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Und eines Tages hat der Wecker aufgehört eilig durch die Zeit zu rennen. Für Mutter Jettchen ist der Wecker gestorben.

Jetzt ist der Tod an ihre Wohnungstür gekommen, wo an der Tür das uralte Messingschild hängt, auf dem er lesen kann: ‚Henriette Bräsicke, Ww’.

Sie spürt, dass er ganz nahe bei ihr ist.

Seinen Tritt spürt Mutter Jettchen nicht auf dem Fußboden. Der Tod geht auf leisen Sohlen.

Er kann aber auch wie ein Tier sein, das im Hinterhalt lauert und irgendwem plötzlich an die Gurgel springt. Das weiß sie.

Für sie wird er nicht wie ein Tier in die Stube springen, für sie nicht!

Aber er ist in ihre Nähe gekommen.

Sie spürt ihn hinter sich, als sie heute Morgen über den leeren, hallenden Hof in ihren Flur zurückgeht.

Gleich nach dem Frühstück tastet sie sich Stufe für Stufe nach unten, beide Hände am Geländer.

Weit stößt sie die Haustür auf, zwei Schritte noch – Mutter Jettchen steht im Freien. Zum ersten Mal nach vielen Monaten, nach Jahren vielleicht, riecht sie frische Luft. Sie wundert sich, dass es im Freien wärmer ist als in der Wohnung. Sie atmet tief, trinkt Fremdgewordenes in sich hinein.

Andächtig steht sie auf der obersten Stufe zum Hof. Richtig feierlich sieht sie aus. Ja, das Geländer ist noch da. Kalt ist es, rau vom Rost. Argwöhnisch tappt sie Stufe für Stufe nach unten. Einmal, vor Jahren, ist sie gestürzt, weil Kinder ihr Spielzeug liegengelassen hatten. Heute liegt nichts mehr im Weg. Es ist alles noch so, wie sie es in Erinnerung hat.

Sie tastet über den Hof. O, sie weiß genau, in welche Richtung sie gehen muss. Ihre Füße sind behutsam wie Fühler von Schnecken. Mutter Jettchen hat die große, zweiflügelige Tür zum zweiten Hof erreicht. Liebevoll betasten ihre Fingerkuppen das Holz. Da ist die Klinke. Die vertraute Klinke zum zweiten Hof. Immer ließ sie sich leicht niederdrücken, heute klemmt sie. Mutter Jettchen hängt sich mit ihrem ganzen Gewicht daran – die Klinke rührt sich nicht.

Vielleicht kann sie die Tür einfach aufstoßen!

Sie lehnt sich dagegen, drückt mit der Hüfte, stemmt den schmächtigen Rücken dagegen – die Tür gibt nicht nach.

Mutter Jettchen ist gefangen!

Mit ihren mageren Fäusten hämmert sie auf die Tür los. Sie fleht, sie weint, sie bittet: Tür, gib doch nach!

Wie ihre Hände schmerzen! Vor lauter Verzweiflung und Ohnmacht beißt sie sich auf die Finger. Sie wischt sich über das heiße Gesicht ... Mutter Jettchen hat zu wild gegen die Tür geschlagen, in ihre Finger gebissen – ihre Hände bluten. Sie beschmiert sich den Pullover, den Rock, das Gesicht. Mutter Jettchen sieht aus, als hätte sie einen furchtbaren Kampf verloren.

Jammernd stolpert sie zur Haustür zurück. Sie stürzt einige Male, bleibt einfach liegen, rappelt sich später wieder auf.

Das Sterben in der Kronprinzenstraße greift nach Mutter Jettchen, nach der alten blinden Frau.

Der Rückweg in die Wohnung ist lang. Endlich hat sie es geschafft. Das war ihr letzter Gang, der allerletzte steht ihr bevor. Das dauert nicht mehr lange.

Hier auf dem Küchenstuhl, auf dem sie die meiste Zeit zubrachte, will sie warten. Der Tod soll sie bereit finden, bereit und willig. Darum schließt sie die Korridortür nicht mehr ab.

„Komm doch endlich herein!“ ruft sie aus ihrer Ecke am Fenster. „Warum lässt du mich so lange warten?“

Ein merkwürdiger, ein fremder Glanz ist auf ihrem Gesicht. Mit geneigtem Kopf wartet sie, die Hände übereinander im Schoß.

Es ist Frühjahr geworden.

Ein blauer, kalter Himmel liegt über der Stadt. Die Sonne strahlt, aber sie wärmt nicht. Heute Morgen lag Reif auf den Dächern und die Menschen waren missmutig, weil sie Frost von den Autoscheiben kratzen mussten.

