Unter dem Ostwind

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Der Hendryk hat sich wie der Adam auch an seinen Webstuhl gesetzt, aufrecht wie eine Rohrdommel und ebenso gespannt. Der Adam raunt ihm etwas zu, worauf der Hendryk seinen Kopf schüttelt.

„Nimm Vernunft an, Ignacy. Der Meister wird mich heute Abend fragen, wie es gegangen ist ...“

„Ja, ja, ja! Und natürlich wirst du ihm alles brühwarm auftischen. Dazu hat er dich doch in den Betrieb geholt, nicht wahr, du Bluthund. Ihm alles zu erzählen, das ist deine Aufgabe, nicht wahr? Eine schöne Aufgabe hast du, das muss ich schon sagen! Andere bespitzeln, sie antreiben und schließlich beim Alten anschwärzen. Der ist noch stolz auf diese Aufgabe“, ruft Ignacy den anderen zu.

„Ignacy!“ ruft der Hendryk über seiner Arbeit. „Laß es genug sein! Gib endlich Ruhe. Lass ihn gehen.“

„Nun, halte ich ihn fest? Kann er nicht gehen, wohin er will? Ich halte ihn doch nicht! Denkst du, ich fasse so etwas mit meinen Händen an?“

Er lacht gallig. Die verzogenen und schrundigen Narben entstellen sein Gesicht und machen es zur Fratze. Schließlich, als er begreift, dass er von den anderen keine Unterstützung bekommt und allein nichts ausrichten kann, spuckt er dem Witold vor die Füße.

„Wie mich das hier alles ankotzt!“ sagt er und geht endlich auch an seinen Arbeitsplatz.

Hinter der Tür, im Flur, hört der Witold zuerst den Ignacy lachen, dann lachen auch die beiden anderen mit.

Amalie schiebt ihrem Mann den Teller über den Tisch. Er ist spät nach Hause gekommen; dass sie sich gesorgt hat, das sagt sie ihm nicht. Abwartend sitzt sie ihm gegenüber und sieht zu, wie er ißt. Als er in den Hof eingefahren ist, hat er zuerst nach dem Witold gerufen. Sie haben sich leise besprochen, dann ist er zu ihr gekommen.

Mitunter blickt der Mann sie über den Teller hinweg an, aber sie kann an seinem Gesicht nicht ablesen, ob es gute oder schlechte Dinge waren, die er mit seinem Bruder besprochen und was er erreicht hat; Jendrik lässt sie warten, und so wartet sie eben; sie kennt seine Art.

Weil das Stummsein ihr unbehaglich wird, sagt sie: „Heute hat die Rosa wieder einen schlimmen Tag. Das Mädel sagt ja nichts, aber die Tränen sind ihr vor lauter Kopfstechen nur so gelaufen ...“

„Ich habe einmal gehört“, brummt der Jendrik auf seinen Löffel. „dass sich so etwas ändern kann, wenn sie erwachsen wird. Oder auch, wenn sie ein Kind bekommen hat.“

„Jesus Maria! Soll sie bis dahin warten?“

Der Mann hebt die Schultern, dann meint er: „Die Rosa wird das ihr Leben lang ertragen müsse, Malchen, denn sie wird nie Kinder bekommen; kannst du dir einen Mann vorstellen, der einen Menschen wie die Rosa nehmen wird?“

„Sag das nicht, sie ist ein guter Mensch.“

„Ja, das ist sie. Aber der Mann müsste dann auch von demselben Holz sein. Und zwei Schwachsinnige? Wie soll das gehen? Und wenn ein anderer, ein Normaler, ein Gesunder sie nimmt, Malchen, dann wird sie es haben wie ein Hund.“

Er lässt sich den Teller noch einmal füllen, und während er zu essen beginnt, fragt sie ihn endlich: „War es ein gutes Gespräch mit deinem Bruder?“

Er nickt; damit muss sich die Frau erst einmal zufrieden geben. Später, als er auf der Ofenbank sitzt, sagt er: „Ich bin zum Umfallen müde. Was ist die härteste Arbeit in der Webstube oder im Feld gegen das Zuhören, das Rechnen, gegen angestrengtes Nachdenken! Und dann auf der Heimfahrt das Kind neben mir! Diese Fragerei, sein pausenloses Schwadronieren ... Der Junge wird vierzehn Jahre alt, aber der redet manchmal wie ein kleines Kind!“

