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Blinde Liebe

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»Natürlich nicht,« entgegnete der Doktor, »denn ich habe sie anders zubereitet; ich habe sie stärker gemacht.«

Der Däne schüttelte wieder seinen Kopf.

»Sie verursacht mir Schmerz in der Kehle,« sagte er, »sie sticht, sie brennt.«

»Geduld, nur Geduld! Es wird sofort vorübergehen, und Sie werden sich dann wieder niederlegen und leicht einschlafen.«

Oxbye sank auf das Sofa zurück; seine Augen schlossen sich. Dann öffnete er sie wieder und sah sich in sonderbarer Weise um wie ein Mann, der eine neue Erfahrung gemacht hat. Dann schüttelte er seinen Kopf, schloß seine Augen wieder und öffnete sie nicht mehr. Er war eingeschlafen.

Der Doktor stand ihm zu Häupten und beobachtete ihn genau. Lord Harry saß in seinem Stuhl; er neigte sich nach vorn und beobachtete auch den Kranken; aber sein Gesicht war schrecklich bleich, und seine Hände zitterten.

Als sie den Schlafenden so anstarrten, fiel sein Kopf ein wenig zur Seite; sein Gesicht wurde dadurch dem Zimmer mehr zugekehrt. Dann trat etwas Sonderbares, etwas Erschreckendes ein. Sein Mund begann sich langsam zu öffnen.

»Hat er – hat er – hat er eine Ohnmacht bekommen?« flüsterte Lord Harry.

»Nein, er ist eingeschlafen. Haben Sie noch niemals einen Menschen mit weitgeöffnetem Mund schlafen sehen?«

Dann waren sie einen Augenblick still. Der Doktor unterbrach zuerst das Schweigen.

»Wir haben heute morgen ausgezeichnetes Licht,« sagte er ruhig. »Ich will einmal den Versuch mit einer Photographie machen. Halt, lassen Sie mich ihm zuerst noch das Tuch so umbinden, daß der Mund geschlossen ist; so – so.«

Der Kranke wurde durch diese Hantirung nicht im mindesten gestört, obgleich der Doktor durchaus nicht zart zu Werke ging. Ein gesunder Schläfer wäre gewiß davon aufgewacht.

»Nun wollen wir einmal sehen, ob er aussieht wie ein nach dem Tode Photographirter.«

Vimpany ging in das nächste Zimmer und kehrte mit dem photographischen Apparat zurück. In wenigen Minuten hatte er ein Bild aufgenommen und hielt das Negativ gegen seinen Aermel, um es sichtbar zu machen.

»Wir wollen abwarten, wie es aussieht,« sagte er, »wenn es kopirt ist. Vorerst glaube ich kaum, daß es gut genug sein wird, um als ein Bild von Ihnen gelten zu können, das an die Versicherungsgesellschaft geschickt werden muß. Niemand, der Sie kennt, würde, fürchte ich, dies für ein nach dem Tode aufgenommenes Bild Lord Harrys halten. Nun, wir wollen sehen; vielleicht sind wir morgen in der Lage, eine bessere Photographie zu bekommen – nicht wahr?«

Lord Harry folgte seinen Bewegungen und beobachtete ihn genau, sagte aber nichts. Sein Gesicht blieb bleich, und seine Finger zitterten immer noch. Es konnte jetzt weder an Vimpanys verbrecherischer Absicht noch an dem Verbrechen selbst länger gezweifelt werden. Er wagte es nicht, sich zu bewegen oder zu sprechen.

Da tönte der Schall der Hausthürglocke. Lord Harry fuhr mit einem Schreckensrufe von seinem Stuhl auf.

»Das ist die Pflegerin,« sagte der Doktor ruhig, »die neue Pflegerin, die Fremde.«

Er löste das Tuch, mit dem er Oxbyes Kinnlade hinaufgebunden, sah sich im Zimmer um, als ob er sich überzeugen wollte, ob alles an seiner richtigen Stelle stehe, und ging dann hinaus, um die Frau hereinzulassen.

Lord Harry sprang auf und fuhr mit der Hand über das Gesicht des Kranken.