In der Kronprinzenstraße gibt es nur noch wenige Häuser. Die meisten sind abgerissen worden. Heute ist das Haus Nummer zwölf an der Reihe. Nicht lange, und das Team um den Sprengmeister wird seine Kabel legen, es wird sich vom letzten Hinterhof nach vorne arbeiten.

„Das werden wir gleich haben!“ sagt der Sprengmeister zum Baggerführer. „Was unsere Hand berührt, das fällt in Schutt und Asche.“

Die Männer lachen.

Die, die die Wohnungen durchsehen müssen, drehen ihre letzte Runde. Anderswo haben sie Stadtstreicher darin aufgestöbert, oder einen verschreckten Hund. Einmal sogar spielende Kinder. Im Haus Kronprinzenstraße Nummer zwölf ist weder ein Stadtstreicher, noch ein Hund.

Nur eine kurze Zeit noch, dann wird der Sprengmeister das Haus Nummer zwölf zusammenfallen lassen. Er wird den kurzen Hebel in den Kasten drücken, der vor ihm steht. Das Haus wird stöhnen, krachen, und unter einer Wolke von Staub verschwinden. So schafft sich das Neue, das Stattliche Platz.

Dann gibt es einen blinden Fleck weniger im Gesicht der Stadt.

Heute muss der Sprengmeister länger warten.

Durch die Tür vom dritten Hinterhof kommt einer seiner Leute, atemlos und leichenblass und nicht fähig, zu reden.

„Chef, im dritten Hinterhof ... In der dritten Etage ... Wieder jemand, um den sich keiner gekümmert hat! Nur noch Knochen ... Wir brauchen die Feuerwehr! Nein, wir brauchen die Polizei!“

Milena

Milena kommt den Berg herunter.

Die ersten Tage, die sie im Dorf ist, wäre sie gerne hinauf gegangen, aber sie hat sich nicht getraut, und die Mutter hatte gefragt, ob sie sich in Gefahr begeben wolle oder gar den Tod suche. In diesen Tagen waren sie anders zueinander, als sie es jetzt sind: Sie saßen beisammen wie Menschen, deren jahrelange Sehnsucht in Erfüllung gegangen ist. Sie haben erzählt, weil es so viel zu erzählen gab. Sie haben sich angesehen, einander berührt, und gelacht. Milena wurde, wie die Mutter auch, von einer Woge erfüllten Glücks getragen. Die starken Gefühle der Kindheit waren es, die es für sie seit undenklichen Zeiten nicht mehr gegeben hat – diese Gefühle sind im Haus der Mutter wieder auferstanden. Für Milena ist es, als wäre ihr ein verloren gegangenes Spielzeug aus frühen Kindertagen plötzlich wieder vor die Füße gefallen. Wo sie saß oder stand, wo sie ging, überall meinte sie den weichen, streichelnden Blick der Mutter auf sich zu fühlen.

So war es in den ersten Tagen bei der Mutter in der geschundenen Heimat.

Heute ist es der letzte Tag, den Milena in der alten Heimat ist. Je näher er gekommen ist, umso schweigsamer wurde die Mutter. Sie ging der Tochter aus dem Weg, sie gab nur knappe Antworten auf Milenas Fragen. Etwas wie Entfremdung wächst zwischen ihnen. Und damit ist auch ihr das Dorf von Tag zu Tag fremder geworden. Nein, Heimat wie in der ersten Zeit ist es nicht mehr. Es ist Erinnern, ist wie eine alte Fotografie, die einmal Bedeutung hatte. Und die Mutter hat in den vergangenen zwei Wochen geholfen, dass die weichen Erinnerungen zerplatzten und zu einer unansehnlichen, zerkratzten Fotografie geworden sind, denkt Milena.

In aller Frühe ist sie heute aufgestanden und trotzdem auf den Berg gegangen. Obwohl es noch dunkel war und sie den Weg kaum sehen konnte. Sie fürchtete sich auch ein wenig, trotzdem ist sie gegangen.

Als Milena aus der Schlafkammer kam, hockte die Mutter vor dem Herd und blies das Feuer an.

‚Was willst du so früh in der Küche?’

‚Mutter, einmal muss ich doch auf den Berg!’

„Was willst du da“, knurrte die Mutter ärgerlich. „Hab ich dir nicht gesagt, dass es gefährlich ist, auf den Berg zu gehen? Da liegen Minen, da treiben sich Schurken herum!“

Ungehalten hat die Mutter den Kessel so hart ins Feuer gesetzt, dass er überschwappte.