Schweigend hat die Frau neben ihm auf der Bank zugehört, wo sie Spitzen häkelt, mit denen sie ein Kopfkissen und Tischtücher einfassen will. Das, was Jendrik vom Bertel sagt, empfindet sie wie eine Stichelei gegen sich. Nach ihrer Meinung ist dieses Kind das verständigste und zuverlässigste von allen. Außerdem ist ihr keines ihrer Kinder so zugetan wie Bertel. Und auch sie liebt ihn in einer besonderen Weise. Sie liebt sie alle, aber mit Bertel ist es noch anders. Er hat ein Gespür für das, was die Mutter empfindet, denkt die Frau, und er lässt es sie auch wissen. Liebte sie ihn nicht in besonderer Weise, dann wäre sie damals nicht derart aus der Rolle gefallen, als der Webstuhl über den Jungen hinweg rutschte.

Amalie erinnert sich, wie er nach dem Unfall ihrer Mutter zu ihr gekommen ist, um sie zu trösten. Das Kind war fünf Jahre alt, als sich dieses zutrug:

Ihre Mutter, Anna Plaschke, stammte aus der Gegend von Plock, da wo die Weichsel sich zu einem See verbreitert und man sich von einem Fährmann helfen lassen muss, um ans jenseitige Ufer zu gelangen. Die Mutter lebte abgelegen in einem niedrigen, geräumigen Haus, das inmitten eines von einem hohen Zaun gesicherten Gartens lag, bei ihrem Sohn.

Anna Plaschke hatte frühzeitig die Aufgaben der alten Frau auf dem kleinen Anwesen übernommen. Sie meinte sich darin nützlich machen zu müssen, dass sie bei Wind und Wetter mit einer Kiepe durch die Gegend streifte, um Brennmaterial für den Winter zu sammeln, so dass ihr Sohn sie anfangs ein wenig aufzog, später dann sogar mit der alten Frau schimpfte, weil er nicht wusste, wo die Äste und Tannenzapfen sicher vor dem Regen untergebracht werden sollten.

An einem Spätsommerabend ist es gewesen, dass Anna Plaschke, gebückt unter der Last ihrer Kiepe, den Hof überquerte, um hinter dem Verschlag das Gesammelte abzuladen. Langsam war sie gegangen, die tiefstehende Sonne blendete sie, darum hatte sie ihr Kopftuch weit ins Gesicht gezogen.

Im Frühjahr hatte sich ihr Sohn einen Zuchtbullen gekauft, ein wildes und kaum zu bändigendes Tier, dass er nur mit einer Stange führen konnte, die er an einem Ring befestigt hatte, den sie dem Bullen durch die Nase gezogen hatten. Außerdem war an seine Hörner eine dicke Eichenplatte gebunden, so dass er nur das sehen konnte, was er vor der Nase hatte. Ohne dass es von jemandem bemerkt worden war, hatte der Bulle im Stall die Platte vor seinen Augen zertrümmert, hatte sich losgerissen und stand in der Stalltür, verwirrt von der Weite, die er sah, vielleicht auch geblendet von der untergehenden Sonne, die er so noch nie gesehen hatte. Die alte Frau, die schräg an ihm vorüberzog, erregte ihn. Blitzschnell war er auf sie losgestürmt, schnaubend und mit gesenktem Kopf, und hatte mit der Spitze seines Hornes die Kiepe erwischt. Die alte Frau wurde einmal um die eigene Achse gewirbelt und gegen die Schuppenwand geschleudert. Dabei stieß sie mit dem Gesicht gegen einen herausragenden Nagel, der ihr das linke Auge aus dem Kopf riss. Ihr gellendes Geschrei machte den Bullen stutzig und erst einmal für einen neuen Angriff unfähig, so dass er sich wie eine harmlose und sanfte Kuh an seinen Platz führen und anketten ließ.