»Ist es möglich?« flüsterte er. »Kann der Mann vergiftet sein? Ist er schon tot – schon, und vor meinen Augen umgebracht?«

Er legte seine Finger auf den Puls des Kranken, aber der Klang der Schritte und der Stimme des Doktors schreckten ihn zurück. Vimpany trat mit der neuen Pflegerin in das Zimmer. Sie war eine ältliche, bescheiden aussehende Frau. Lord Harry blieb an der Seite des Sofas stehen in der Hoffnung, der Däne würde wieder aufwachen.

»So,« sagte Vimpany freundlich, »hier ist Ihr Patient, Pflegerin: er ist jetzt eingeschlafen. Lassen Sie ihn nur ruhig ausschlafen, er hat seine Medizin schon genommen und wird für eine Zeit lang nichts weiter bedürfen. Wenn Sie etwas wünschen, so lassen Sie es mich wissen; wir werden in dem nächsten Zimmer sein oder im Garten, irgendwo in der Nähe des Hauses. Kommen Sie, lieber Freund!«

Er zog Lord Harry sanft bei dem Arm weg, und beide verließen das Zimmer.

Fanny Mere begann hinter dem Vorhang darüber nachzusinnen, wie sie wohl ungesehen entkommen könnte.

Die Pflegerin, allein gelassen, sah sich jetzt ihren Patienten an, welcher mit dem Gesicht ihr zugekehrt lag; seine Augen waren geschlossen, und sein Mund stand weit offen. »Ein sonderbarer Schlaf,« murmelte sie; »aber der Doktor muß es, wie ich denke, ja wissen; er soll ausschlafen!«

»In der That ein sonderbarer Schlaf!« dachte die Lauscherin. Sie fühlte sich in diesem Momente versucht, hervorzutreten und zu bekennen, was sie gesehen hatte; aber der Gedanke an Lord Harrys Mitthäterschaft hielt sie zurück. Mit welchem Gesicht konnte sie zu ihrer Herrin zurückkehren und ihr sagen, daß sie es in der Hand habe, ihren Gatten des Mordes zu beschuldigen! Sie entschloß sich daher, zu warten.

Die Wärterin legte ihren Hut und ihren Mantel ab und sah sich im Zimmer um. Sie trat an das Bett und prüfte das Bettzeug und das Kissen, wie es eine gute französische Hausfrau thut. Ob sie wohl den Vorhang zurückschlagen würde? Wenn sie das thäte, was sollte dann geschehen? Dann würde es notwendig sein, die neue Pflegerin in das Vertrauen zu ziehen, denn sonst. . . Fanny dachte das Ende dieses Satzes nicht aus; es hieß: Wenn Vimpany herausbekommen würde, wo sie gewesen war, was sie gesehen und gehört hatte, dann würden statt eines Menschen zwei in einen tiefen Schlummer fallen.

»Sie erkundigte sich nach dem Weg zum Postamt


Die Pflegerin ging aber wieder von dem Bett weg und trat, durch die halb geöffnete Thür angezogen, an den Wandschrank. Da standen die Medizinflaschen; sie nahm eine nach der andern heraus und betrachtete sie mit berufsmäßiger Neugierde; sie entkorkte jede und roch daran; dann stellte sie die Flaschen wieder an ihren früheren Platz zurück. Darauf ging sie an die offen stehende Glasthür und trat hinaus auf die in den Garten führende Steintreppe. Sie sah sich rings um und atmete mit vollen Zügen die weiche, von dem Duft der zahlreichen Blumen erfüllte Luft ein. Nach einer Weile kehrte sie in das Zimmer zurück, und es hatte den Anschein, als ob sie noch einmal das Bett untersuchen wollte. Sie wurde indes durch ein kleines Bücherbrett davon abgelenkt und begann ein Buch nach dem andern herunterzunehmen und durchzublättern wie eine halbgebildete Person, in der Hoffnung, etwas recht Unterhaltendes zu finden. Und sie fand auch ein Buch mit Bildern. Sie setzte sich in den Armstuhl nieder neben dem Sofa und sah sich langsam ein Blatt nach dem andern an. Wie lange sollte das dauern?

Es dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Die Pflegerin legte das Buch gähnend weg, lehnte sich in den Sessel zurück, gähnte noch einmal, faltete die Hände und schloß die Augen. Sie stand im Begriff, einzuschlafen. Wenn sie nur wirklich auch einschlafen wollte, damit das Mädchen hinter dem Vorhang ungesehen entschlüpfen könnte!