„Anders als im Dorf ist es da auch nicht, Milena! Reicht dir nicht, was du hier ums Haus herum siehst? Wie hier, so haben sie auch anderswo alles kurz und klein geschlagen! Ach, wenn es das wäre! Nein, sie haben Frauen und Männer, Kinder und Alte wie Ratten abgeknallt oder tot geprügelt. Oder sie haben sie wie Schweine abgestochen. Sogar das Vieh, das sie nicht wegschleppen konnten, murksten sie ab, damit es nicht mehr zu gebrauchen war ... Ich sag dir: vorbei ist das noch immer nicht! Hier und da kommt es noch vor, dass sie vergewaltigen, totschlagen. Was willst du auf dem Berg? Was willst du da sehen?“

Die Mutter strich sich mit der Hand über die Gurgel, wie sie es früher beim Gänsemästen gemacht hat.

„Ich sage es dir noch einmal: Bleib hier, geht nicht auf den Berg! Geh erst recht nicht ins nächste Dorf! Weißt du, was dich da draußen erwartet? Bist doch früher auch nicht dahin gegangen. Bleibe hier, dass du heil wieder in die Staaten kommst!“

So viel hat die Mutter über eine Woche nicht mehr zu ihr gesprochen!

Milena ist doch gegangen, nicht nur, weil sie neugierig geworden war, sondern weil auch sie der Mutter ausweichen wollte. Sie ging einfach, und plötzlich steht sie oben auf dem Berg, von wo aus sie weit ins Land sehen kann.

Die Mutter kam, als sie die Tochter weggehen sah, vor die Tür und sah ihr kurz nach. Dann ging sie mit zusammengekniffenem Mund und gerunzelter Stirn ins Haus zurück. Und die Tür hat sie so fest zugeschlagen, dass Milena es hören musste.

In den Tälern liegt Dunst. Feucht ist es und kalt. Im Osten zeigt sich ein bleicher Strich am Horizont, der seine Farbe ändert, je weiter Milena aus dem Tal heraus kommt. Darin gleicht ein Dorf dem anderen, findet sie. Zerstörte Häuser, zerstörte Ställe und Scheunen. Verwilderte Gärten mit zerschossenen Bäumen, und zwischen den Trümmern trotz der Frühe ein paar Menschen und mageres Vieh. Das hat sie täglich gesehen. Auch in den Feldern hat sie nichts als den Tod gesehen. Nirgendwo Leben ...

Tot! Alles tot, wie auf einem Friedhof. Ja, das wird Damir wissen wollen, und ich werde es ihm erzählen: Wo du hinsiehst – du siehst nur den Tod!

 

Noch diesen Tag habe ich zwischen dem Tod – morgen werde ich nach Amerika zurückfliegen, wo Damir wartet, wo wir seit acht Jahren zu Hause sind.

Heute will Milena Abschied nehmen, denn sie weiß, es wird kein Wiedersehen geben. Sie will die Eindrücke sich in Herz und Gehirn ritzen, gegen Sehnsucht und Heimweh. Vor acht Jahren hat sie von der Mutter, hat sie vom Dorf anders Abschied genommen.

Da ist ihr das Herz schwer gewesen, dass sie glaubte, sterben zu müssen. Sie hat nicht gegessen, nicht geschlafen, sie hat nur Abschied genommen mit endlosen Tränen, auch mit körperlichen Schmerzen. Sie glaubte, es nicht zu überleben. Es war wie an einem Grab. Aber ich komme wieder! hat es in ihr geschrieen. Für immer komme ich zurück!

Nein, heute ist das anders. Keine Tränen, kein Schmerz, weil sie morgen das Land und die verschlossene, hart gewordene Mutter verlassen wird. Keine Trauer, keine Tränen!

Wie wird es morgen, die Mutter gegenüber am Tisch, beim Frühstück sein? Daran will sie nicht denken. Vielleicht ist die Mutter milde und von ihren guten Gefühlen überwältigt, wie in der ersten Zeit. Oder wird sie noch schroffer sein, als sie in den letzten Tagen zu ihr gewesen ist.

Milena weiß, was die Mutter hinter ihrem Schroffsein verbirgt. Sie wird es ertragen, angeschwiegen und nicht beachtet zu werden. Die Mutter war von jeher bemüht, Gefühle zu verbergen.

Über Monate hat sie sich auf meinen Besuch gefreut, sagt Milena sich. Was kommt für sie danach? Ich muss es ertragen, wenn sie vor Trauer den Verstand zu verlieren droht.