Die Leute waren zusammengelaufen, und irgend jemand hatte der alten Frau das heraushängende Auge wieder in die Höhle gestopft. Sie aber stand ganz krumm und wackelig da und hielt sich die Schulter und klagte über Schmerzen, die sie im Rücken und in der Brust hatte.

„Er hat sie im Rücken getroffen“, glaubte jemend von den Leuten zu wissen, der auf dem Anwesen von Amalies Bruder arbeitete; vorsichtig rieb der Mann die schmerzhaften Stellen, worauf die Frau noch mehr schrie und nach ihm schlug.

„Wir brauchen den Schäfer! Der Schäfer muss her. Wenn hier jemand helfen kann, dann nur er. So lauft doch und holt ihn!“ schrie die Schwiegertochter der alten Frau.

„Und das Auge? Mutter, was ist mit Ihrem Auge?“ fragte der Sohn. Die Alte winkte ab. Das war wohl nicht weiter schlimm gewesen. „Mutter, Ihr Auge hing heraus. Haben Sie denn da keine Schmerzen?“

„Hier, hier“, jammerte die Mutter und fuhr sich mit den Händen über die Seiten und die Schultern.

„Der Schäfer wird sofort kommen. Der wird Ihnen helfen, Mutter.“

Der Schäfer war gekommen; er legte die alte Anna Plaschke auf den Lehmboden und befühlte und beklopfte sie lange, und hin und wieder bewegte er vielsagend und auch zweifelnd den Kopf dabei. „Hier muss es sein!“, stellte er fest, drehte die Alte auf die Seite und setzte sich auf ihre Hüfte und bog sie etwas.

Anna Plaschke schrie auf und quiekte wie ein gestochenes Schwein und verlor das Bewusstsein; viele Tage lag sie da wie eine Tote. Die Kinder waren alle gekommen und saßen verzweifelt an ihrem Bett und warteten, dass sie endlich die Augen aufschlage.

Auch Amalie war gekommen, und die vier Kinder hatte sie mitnehmen müssen, den Berthold und die Adelheid, die Rosa und den Edmund, dessen erster Geburtstag in die Zeit fiel, da sie am Krankenbett ihrer Mutter saß und wachte.

Als Anna Plaschke erwachte, klagte sie nicht nur über ein Stechen und Reißen im Rücken, auch der Kopf tat ihr weh, und auf dem linken Auge konnte sie nichts mehr sehen. Sie war darauf blind geworden.

Von diesem Unfall sollte sich die alte Frau nicht mehr erholen. Wenn es möglich war, dann ließ sie sich ans Fenster führen, um mit dem gesunden Auge auf die vom Wind bewegten Bäume oder die ziehenden Wolken zu starren; aber meistens lag sie mit zusammengekniffenem Mund im Bett, das Auge bewegungslos auf einen Punkt geheftet, und wenn sie angesprochen wurde, dann ließ sie sich mit der Antwort Zeit, so dass sie oft den Eindruck erweckte, als könnte sie auch noch schlecht hören.

Die Großmutter war dem kleinen Berthold unheimlich, er fürchtete sich vor ihr und wich seiner Mutter nicht von der Seite. Wenn er nicht bei den kleinen Schwestern war, dann saß er still an Amalies Seite und wandte kein Auge von der schweigsamen, verbissen daliegenden Großmutter. Wenn es für ihn unerträglich wurde, dann schlang er seine Arme um den Hals der Mutter und versteckte sein Gesicht unter ihrer Achsel. „Mutter, bist du traurig, weil die Großmutter liegen muss?“, fragte er.

 

Amalie nickte.

„Wo tut es ihr weh?“

„Überall. Im Kopf, im Rücken ...“

„Aber die weint doch nicht. Die liegt doch ganz still, siehst du? Die schläft sogar; die Großmutter wird gesund! Du brauchst nicht mehr traurig zu sein. Du brauchst auch nicht mehr zu weinen.“

„Bertel, ich weine doch gar nicht.“

„Doch, doch!“ das Kind hatte ernsthaft genickt. „Immer, wenn du meinst, ich sehe es nicht, dann weinst du.“

Und dieser kindliche Trost rührte sie. Oft, wenn er so zu ihr sprach, dann ließ sie ihn sitzen und ging hinaus, er sollte nicht sehen, dass er es gewesen ist, der sie mit seinen unbeholfenen Tröstungsversuchen zum Weinen gebracht hat.