Aber zuweilen wird der Schlaf, gerade wenn man am meisten dazu geneigt ist, durch ein Ungefähr verscheucht. In diesem Fall geschah es dadurch, daß sich die Pflegerin, bevor sie einschlief, daran erinnerte, daß sie einen kranken Mann zu pflegen hatte. Sie richtete sich daher noch einmal auf, ehe sie sich ganz der süßen Ruhe hingab, und sah den Schlafenden genau an.

Wie von einer plötzlichen Eingebung geleitet, sprang sie auf und beugte sich über den Mann. »Atmet er noch?« fragte sie. Sie beugte sich tiefer. »Schlägt sein Puls noch?«

Sie ergriff sein Handgelenk.

»Doktor,« schrie sie laut auf und rannte in den Garten, »Doktor, kommen Sie, kommen Sie schnell, er ist tot!«

Fanny Mere trat rasch aus ihrem Versteck hervor und eilte durch die an der Rückseite des Hauses gelegene Thür, durch den Garten und auf die Straße hinaus.

Sie war entkommen, sie hatte das Verbrechen begehen sehen. Jetzt wußte sie endlich, was man beabsichtigt hatte, und warum sie fortgeschickt worden war. Nur den Zweck des Verbrechens konnte sie nicht erraten.

Sechzigstes Kapitel

Was sollte sie mit diesem schrecklichen Geheimnis thun?

Der Polizei davon Mitteilung machen! Aber dem stand zweierlei entgegen. Erstens konnte sich die Pflegerin sehr leicht geirrt haben, als sie annahm, ihr Patient sei tot, und zweitens kam ihr der fürchterliche Gedanke, daß sie bis zu dem vorhergegangenen Tage die Pflegerin des Kranken gewesen sei, seine einzige Pflegerin bei Tag und Nacht. Was konnte den Doktor verhindern, die Schuld, ihn vergiftet zu haben, auf sie zu wälzen? Nein! Der Mann war den ganzen Morgen allein gelassen worden; am Tag vorher war jedes Anzeichen vorhanden gewesen, daß er wieder gesund werden würde. Sie hätte also bekennen müssen, daß sie sich versteckt hatte. Wie lange war sie in dem Versteck gewesen, und warum hatte sie sich versteckt? War es nicht geschehen, nachdem sie den Mann vergiftet hatte und die nahenden Schritte des Doktors hörte? Da sie selbstverständlicherweise mit den Giften und ihren Wirkungen wenig vertraut war, so schien es ihr, als ob die Thatsachen in dieser Zusammenstellung gegen sie sprächen. Deshalb beschloß sie, den Tag über ruhig in Paris zu bleiben und am Abend mit dem Dampfschiff von Dieppe aus nach England überzufahren. Die ersten, denen sie alles, was sie gehört und gesehen hatte, entdecken wollte, sollten Mrs. Vimpany und Mr. Mountjoy sein, und was sie dann ihrer Herrin sagen sollte, das sollten ihr die anderen raten.

Sie kam sicher in London an und fuhr geradenwegs in das Hotel, in welchem Hugh Mountjoy wohnte, da sie vorhatte, zuerst ihm die ganze Geschichte mitzuteilen.

 

Sie fand aber in seinem Wohnzimmer nur Mrs. Vimpany.

»Wir dürfen ihn nicht aufwecken, was Sie auch für Nachrichten bringen mögen. Seine volle Wiederherstellung hängt einzig und allein von vollständiger Ruhe ab. Hier,« – sie zeigte auf den Kaminsims – »hier liegt ein Brief von Mylady. Ich fürchte, ich weiß nur zu gut, was er enthält.«

»Was soll er enthalten?«

»Heute morgen war ich in ihrer Wohnung,« fuhr Mrs. Vimpany fort, »aber sie war nicht mehr da.«

»Nicht mehr da? Mylady war fort? Ja, wohin kann sie denn gegangen sein?«

»Nun, wohin glauben Sie wohl, daß sie gegangen sein wird?«

»Doch nicht etwa zu ihrem Gatten? Nur nicht zu ihm, es wäre schrecklich! Es wäre noch viel schrecklicher, als Sie sich denken können.«