Die Mutter bestand darauf, dass Milena bei jedem Spaziergang den Hund Slobo mitnimmt. Der Hund kannte Milena nicht. Seit sie vom Wagen gesprungen, von der Mutter umarmt, bei der Hand genommen und in die niedrige, dunkle Stube geführt worden war, wich der Hund nicht mehr von ihrer Seite.

„Siehst du“, meinte die Mutter, „der Slobo mag dich. Du hast immer noch Stallgeruch an dir. Trotz der acht Jahre Amerika! Wenn du aus dem Haus gehst, dann nimm ihn zu deinem Schutz mit. Lauf nicht ins Feld. Im Feld liegen Minen. Überall haben die Halunken dieses Teufelszeug eingegraben ...“!

Hastig eilt die Mutter durch die Stube. Sie sieht nach dem Feuer, holt Geschirr aus dem Schrank, zupft an der Decke, die sie über das Sofa gebreitet hat, rührt im Topf – die Mutter möchte gleichzeitig alles erledigen. Und dabei sprudelt sie nichts anderes als Vorsichtsregeln hervor.

Milena blickt auf den Berg zurück, auf dem sie gewesen ist. Jetzt ist der Berg kahl. Früher wucherten Büsche vom Dorfrand bis auf seine Kuppe. Da oben hat sie mit den Dorfkindern gespielt. Sie haben Maikäfer von den Bäumen geschüttelt und Blumen gepflückt, Vogeleier haben sie gesucht und Fallen gestellt. Und manchmal auch Eidechsen und Nattern gefangen. Im Winter rutschten sie auf Fassbrettern, oft bis in die Dunkelheit, den Hang herunter, bis die Mütter vor den Haustüren riefen:

„Ja, wo bleibt ihr denn! Am Waldrand schleicht der Bär herum! Schnell, schnell ins Haus!“

Kreischend, mit roten Gesichtern stürmten sie vom Fleck weg ins Dorf.

Eine Zeit hat es im Jahr gegeben, da war der ganze Berg gelb vom Ginster, erinnert sie sich. Darüber stand Holunder, so dunkel unter seinen Zweigen. Versteckt in seinem Schatten, voreinander kniend haben Josip und ich uns geküsst! Mein erster Kuss ...

Milena lacht, als ihr das einfällt.

Josip, der Sohn des Lehrers, der lange, bleiche Bursche. Was hatte der für Haare! Geringelt und schwarz wie die eines Afrikaners. Kurz nach dem Kuss ist Josip verreist, in eine große Stadt, in ein Internat, hat er gesagt. Und ich wusste nicht, was das ist. Ich traute mich nicht, zu fragen!

Josip ist in unserem Dorf nie wieder aufgetaucht.

Mit beschatteten Augen blickt Milena zurück: Mein Berg, denkt sie, du Berg meiner Kindheit, meiner Jugend, meiner Geheimnisse! Ob er vom Gelb des Ginsters noch so überschüttet wird wie damals?

„Mein Berg, Dorf meiner Kindheit ...“ sagt sie laut. Für Slobo ist das ein Befehl. Er zerrt an der Leine und will gehen.

Ihr Blick streift über die sanften Hügel ringsum. Nackt sind sie jetzt, ohne Zauber. Höfe und Teile der Dörfer, die sich zu ihren Füßen ducken, sind verschwunden. Keine Menschen mehr in der Ebene, die ihren Beschäftigungen nachgehen, kein Bauer in der Wiese, der sein Heu wendet. Die Straßen ohne Ochsengespann, ohne Pferde- und Eselskarren, die sich unter einem Schleier von Staub versteckten.

Hinter ihr, im Dorf der Mutter, brüllt eine Kuh.

Ein paar zerschossene Häuser sind, so gut es ging, repariert worden. An wenigen Stellen wird neu gebaut. Männer auf dem Dach, Männer in den leeren Fenstern oder auf dem Platz davor. Ein paar Rufe, Gejohle der Kinder – neugierige und misstrauische Blicke in ihrem Rücken. Das Dorf beginnt zaghaft zu leben. Die schrecklichen Spuren des Kriegs, seine Wunden, müssen beseitigt, müssen ausradiert werden. Wer sich daran macht, der will vergessen, der ist aus einem Albtraum erwacht und hat eine Vision von neuem Leben.

Die von Einschüssen gesprenkelten Wände der Moschee und das Minarett zeigen leere, verrußte Fenster, weil Feuer gelegt wurde.

