ist es gleichfalls vollständig erwiesen, daß er davon wußte, wenn er nicht sogar damit übereingestimmt hat. Mein Gott im Himmel, verstehen Sie es, können Sie sich wirklich vorstellen, was sie gethan haben? Ihr Gatte und der Gatte von Iris können deswegen in Untersuchung gezogen werden, in eine wirkliche Untersuchung wegen Mords, und zu einem schmachvollen Tod verurteilt werden. Haben Sie schon daran gedacht?‹

»›Ich denke immer daran; der Himmel weiß es, ich denke jeden Tag daran, ich denke daran Tag und Nacht. Ich werde aber nichts laut werden lassen, was dieses Schicksal auf sie herabbeschwören könnte, und ebensowenig wird Fanny Mere irgend etwas sagen. Wenn Fanny nicht zufälligerweise Augenzeugin gewesen wäre, so würden wir überhaupt nicht die geringste Ahnung davon haben, wie sich die ganze Sache in Wirklichkeit verhält.‹

»›Was weiß aber Iris davon?‹

»›Von dem Morde sicherlich nichts!‹

»›Nein, nein, sie kann nichts davon wissen. Das wenigstens durften sie ihr nicht sagen. Aber wie weit mag sie im übrigen in diese dunkle Sache verwickelt sein? Mrs. Vimpany, ich werde noch heute abend nach London zurückkehren. Wir werden mit dem Nachtzug fahren. Ich fühle mich vollständig kräftig genug.‹

»Ich begann diesen Brief in Schottland, ich vollende ihn hier in London.

»Wir sind wieder in der Stadt. Kommen Sie sofort in das Hotel und suchen Sie uns auf.«

So, da war endlich der Mann da, der einen guten Rat geben konnte. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit war Fanny wieder dafür dankbar, daß es auf der Welt Männer gab.

Das erste, was Mountjoy that, nachdem er sich durch Rücksprache mit Fanny Mere noch einmal sorgfältig von der Richtigkeit aller ihrer brieflichen Angaben versichert, war, daß er sich erkundigte, ob und welche Schritte in der Versicherungsangelegenheit gethan worden seien. Um Iris willen ging er dabei ganz offen vor, denn es durfte nur den Anschein haben, als ob er die gegenwärtige Adresse der Lady Harry wissen wollte. In einer Sache, bei der Bankiers, Lebensversicherungsgesellschaften und Rechtsanwälte gemeinsam beteiligt waren, konnte es unmöglich schwer halten, etwas so Einfaches ausfindig zu machen.

Er erfuhr denn auch alsbald die Namen der Rechtsanwälte der Familie Norland. Er suchte deren Bureau auf, schickte seine Karte hinein und trug, nachdem er vorgelassen worden, sein Anliegen vor. Als langjähriger Freund der Lady Harry wünschte er deren gegenwärtige Adresse zu wissen. Er sei soeben aus Schottland gekommen, wo er krank gelegen, und habe daher auch jetzt erst ihren schmerzlichen Verlust erfahren. Der Rechtsanwalt machte keinerlei Schwierigkeiten; hatte er doch nicht den geringsten Grund dazu. Lady Harry, berichtete er, war in London gewesen; sie war fast zwei Monate lang durch die Geschäfte in der Stadt aufgehalten worden, die mit dem traurigen Ereignis zusammenhingen; sie war aber jetzt schon wieder fortgereist und befand sich in der Schweiz oder sonst wo. Ihre Adresse habe sie ihm demnächst zu senden zugesagt.

»Das, was Lady Harry hier in London zu thun hatte, betraf, so viel ich weiß, die Eröffnung des Testaments und die Ordnung ihrer Vermögensverhältnisse.«

»Ganz richtig!«

»Lady Harry besaß auch ein eigenes kleines Vermögen,« fuhr Mr. Mountjoy fort, »das sie endlich doch noch von ihrem Vater bekommen hatte, ungefähr fünftausend Pfund, mehr war es meines Wissens nicht.«

»So? Sie hat in der Beziehung nicht meine Hilfe in Anspruch genommen.«

»Ich glaube, dieses Vermögen war sicher angelegt und befand sich in den Händen eines Vormundes. Aber ich weiß es selbst nicht genau. Lord Harry war, soviel ich gehört habe, gewöhnlich in Geldverlegenheit. Hatte er denn sein Leben versichert?«

»Ja, glücklicherweise. Die Versicherungssumme hatte seine Familie für ihn bezahlt, sonst würde er seiner Witwe überhaupt nichts hinterlassen haben.«