»Sie werden mir nachher erzählen, warum das jetzt um so viel schrecklicher ist als früher. Inzwischen habe ich herausbekommen, daß dem Kutscher befohlen war, nach dem Bahnhof zu fahren. Das ist alles, was ich weiß. Ich hege indessen nicht den geringsten Zweifel, daß sie zu ihrem Gatten zurückgegangen ist. Sie befand sich immer in einer tief niedergeschlagenen Stimmung, seitdem sie nach England gekommen war. Mr. Mountjoy ist auch diesmal so liebenswürdig wie immer gegen sie gewesen, aber er war doch nicht im stande, ihren Kummer zu verscheuchen. Ob sie sich nun wirklich nach ihrem Gatten gesehnt hat, oder ob sie – ich kann das zwar kaum glauben – den Mann, welchen sie verloren, mit dem Mann, den sie geheiratet hat, verglich, das weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine, daß sie, seitdem sie aus Frankreich kam, unglücklich gewesen ist, und glaube, sie hat sich immer darüber Vorwürfe gemacht, daß sie ihren Gatten ohne hinreichende Gründe verlassen hat.«

»Hinreichende Gründe?« wiederholte Fanny. »O, gnädiger Gott, wenn sie nur wüßte! Es sind Gründe genug vorhanden, um hundert Gatten zu verlassen.«

»Nichts schien sie aufzuheitern,« fuhr Mrs. Vimpany fort, ohne die Unterbrechung zu beachten. »Ich fuhr mit ihr hinaus auf das Gut, um ihr früheres Kammermädchen, Rhoda Bennet, zu besuchen. Die Gesundheit des Mädchens ist wieder zurückgekehrt; sie steht im Begriff, sich mit dem Bruder des Pächters zu verheiraten. Lady Harry war sehr freundlich mit ihr und sagte ihr die liebenswürdigsten Dinge; sie zog sogar einen der hübschesten Ringe von ihrem Finger und gab ihn dem Mädchen. Aber ich konnte sehen, daß es sie große Anstrengung kostete, Teilnahme zu heucheln. Ihre Gedanken weilten während der ganzen Zeit bei ihrem Gatten. Ich war schon seit langem fest davon überzeugt, daß es in dieser Weise endigen würde, und ich bin daher auch nicht im mindesten überrascht; aber was wird Mr. Mountjoy sagen, wenn er den Brief öffnet?«

»Zurück zu ihrem Gatten?« wiederholte Fanny. »O mein Gott, was sollen wir dann thun?«

»Ich verstehe nicht recht den Zusammenhang Ihrer gesteigerten Befürchtungen. Was hat sich denn neuerdings ereignet?«

»Ich muß es Ihnen erzählen; ich dachte, ich würde es zuerst Mr. Mountjoy mitteilen können, aber ich muß es Ihnen jetzt sagen, obgleich – obgleich –« Sie hielt inne.

»Obgleich es meinen Gatten betrifft. Kehren Sie sich nicht daran und erzählen Sie mir ruhig alles, was Sie wissen.«

Fanny berichtete nun die ganze Geschichte von Anfang an.

Als sie geendet hatte, sah Mrs. Vimpany ängstlich nach der Thür des Schlafzimmers.

»Gott sei Dank,« sagte sie, »daß Sie diese Geschichte mir anstatt Mr. Mountjoy erzählt haben. Jedenfalls bitte ich Sie inständigst, ihn ja nichts von alledem wissen zu lassen. Wir können jetzt gar nichts thun. Nur Sie müssen sogleich wieder fort. Mr. Mountjoy darf Sie nicht hier finden, er darf Ihre Geschichte nicht hören. Wenn er erfährt, was sich ereignet hat, und wenn er dann noch den Brief von Lady Harry liest, dann wird ihn niemand und nichts davon abhalten können, ihr nach Passy zu folgen. Er wird sofort begreifen, daß sie jedenfalls in diese verbrecherische Gemeinschaft verstrickt wird, und er wird sich der größten Gefahr aussetzen bei dem erfolglosen Versuch, sie zu retten. Er ist zu schwach, um die Reise ertragen zu können, er ist viel zu schwach für die heftigen Erregungen, welche dann noch folgen werden, und vor allem viel zu schwach, um es mit meinem Gatten aufnehmen zu können.«

»Was sollen wir aber dann um Gottes willen anfangen?«

»Alles, alles lieber, als dulden, daß Mr. Mountjoy sich zwischen Lord Harry und seine Frau stellt.«

»Ja, ja, aber solch ein Mann! Mrs. Vimpany, Lord Harry war zugegen, als der Däne vergiftet wurde; er wußte, daß der Mann vergiftet wurde; er saß in seinem Stuhl, sein Gesicht war leichenblaß, aber er sagte nichts. Ich habe es kaum über mich gewinnen können, nicht hervorzuspringen und dem Doktor das Glas aus der Hand zu schlagen. Lord Harry aber sagte nichts.«

»Liebe Fanny, begreifen Sie nicht, was Sie thun sollen?«

Fanny gab keine Antwort.