Milena schließt die Augen. Alte Bilder sind wieder da. Aber es sind stumme Bilder, etwas Bedeutsames fehlt: die Geräusche der Kindheit und Jugend, die Gerüche von Frühling und Sommer, vom Herbst, von klarer, schneeiger Luft bei ausgelassenen Spielen. Das Land ist stumm geworden und geruchlos. Was es ausströmt, das ist der Geruch von Krieg und Geschundensein, ist der Geruch des Todes. Einige Male glaubte sie des Nachts in ihrer Kammer Schüsse zu hören, kurze Schüsse weit weg. Sie ist sofort wieder eingeschlafen. Und ihr Bäume! Alt geworden und zerrissen, verwundet wie geschlagene Soldaten! Milena schlingt ihre Arme um eine halb weggeschossene Linde.

Es war an einem der ersten Abende. Sie saßen nach dem Abendbrot um den Tisch. Milena hat zum wiederholten Male von Amerika erzählen müssen; und wieder war die Mutter erstaunt und verwundert über das, was sie doch kannte. Sie sahen nach dem Feuerschein, der aus der offenen Ofentür zuckte, da begann die Mutter zu reden: davon, dass der Tod nicht nur ringsum sichtbar sei – er lauere auch in der Erde, sagte sie. Mit der Zeit wird er unbemerkt wie ein Engerling hervor kriechen und seine gierigen Kiefer nach allem, was übrig geblieben ist hinstrecken. Auch nach dem unbesorgten, neuen Leben, das heute noch über die Schwelle kriecht.

Die Mutter schlang die Arme um den Leib, als wäre sie von einem Kälteschauer überfallen worden. Sie blickte eine Weile schweigend in die Flammen, bevor sie weiter erzählte.

Vor allem wird er weiter nach den Herzen der Menschen langen, sagte sie. Das Sterben habe sich in vielem wie ein Geschwür eingenistet!

Da irren Menschen durchs Land: Serben, Kroaten, Slowenen, Albaner. Alle auf der Suche nach dem verlorengegangenen Normalen. Auf der Suche nach Sicherheit, nach Nähe, und Geborgenheit in der eigenen Volksgruppe. Völkerscharen irren umher, weil sie nicht mehr wissen, wohin sie gehören. Heimatlose Sucher im Land, das sie einmal ihr Land nannten.

Andere sind geblieben. Die Zurückkehrenden fragen: ‚Waren wir nicht Nachbarn vor jener Zeit, die uns zerschnitten hat? Lasst uns wieder Nachbarn werden.’

Du siehst, mein Kind, es ist noch Sehnsucht, noch etwas vom Guten in Köpfen und Herzen. Und hier und da setzt es sich durch, sagte die Mutter. Jedoch belauert und nicht immer verstanden.

Und hier im Dorf, hat Milena gefragt. Die Mutter machte eine Geste der Resignation.

„Keine Muslime mehr, keine Albaner. Kein Mensch, der mit einem guten Herzen denkt, denn die Zeit ist noch nicht reif für das Übliche. Darum ist es besser, wenn jeder in diesen unsicheren Zeiten für sich bleibt! Du hast nach der Zukunft der Kinder gefragt. Die Kinder, Milena, ja, was spielen die? Krieg spielen sie, weil sie klar zu wissen meinen, was das Leben, wer der Feind ist. Sie haben es zu Hause gelernt, Rachegedanken zu brüten, jetzt schon! Nein, mein Kind, auch dafür muss die Zeit erst noch reifen ...“

Milena hat noch zwei Tage abgewartet, dann erst ist sie ins Dorf gegangen, den Kopf voll von dem, was die Mutter zu erzählen wusste. Sie ging dahin, wo die Männer auf den Baustellen einander zuriefen, wo ohne Unterlass die Kuh brüllte. Unternehmungslustig ist Slobo voraus gelaufen. Manchmal blieb er stehen, sah sich um, ob sie ihm folge ...

Jetzt sind es nur noch wenige Stunden, bis dieses verletzte, geschändete und entehrte Land hinter ihr zurückfallen wird. Unter ihren Blicken wird es schrumpfen, später in ihrer Erinnerung, als gäbe es nichts von dem, was sie weiß und gesehen hat. Und weit weg wird sie wie nach einem bösen Traum aufwachen und sich in ihrer Umwelt zurechtfinden müssen. So wird es sein, sie kennt sich: Nicht mehr als ein leicht bitterer Geschmack wird ihre Vorfreude auf Damir, auf ihr Zuhause in jenem gewaltigen Land trüben. Diesen Geschmack wird sie mitnehmen, wie die Bilder, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt haben: Die Trümmer, das zerstörte Leben, und Menschen, grau wie Ratten. Was Hass anrichtet, das hat sie sehen können. Ausgeblutete Dörfer im verwundeten Land, Grindflecken auf einem Schädel.