Das fällt der Frau jetzt ein, als sie neben ihrem Mann auf der Ofenbank sitzt und ihm zuhört, wie er in seiner Ungeduld das Kind beurteilt und an dem Jungen herummäkelt.

„Willst du mir nicht sagen, was ihr besprochen habt?“ fragt sie ihn.

„Nun, zuerst einmal dieses: ich werde für ihn arbeiten.“

Die Frau lässt die Handarbeit in den Schoß fallen, sie versteht nicht, wovon er spricht. Sie beugt sich vor: „Wie soll das gehen: du arbeitest für ihn? Hat er dir nicht seine Webstühle überlassen? Und jetzt – war die ganze Arbeit mit dem Umbauen umsonst, Jendrik?“

„Nein, nein. Wir weben hier im Haus weiter wie bisher. Aber wir weben für ihn.“

„Du willst das Tuch nicht mehr an den Juden verkaufen, sondern an deinen Bruder?“

„Ja, das will ich.“

„Sind wir vom Juden nicht gut bezahlt worden?“ fragt die Frau.

„Für gutes Tuch, gab es gutes Geld, das ist wahr. Aber mein Bruder, Amalie, nimmt uns alles ab, was wir ihm liefern! Er steckt seine Finger nicht in die Ballen und wühlt darin herum und reißt sie auf der Suche nach einem Fehler auseinander, wie andere es machen. Und du weißt, oft hatte dieser oder jener an vielen Ballen etwas auszusetzen. Ja, mit dem Anstieg unseres Ansehens trauen sie sich nicht mehr, so offen wie früher nach Webfehlern zu suchen. Aber hin und wieder wagt es doch jemand, und dann liegt die Ware hier und lässt sich nicht verkaufen und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. So, wie ich es jetzt machen werde, das, Malchen, ist richtig. – Und es wird uns nicht enttäuschen“, fügt er überzeugt hinzu.

Die Frau kann das nur schwer glauben. Sie seufzt etwas. Von dieser Abmachung mit dem Schwager hält sie zuerst nicht viel. Sie fühlt sich, als stünden sie durch diesen Handel vor einem Risiko, dessen Ausgang niemand von ihnen abschätzen kann. Sie weiß, dass der Schwager ein erfahrener und gerissener Geschäftsmann ist, und so wittert sie auch hierbei nichts anderes als einen Winkelzug, bei dem ihm die Familie seines Bruders nur nützlich sein kann. Sie sagt: „Ja, er hat seinen Gewinn im Kopf, der Stanislaus. Und damit hat er es weit gebracht. Wie kann er uns die minderwertigen Ballen abnehmen und dafür auch noch bezahlen?“

„Ich habe sein Wort, dass ich nicht verlieren, sondern nur gewinnen werde. Malchen, wenn du wüsstest, wohin seine Beziehungen reichen! Polen und Deutschland sind ihm zu klein. Seine Ware, sagt er, geht nach ganz Europa. Sogar bis nach Asien ...“

Die Frau hört ihm staunend, aber doch ungläubig zu. Neuerungen und Veränderungen, das weiß sie, haben ihr immer Angst eingejagt. Und von dieser Neuerung hängt ihre Existenz ab, die Existenz und auch die Zukunft ihrer Kinder.

„Wir sind dabei aufzubauen“, sagt sie mehr für sich. „Und ich habe Angst, dass wir stattdessen zerstören.“

„Nein, wir bauen auf, Malchen!“ ruft der Mann hoffnungsvoll und überzeugt. „Ich sage dir: wir bauen auf, wie es keiner vor uns für möglich gehalten hätte!“

„Gebe es Gott, Jendrik.“

Er ist aufgestanden. Zärtlich, wie sie es lange nicht mehr erlebt hat, umfasst er ihre Schultern. Sie riecht seinen Geruch, den Geruch eines kräftigen und gesunden Mannes, der sie früher erregen und wild machen konnte.