»Bedenken Sie – mein Gatte – Lord Harry – keiner von ihnen weiß, daß Sie zugegen waren. Sie können daher ohne jedes Bedenken nach Passy zurückkehren, und dann werden Sie, was sich immer auch ereignen mag, zur Hand sein, um Mylady zu schützen. Bedenken Sie nur, Sie können als ihr Kammermädchen immer bei ihr sein, in ihrem Zimmer, bei Nacht, überall und zu jeder Zeit, während Mr. Mountjoy nur hie und da das könnte, und außerdem noch der Gefahr ausgesetzt wäre, mit ihrem Gatten Streit zu bekommen.«

»Das wäre er!« sagte Fanny.

»Und Sie sind kräftig und gesund, während Mr. Mountjoy schwach und krank ist.«

»Sie meinen also, daß ich nach Passy zurückkehren soll?«

»Sofort, ohne jeden Aufschub. Lady Harry reiste vergangene Nacht ab; fahren Sie heute abend, sie wird Sie dann vierundzwanzig Stunden nach Ihrer Ankunft bei sich haben.«

Fanny stand auf.

»Ich werde gehen,« sagte sie. »Wenn mich auch schon der bloße Gedanke an eine Rückkehr in dieses schreckliche Haus zu dem furchtbaren Mann schreckt, so werde ich dennoch gehen. Mrs. Vimpany, ich weiß, daß es von keinem Nutzen sein wird. Was sich in Zukunft ereignet, das wird sich ereignen, ohne daß es in meiner Gewalt steht, es zu befördern oder es zu verhindern. Ich bin fest überzeugt, daß meine Reise ganz nutzlos sein wird. Aber ich werde abreisen, ja, ich werde heute abend noch nach Passy abreisen.«

Dann gab sie das Versprechen, so bald wie möglich zu schreiben, wenn sie etwas Wichtiges mitzuteilen hätte, und ging fort.

Mrs. Vimpany horchte, allein gelassen, nach dem Schlafzimmer, aber es ließ sich darin kein Laut vernehmen. Mr. Mountjoy schlief noch. Wenn er kräftig genug wäre, dann würde es hinreichend Zeit sein, um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Sie saß nachdenklich da. Selbst wenn man den schlechtesten Gatten von der Welt hat und seinen Charakter ganz und gar kennt, so ist es doch höchst peinlich, eine solche Geschichte von ihm zu hören, wie sie Fanny ihr soeben erzählt hatte.

Einundsechzigstes Kapitel

»Er ist ganz tot,« sagte der Doktor, indem er mit der einen Hand den Puls des Toten fühlte und mit der andern Hand sein Augenlid aufhob, »er ist tot. Ich dachte nicht, daß es so schnell gehen würde. Noch vor einer halben Stunde ließ ich ihn ganz ruhig atmend zurück. Hat er noch einige Zeichen von Bewußtsein gegeben?«

»Nein, Sir.«

»Heute morgen war er so heiter. Ein so plötzlich eintretender Umschlag ist nicht ungewöhnlich bei solchen Kranken. Ich habe ähnliches schon bei vielen Fällen meiner Praxis bemerkt. Gerade an dem letzten Morgen vor dem Sterben, in demselben Moment, in welchem der Tod mit aufgehobener Sense an der Schwelle steht, ist der Kranke munter und sogar heiter; er schaut hoffnungsvoller in die Zukunft als seit vielen Monaten. Er denkt – ja, er ist vollkommen überzeugt davon, daß er wieder gesund werden wird; er sagt, daß er über kurz oder lang aufstehen und seiner Wege gehen werde; seit dem Beginn seiner Krankheit hat er sich nie so kräftig gefühlt. Dann schlägt ihn der Tod nieder, und er sinkt dahin.«

Der Doktor brachte diese Darlegung in sehr einleuchtender Weise vor.