Aber es wird sie nicht zerreißen.

Auf der Stufe sitzt die Mutter und hält Ausschau nach ihr.

„Was gibt es auf dem Berg zu sehen, dass du so lange wegbleibst“, ruft sie und beklopft Slobos Flanke, der zu ihr gerannt kam, der seinen Kopf an ihrem Knie reibt. „Dieser Hund ist nicht schussfest. Bei einem Knall kneift der den Schwanz ein und rennt. Ist er dir ausgebüchst?“

„Nein, er ist nicht weggerannt. Es hat auch niemand geschossen.“

Als Milena sich neben die Mutter setzt, knurrt sie: „Auf den Berg zu gehen! Eigensinnig warst du immer und bist es geblieben!“

Mutters Arme sind faltig und braun, und die Hände besprenkelt von dunklen Flecken. Milena möchte den Arm um ihren Hals legen, den Kopf an ihre Schulter, so wie sie es früher getan hat, als die Körperwärme der Mutter ihren kindlichen Kummer wegtröstete. Jetzt jedoch wehrt die Mutter solche Annäherungen ab.

Sie streichelt auch nicht mehr Milenas Haar, wie sie es in der ersten Zeit getan hat. Mit abgewandtem Gesicht starrt die Mutter ins Land.

Hat die Mutter feuchte Augen bekommen? Vorsichtig, weil ihr kalt geworden ist, geht Milena ins Haus.

Die Mutter bleibt auf der Treppe beim Hund, und jetzt, da die Milena gegangen und sie allein ist und nicht gesehen und gehört werden kann, lehnt sie den Kopf an die Hauswand und lässt die Tränen laufen, die sie tagelang vor der Tochter zurückhalten musste.

„Du gehst ins fremde Land, wo du schon die ersten Wurzeln in den Boden geschlagen hast, Milena. Du gehst, weil ich dir dazu geraten habe. Aber ich wollte es nicht. Siehst du nicht, wie ich leide ...“ murmelt sie in die vor das Gesicht geschlagenen Hände. „Ich muss bleiben, weil es für mich keinen anderen Ort auf der Welt gibt als diesen, mit seinen Trümmern, mit seinem Hass, wo ich vor Einsamkeit und Sehnsucht zermahlen werde! Ich bete zu Gott, dass er mir Kraft gibt, die wenigen Stunden, die du unter diesem Dach bist, noch stark zu sein, wie ich alle Tage stark sein musste und stark sein will! Alle Tage bin ich stark gewesen; alle Tage, die du an meinem Tisch gesessen hast. Wie soll ich es ertragen, morgen und die Tage danach ohne dich zu sein? Wenn du das Flugzeug bestiegen hast – Milena, diesmal ist es mein Tod. Mir ist, als würde ich spüren, wie er nach meinem Herzen greift. Wenn das Flugzeug dich morgen früh weggetragen hat, dann kehre ich in mein Grab zurück, Milena ...“

Die Mutter stößt den Kopf des Hundes von ihrem Schoß, der sie unverwandt anblickt, als spräche sie zu ihm. Sie fährt fort: „Mit den Tagen, die uns den Abschied näher brachten, Milena, ich wollte zu dir sein wie ich war, als du noch als Kind unter diesem Dach lebtest. Vier Wochen lang ist es mir gelungen. Da war ich die Mutter, die du kanntest, nach der du dich gesehnt hast. Ich spielte die, die unter der Trennung von dir nicht leidet, die hinnimmt, dass es so ist, wie es geht, die die aufkommende Wehmut, die Trauer wie Krümel vom Tisch wischt. Das Leben vollzieht sich nun einmal in Trennungen. Jetzt muss ich hart und abweisend sein, um dir den Abschied leichter zu machen. Ich weiß und sehe es, wie sehr du leidest, weil du wieder weggehen und mich in diesem kümmerlichen Haus, in diesem friedlosen Land zurückzulassen wirst. Aber daran wirst du nicht lange leiden. Ich wünsche, und es soll so sein, dass du die Trennung vom Haus, vom Ort als eine Erlösung empfindest. Für dich, Milena, trage ich noch bis morgen das falsche, das unwahre Gesicht. Das Gesicht der Abweisung und Härte. Einen Tag länger werde ich es nicht mehr tragen können ...“

 

Die Mutter schreckt zusammen: Milena ist aus dem Haus gekommen, sie hängt Handtücher zum Trocknen über den Zaun. Unbemerkt ist sie durch den halb zertrümmerten Stall, wo sie gebadet hat, ins Freie getreten.