„Ich möchte, dass du Recht behältst, Jendrik.“

„Ich möchte das doch auch, meine kleine Wildgans. Glaube mir, wenn ich davon nicht überzeugt, wenn ich nicht ganz sicher wäre, – Malchen, ich hätte niemals eingewilligt.“

„Ich weiß nicht, ob du stark genug bist, deinem Bruder etwas abzuschlagen.“

„Stanislaus hat zu seiner Webereifabrik auch noch eine Spinnerei eingerichtet. Das wollte ich dir auch noch sagen. Alles Garn, das wir in Zukunft verarbeiten werden, wird er uns liefern. Er sagt, dass er schon halb Lodz damit versorge.“

„Das auch noch?“

„Ja, das auch noch. Ich brauche dafür einen großen, eigenen Raum.“

„Du wirst also wieder anbauen.“

„Ich muss, wenn ich das wagen will.“

„Ja, du musst. Denn du hast ja schon Ja dazu gesagt.“

„Mehr noch, meine Wildgans: ich habe unterschrieben!“

„Was hast du?“

„Ja, unterschrieben! Als ich überzeugt war, das Richtige getan zu haben, als ich ihm mein Versprechen in die Hand schlagen wollte, da hat er über mich gelacht, ja! ‚Große Geschäfte besiegelt man heutzutage nicht mehr mit Handschlag, wie es unsere Väter getan haben!‘ hat er gesagt. ‚Weißt du, Bruder, Vereinbarungen von einem solchen Ausmaß, die werden nur noch unterschrieben!‘ Ja, und dann habe ich ihm, nachdem er mir das Schreiben vorgelesen und erklärt hat, meinen Namen unter den Vertrag gemalt.“

Nein, auch dieses Großartige kann ihr noch nicht das Vertrauen in die Sache geben. Sie braucht eben ihre Zeit, sie ist nicht nur ein vorsichtiger Mensch, ist auch ein schwerfälliger Mensch. Sie weiß das. Der Mann sagt: „Malchen, jetzt wird nicht mehr angestrickt – jetzt wird auch bei uns expandiert! So nennt mein Bruder das. Ich habe mir dieses Wort gemerkt.“

Sie sieht aus, als habe sie ihm zugehört, aber mit ihren Gedanken ist die Frau woanders. Sie lässt es zu, dass er ihr Gesicht zwischen die Hände nimmt und es zu sich aufhebt. Bekümmert sagt sie: „Wenn wir die Kraft dazu haben ... Dein Bruder, ja, der hat sie. Und seine Frau, die Antonya, die hat sie auch. Aber wir, Jendrik? Einen solchen Sprung, den hat niemand vor uns gewagt.“

„Wie sollst du das alles auch sofort verstehen können, du kleine Wildgans, du? Ich verstehe es ja auch nicht ganz.“

„Siehst du – und das macht mir Sorgen.“

„Das sind unnötige Sorgen, die du dir machst, Malchen, nichts als unnötige Sorgen. Wir haben meinen Bruder an der Seite!“

„Ich möchte ihm auch so vertrauen können bei der Sache, wie du ihm vertraust. Aber, Jendrik, auch der Gescheiteste macht Fehler.“

Kapitel 5

Wie die Frau mit dem letzten Kind, dem kleinen Siegismund, umgeht; immer trägt sie den schweren Jungen mit sich herum, sie hütet und sie bewacht ihn alle Augenblicke. In der Nacht steht sie einige Male auf und schleicht an seine Wiege und tastet ihn unter seinen Kissen ab, um sich zu vergewissern, dass nichts geschehen ist während der Zeit, die sie geschlafen hat. In einem länglichen Weidenkorb, mit dem sie sonst die Wäsche auf die Bleiche trägt, schleppt sie das Kind mit in den Garten und stellt es in einer Furche ab; und wenn es sich bewegt, dann läuft sie zu ihm und sieht in den Korb. Zuweilen reißt sie den Jungen an sich und durchwühlt das Bettzeug, ob sich nicht heimlich eine Ratte eingeschlichen hat, wie es bei ihrer zweiten Schwester, die einen Bauern in der Gegend von Lubiec geheiratet hat, vorgekommen ist:

Es ist in der Erntezeit gewesen. Alle waren sie auf das Feld gegangen. Das jüngste Kind von Amalies Schwester, ein Mädchen von einem knappen Jahr, hatte die Schwester bei ihrer Schwiegermutter zurückgelassen, einer Frau, die in gewissen Abständen den Wodka brauchte, um, wie sie meinte, in diesen für sie besonders schweren Zeiten, das Leben ertragen zu können.