»Jetzt bleibt nichts anderes zu thun übrig, als die Ursache des Todes zu bestätigen, die üblichen Formalitäten zu erfüllen und so die Behörden zu befriedigen. Ich werde diese Verpflichtung auf mich nehmen. Der unglückliche junge Mann gehörte zu einer hoch angesehenen Familie. Ich werde an seine Verwandten und an seine Freunde schreiben und ihnen seine Papiere übersenden, und noch eine letzte Pflicht kann ich für ihn thun: ich werde im Interesse seiner Familie und Freunde eine letzte Photographie von ihm aufnehmen, wie er auf seinem Totenbette ruht.«

Lord Harry stand in dem Hausflur und hörte stöhnend und furchtsam zu. Er wagte es nicht, in das Zimmer einzutreten; es war das Sterbezimmer. Welchen Teil hatte er daran, den vernichtenden Engel gerufen zu haben, der den Befehlen und Wünschen eines jeden zu Gebot steht, selbst des Geringsten? Rufe ihn, und er kommt! Befiehl ihm, jemand niederzustrecken, und er gehorcht!

Schwer seufzend wendete sich Lord Harry von dem ihn schier erdrückenden Bilde des Todes ab und ging aus dem Hause. Eine Stunde lang wandelte er auf der Straße weiter, dann blieb er stehen und ging wieder zurück. Wie mit Stricken zog es ihn heim, er konnte nicht länger widerstehen. Es war ihm, als ob sich etwas ereignet haben müßte. Möglicherweise fand er den Doktor arretirt und die Polizei auf ihn selbst wartend, um ihn als Mitschuldigen oder als Anstifter eines Verbrechens zu verhaften.

Er fand jedoch bei seiner Rückkehr nichts Derartiges vor. Der Doktor saß in dem Salon, und vor ihm lagen verschiedene Briefe und amtliche Formulare. Vimpany blickte vergnügt zu ihm auf.

»Mein lieber Freund,« sagte er, »das unerwartet schnelle Ende des jungen irischen Lords ist ein sehr trauriges Ereignis. Ich habe den Namen des Rechtsanwalts der Familie ausfindig gemacht und an ihn geschrieben. Ich habe ferner an seinen Bruder geschrieben als das Haupt der Familie. Ich fand auch, als ich seine Papiere durchsuchte, daß er sein Leben versichert hatte; ich habe daher der Versicherungsgesellschaft seinen Tod mitgeteilt. Ferner haben die Behörden, die in solchen Dingen ganz besonders aufmerksam und peinlich sind, die notwendigen Berichte erhalten. Morgen, wenn alle gesetzlichen Formalitäten erfüllt sind, werden wir den Verstorbenen begraben.«

»So bald?«

»So bald?! Je schneller ein Toter in solchen Fällen von vorgeschrittener Lungenkrankheit begraben wird, um so besser ist es. Der französische Gebrauch einer schnellen Beerdigung kann als gesünder als der unsrige sehr wohl verteidigt werden; andererseits gebe ich aber auch zu, daß er viele bedenkliche Seiten hat. Verbrennung ist vielleicht die beste und einzige Methode, um den Toten fortzubringen, gegen die man nichts einzuwenden hat als nur das eine: ich meine nämlich die Möglichkeit, daß der Tote durch Gift aus dem Wege geräumt worden ist. Aber solche Fälle sind selten, und sie würden auch meistens von dem Arzt, der mit der Behandlung betraut worden ist, vor oder während des Todes entdeckt werden. Ich glaube, wir brauchen nicht – aber, mein lieber Freund, Sie sehen ja so schlecht aus, hat Sie denn so etwas Einfaches, wie der Tod eines Menschen, angegriffen? Erlauben Sie, daß ich Ihnen sogleich etwas verschreibe. Ein Glas unvermischten Cognac. So,« – er ging in das Eßzimmer und kehrte mit seiner Medizin zurück – »jetzt trinken Sie das erst, dann wollen wir weiter mit einander reden.«

Der Doktor setzte die Unterhaltung in der liebenswürdigsten Weise fort, ohne daß er dabei jemals seine That und deren Folgen, die sie möglicherweise haben konnte, erwähnte. Er erzählte Geschichten aus den Hospitälern, welche von plötzlichen und unerwarteten Todesfällen handelten. Einige von ihnen behandelte er in scherzhafter Weise. Der Tote in dem nächsten Zimmer war ein Fall; er kannte noch viele ähnliche und gleich interessante Fälle. Sobald man einmal so weit gekommen ist, einen Toten für einen Fall anzusehen, dann ist nicht viel Furcht vor der gewöhnlichen menschlichen Schwachheit vorhanden, welche uns erzittern läßt in der erhabenen Gegenwart des Todes.