Die Augen mit der Hand beschattend, sieht sie zum Ginsterberg hinüber, wo sie heute gewesen ist. Sie betrachtet das leere Tal, die werkelnden Männer auf den Baustellen.

Die Ellbogen auf den Knien, das Gesicht zwischen den Händen, beobachtet die Mutter sie.

Milena, wie frisch du aussiehst, denkt sie, und ganz rot im Gesicht! Wie an dem Tag, an dem du angekommen bist. War zu heiß das Bad, was? Brauchst jetzt eine Abkühlung. Ja, ja, die Hitze im Verschlag ist kaum auszuhalten. Ich bin das Waschen im Stall gewöhnt. Ein bisschen kalt ist es am Anfang, aber das macht mir nichts aus. Solltest dich, wie du es früher getan hast, mit kaltem Wasser waschen. Das ist viel gesünder, es härtet ab! Doch daran bist du nicht mehr gewöhnt, Milena. Das beugt dem Schnupfen vor, der Erkältung. Für junge Menschen gibt es nichts Besseres, als Waschen mit kaltem Wasser. Was du in deiner neuen Heimat hast, warmes Wasser, warme Räume – das verzärtelt nur und macht anfällig. Ich sah, wie du dich nach dem ersten Baden beeiltest, ins Haus zu kommen. Acht Jahre nur, und du hast vergessen, wie du einmal gebadet hast, Milena. Hier ist alles noch so, wie vor deiner Abreise. Gebadet wird immer noch im Stall. Wir haben keine extra Stube für so etwas. Uns wärmt keine Heizung – uns wärmt das Schwein, die Ziege. Früher, als wir mehr Schweine und auch Kühe hatten, da war es wärmer und angenehmer zu baden. Heute ist nur Kleinvieh im Stall, da müssen wir frieren.

Du erzähltest mir, drüben kannst du es Stunden in der Wanne aushalten. Noch dazu mit Sekt oder Wein auf dem Wannenrand!

Du lieber Himmel! Das muss man sich vorstellen! So viel Fantasie habe ich nicht!

Das ist nur in diesem verrückten Amerika möglich. Na, und außer Sekt oder Wein sitzt auch noch dein Damir mit dir im Badewasser.

Und dass du das auch noch erzählst! Ihr jungen Leute seid so ungeniert!

Milena, Milena, wie weit bist du vom Leben in diesem Dorf abgerückt! Bist in nur acht Jahren durch und durch Amerikanerin geworden!

Ich sehe kaum noch eine Seite an dir, die ich kannte und in der ich einmal lesen konnte.

Du stehst vor mir, mein Kind, und ich sehe eine Fremde. Und doch sterbe ich bei dem Gedanken, dass du weggehen wirst. Du Fremde, die meine Tochter ist ...

In dir leuchtet nichts mehr auf von dem, was mich erkennen lässt, dass du mein Kind bist. An diesem Tisch hast du einmal hartes Brot gegessen, hast aus dem Brunnen Wasser geschöpft und getrunken und konntest unter dem schweren Bett in der stickigen Kammer wie eine Katze schlafen. Milena, wo ist das geblieben? Ich habe gesehen, wie du in dem einfachen Essen herumgestochert und wie entsetzt du einen Wasserfloh aus dem Glas Brunnenwasser gefischt hast, das ich dir zu trinken gab. Was in Amerika undenkbar ist – hier gibt es nichts anderes als das, woran du dich noch erinnern müsstest. Aber das hat dein verändertes Leben aus dir herausgespült!

Und doch, meine fremd gewordene Tochter, möchte ich dich festhalten! Seit du weggegangen bist, liegt ein Stein auf meinem Herzen. Es gibt Tage, da erdrückt er mich, Milena ... da ersticke ich an meinen Tränen ...

Da stehst du am Feld. Du frierst mit deinem nassen Haar und dem dünnen Pullover. Vor Kälte bist du ganz krumm geworden und schlotterst wie ein junger Hund. Warum stellst du dich nicht an die Wand des Schuppens? Da bläst kein so ruppiger Wind.

Du weißt, dass ich dich beobachte, Milena. Sicherlich weißt du auch, was in mir vorgeht, was ich denke.