»Und diese Summe ist ihr gewiß schon ausgezahlt worden?«

»Ja. Sie ist auf ihr Privatconto übertragen worden.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Mr. Mountjoy. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich einen Brief an Lady Harry in Ihre Hände legen mit der Bitte, ihn bei nächster Gelegenheit an sie weiter zu befördern.«

»Iris wird nie wieder nach London kommen,« dachte er; »ihr Gatte hat sie also wirklich dahin gebracht, an dem Verbrechen teilzunehmen. Gott im Himmel, sie ist eine Schwindlerin, eine Betrügerin, eine Verbrecherin geworden! Iris! Es ist unglaublich, es ist fürchterlich! Was ist da zu thun?«

Er schrieb zunächst einen Brief, den er in die Hände des Rechtsanwalts niederlegte. Er teilte ihr darin mit, daß er eine Entdeckung gemacht habe, die für sie von der größten Wichtigkeit sei, vermied aber alles, was den geringsten Verdacht in ihr erregen konnte; er beschwor sie, ihm eine Zusammenkunft irgendwo, in irgend einem Teil der Welt, aber mit ihr allein, zu gewähren. Er sagte ihr, daß die Folgen einer abschlägigen Antwort verhängnisvoll, furchtbar verhängnisvoll für ihr zukünftiges Glück sein könnten, und bat sie noch einmal inständigst, ihm zu glauben, daß er für nichts anderes als für ihr Glück besorgt, und daß er noch immer, wie zu jeder Zeit, ihr aufrichtig ergebener Freund sei.

Für jetzt konnte er nichts weiter thun; er hegte nicht einmal die Hoffnung, daß der Brief irgendwelchen Erfolg haben, ja, er glaubte nicht einmal, daß er Iris erreichen werde. Sie hatte das Geld empfangen, und es war auf ihr eigenes Conto übertragen worden; es lag daher in der That gar kein Grund vor, warum sie wieder in Verbindung mit dem Rechtsanwalt treten sollte; und was würde sie dann thun? Nur eines blieb ihr übrig. Diese schuldbeladene Frau mußte mit ihrem schuldbeladenen Gatten in Verborgenheit den Rest ihrer Tage verleben oder wenigstens so lange, bis der Tod sie von dem Mann befreite, der jetzt schon vorgab, begraben zu sein. Im besten Fall würden sie irgend einen Ort ausfindig machen, wo sich keine Gelegenheit darbieten würde, mit irgend jemand zusammenzutreffen, der einen von ihnen gekannt hätte, bevor sie das Verbrechen begangen hatten.

Aber konnte sie überhaupt etwas von dem Mord wissen?

Er dachte an den Auftrag, den sie Fanny gegeben hatte, nach Brüssel zu schreiben, und nahm sich vor, das Kammermädchen zu veranlassen, dies sofort zu thun. Er selbst wollte Fanny diktiren, was sie schreiben sollte. So schrieb denn Fanny nach seinem Diktat folgendes:

 

»Mylady! Ich habe Ihren Brief erhalten und Ihr liebenswürdiges Geschenk von zehn Pfund, für das ich Ihnen bestens danke.

»Mr. Mountjoy, der wieder nach London zurückgekehrt ist, ersucht mich, Ihnen mitzuteilen, daß er mit Ihrem Rechtsanwalt eine Unterredung gehabt und von ihm erfahren hat, daß Sie in London gewesen sind in Geschäftsangelegenheiten, deren Natur er ebenfalls kennen gelernt hat. Er hat für Sie auf dem Bureau des Rechtsanwaltes einen wichtigen Brief niedergelegt; der Rechtsanwalt hat versprochen, sobald er Ihre Adresse erfährt, Ihnen diesen Brief zu übersenden.

»Seitdem ich von Passy zurückgekehrt bin, habe ich es für vernünftig gehalten, einen genauen Bericht über alles, was sich dort unter meinen Augen ereignet hat, niederzuschreiben. Mr. Mountjoy hat diese meine Aufzeichnungen gelesen und wünscht, daß ich Ihnen ohne Aufschub eine Abschrift davon übersenden soll. Ich schicke Ihnen daher eine solche, in der ich jedoch alle Namen ausgelassen und dafür nur die einfachen Anfangsbuchstaben eingesetzt habe. Sie werden ja nicht die mindeste Schwierigkeit haben, die Namen auszufüllen.

»Ich verbleibe Myladys aufrichtigst ergebenste Dienerin

Fanny Mere.«

Noch an demselben Abend wurde dieser Brief mit der Abschrift nach Brüssel geschickt, und damit bereits war das düstere Verhängnis, das über Iris hereinbrechen sollte, ins Rollen gebracht.