Draußen auf dem Korridor wurden jetzt Schritte hörbar. Der Doktor stand auf und verließ das Zimmer, kam aber schon nach wenigen Minuten zurück.

»Die Leichenträger sind da; sie sind jetzt mit der Pflegerin bei ihrer Arbeit beschäftigt. Für die anderen Menschen hat ihr Geschäft etwas Aufregendes; für sie ist es aber nichts weiter als ihre tägliche Arbeit. Ich habe auch, nebenbei gesagt, eine Photographie von dem Toten in Gegenwart der Pflegerin genommen; unglücklicherweise aber – nun, Sie werden ja selbst sehen.«

Lord Harry wendete sich ab. – »Ich will's nicht sehen, ich kann den Anblick nicht ertragen. Sie vergessen, ich war ja gerade dabei, als –«

 

»Sie waren nicht dabei, als er starb; seien Sie doch kein Narr. Was ich sagen wollte, war das: das Gesicht ist nicht im mindesten Ihnen ähnlich. Niemand, der Sie jemals auch nur einmal sah, würde glauben, daß es Ihr Gesicht ist. Der Mann – er hat uns umsonst viel Mühe verursacht – war Ihnen, als er kam, ein wenig ähnlich. Ich hatte unrecht, als ich annahm, daß diese Aehnlichkeit dauern würde. Nun er tot ist, ist keine Spur mehr davon vorhanden. Ich hätte daran denken sollen, daß die Aehnlichkeit mit dem Tod aufzuhören und zu verschwinden pflegt. – Kommen Sie, sehen Sie sich ihn an.«

»Nein, nein!«

»Verdammte Schwachheit! Der Tod gibt jedem Menschen seine Individualität wieder. Nicht zwei Menschen sehen sich im Tode gleich, wenn sie es auch im Leben gewesen sind. Gut; wir kommen also zu folgendem: Wir wollen Lord Harry Norland morgen begraben, und wir müssen eine Photographie von ihm haben, wie er auf seinem Totenbett liegt.«

»Nun?«

»Nun, mein Freund, gehen Sie hinauf in Ihr Zimmer, und ich werde Ihnen mit meinem photographischen Apparat nachkommen.«

Nach einer Viertelstunde hielt er das Glas gegen seinen Rockärmel.

»Ausgezeichnet!« sagte er. »Die Backen sind etwas eingefallen: das ist die Wirkung der Kreide und die richtige Anwendung des Schattens. Die Augen sind geschlossen, das Gesicht ist weiß, und die Hände sind ruhig ausgestreckt. Es ist wunderbar! Wer behauptet nun noch, daß es uns nicht möglich ist, die Sonne zur Lügnerin zu machen?«

Er verwendete eine oder zwei Stunden darauf, von dem Negativ eine zweite Kopie zu nehmen. Diese gab er Lord Harry.

»Wir werden morgen noch einen bessern Abzug machen; hier ist der erste.«

Er hatte ihn auf einen Karton aufgezogen und darunter den Namen geschrieben, den der Tote einst getragen hatte, mit dem Datum seines Todes. Das Bild schien in der That das Bild eines Toten zu sein. Lord Harry schauderte.

»Alles andere,« sagte er, »ist für uns von keinem Nutzen gewesen; die Gegenwart des kranken Mannes, die Verdachtsgründe der Pflegerin, sein Tod, sogar sein Tod hat uns nichts genützt. Wir hätten uns das Andenken, das schreckliche Andenken an seinen Tod sparen können.«

»Sie vergessen, mein lieber Freund,« entgegnete Vimpany gelassen, »daß wir einen Leichnam brauchten. Wir müssen jemand begraben, warum also nicht den Dänen Oxbye?«