In den ersten Briefen aus Amerika hast du mir geschrieben, deine Wurzeln lägen in unserem Dorf, die lassen sich nicht ausgraben. Nein, Milena, diese Wurzeln sind vertrocknet! Ja, vertrocknet! Die Zeit heilt, sagt man; aber ich weiß: die Zeit lässt auch sterben.

Die Mutter erhebt sich und geht ins Haus, als sie glaubt, dass Milena sich zu ihr auf die Stufe setzen wird. Unschlüssig steht der Hund zwischen beiden, aber als die Mutter geht, folgt er ihr.

Als die Mutter ins Haus gegangen ist, läuft Milena in den rückwärtigen Garten. Hier setzt sie sich auf den Hackklotz vor dem aufgeschichteten Feuerholz und beginnt murmelnd zu klagen:

„Ach, Mutter! Warum hast du darauf bestanden, dass ich so viele Wochen bei dir bleibe? Mit jedem neuen Tag lässt du mich spüren, dass ich störe, dir eine Last geworden bin. Es sind nur noch wenige Stunden, bis Mirko mich zum Airport fährt.

Mutter, Mutter ... Was sind die zerschossenen Häuser, die zerfetzten Bäume, was sind die misstrauischen und abweisenden Menschen hier gegen die Wunden, die ich in meinem Herzen aus diesem Hause forttrage?“

Milena schlägt den Kopf gegen den Holzstapel, als könnte sie dadurch Antwort bekommen. Sie spürt nicht die Kälte, die sich wie Nebel auf sie gelegt hat, nicht die kleine blutende Schramme auf der Stirn – Milena spürt nur Schmerzen im Innern.

Unbemerkt ist die Mutter herausgekommen. Sie hat sich in ein großes Schwarzes Tuch gehüllt.

„Ich muss noch einmal weg“, ruft sie. „Zum Mirko.“

Gebeugt, auf einen Stock gestützt geht die Mutter ins Dorf. Sie geht ohne den Hund.

Verwundert stellt Milena fest, dass die Mutter eine alte Frau geworden ist. Gebückt und mit einem Stock hat sie sie noch nie gesehen.

An diesem Abend, der Milenas letzter ist, wird die Mutter lange fortbleiben.

Als sie nach Hause kommt, ist sie schweigsam und zeigt ein verschlossenes Gesicht.

Der Hund, der neben dem Herd auf die Mutter gewartet hat, streckt sich schwanzwedelnd. Raunend befiehlt sie ihm, auf seinem Platz zu bleiben. Das ist alles, was sie spricht. Bevor sie in ihre Schlafkammer geht, deckt sie den Tisch für das Frühstück.

Das letzte Frühstück, das Milena an diesem Tisch einnehmen wird, wird sie allein essen, denn ein zweites Gedeck ist nicht aufgetragen. Wahrscheinlich wird die Mutter schweigend, mit verschränkten Armen, sich gegen den Herd lehnend, ihr beim Essen zusehen, wie sie es gestern und die Tage davor schon gemacht hat.

„Ich gehe ins Bett“, sagt Milena. „Wir müssen morgen sehr früh aufstehen. Gute Nacht, Mutter.“

„Bis morgen“, kommt es leise.

Es ist noch dunkel, als Milena aufsteht. Die Stube bekommt ihr Licht von der offen stehenden Ofentür. Hinter dem Tisch entdeckt sie die Mutter, die ihren Mantel über der Stuhllehne hängen hat. Vor ihr steht eine leere Schüssel, darin steckt der Löffel. Die Mutter hat schon gefrühstückt.

Auf der Straße ist es stockdunkel, wie sie es in den Staaten nirgendwo erlebt hat. Es ist, als gäbe es in diesem Land nicht nur keine Laternen, sondern auch keinen Mond, keine Sterne. Sind die in verbissener Wut auch vom Himmel geschossen worden?

Eilig, stumm trägt die Mutter Milenas Gepäck in den Hof. Immer wieder späht sie in die Straße, wo Mirko bleibt. Beide Hände in die Jackenärmel geschoben, ist Milena herausgekommen. Jetzt kann die Mutter die Haustür abschließen; den Schlüssel versteckt sie an seinem Platz beim Feuerholz. Hinter der Tür winselt Slobo. Die Mutter schimpft mit ihm, und weil er nicht aufhört, wirft sie einen Holzkloben gegen die Tür.

Knatternd kommt Mirko ans Haus gefahren. Mirko ist fröhlich. Als er Milena sieht, lacht er laut und pfeift durch die Zähne und macht sich daran, das Gepäck zu verstauen.

„Alles fertig! Na, fahren wir“, kommandiert er und hält den Frauen die Wagentür auf.

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