Als die Schwester am Abend von der Arbeit zurückkam, fand sie die Schwiegermutter betrunken vor der Haustür im Dreck liegend, neben sich den ausgestreckten Hund und eine ausgelaufene Wodkaflasche, und in der Stube lag das wimmernde Kind in seiner Wiege. Ganz bleich fand die Schwester es, und das Kopfkissen war nass von Tränen und vom Speichel.

Als die Schwester es auf den Arm nahm, sprang eine Ratte unter den Kissen hervor. Sie hatte dem Kind die Zehen des rechten Füßchens weggefressen.

Konnte dasselbe nicht auch ihrem Kind, dem kleinen Siegismund, passieren? Die bucklige Wanda hat für sie Unheil prophezeit, als sie mit diesem Kind schwanger gegangen ist, von der Nachtschwalbe hat sie gesprochen. Trägt die Nachtschwalbe, wenn sie tun muss, wozu sie ausersehen ist, nicht die Gestalt jedes beliebigen Tieres? Hat sie vielleicht auch am Tod der Zwillinge ihre Hände im Spiel gehabt? Wenn ein Wort in die Welt hineingesprochen worden ist, wenn es in das Ohr eines Menschen gesagt wurde und ins Herz hinein fiel, wo es wie ein Samenkorn auf seine Stunde wartet – ist es dann noch ein bloßes Wort? Nein, dann ist es mehr. Dann ist es schon bereits ein keimendes Ereignis. Im Ohr, im Kopf und im Herzen eines Menschen verfestigt es sich zur Wahrheit und zur Wirklichkeit.

Amalie wieß das, aber Jendrik, der lacht nur über solche Gedanken und hält das für Spinnerei.

Jetzt kann Jendrik auch das nicht mehr - über ihre Befürchtungen lachen. Wenn er ihre Sorge um das Kind bemerkt, dann wird er geradezu wütend und hart gegen sie, noch härter, findet die Frau, als er es in den letzten Monaten gewesen ist.

„Wenn du mich doch verstehen wolltest!“ klagte sie einmal. „An dem Tag, an dem der Siegismund gekommen ist, habe ich zwei Kinder verloren! Zwei, Jendrik! – Und hast du vergessen, was die bucklige Wanda gerufen hat?“

„Was? Diese alte Hexe? Dass die meschugge ist, das weiß doch jeder hier! Wie kann man nur ernst nehmen, was die den langen Tag diesem und jenem ins Ohr brabbelt!“

„Was hilft mir das gegen meine Angst?“

„Nun höre mir einmal zu: hilft dir das vielleicht, dass du dich verrückt machst und den Bengel Tag und Nacht nicht einen Moment aus den Augen lässt? Dass du nicht mehr schläfst und auch bei den Mahlzeiten keine Ruhe hast? Dass du nicht mehr in die Kirche gehst, weil du das Kind wegen seines Plärrens nicht mitnehmen kannst? – Malchen, du hast für nichts mehr Zeit. Für dich nicht, für mich nicht, für die Kinder ...“

„Du und die Kinder – ihr braucht mich nicht mehr!“ hat sie gerufen.

„So? Martha, Natalie, und auch die Rosa – die brauchen dich nicht mehr?“

„Nein, nicht wie der Siegismund!“

„Malchen!“

Plötzlich ist sie rot geworden, sie kniff Lippen und Augen zusammen und schrie ihn an: „Ich habe schon zwei verloren! Dieses Kind will ich behalten! Es wird mein letztes sein! Hörst du! Nach dem Siegismund wird es kein Kind mehr geben! Darum tue ich, was ich für richtig halte! Mich bringt nichts davon ab, diesem Kind die Liebe zu geben, die ich den Zwillingen nicht mehr geben durfte!“

Dem Mann hat es die Sprache verschlagen; die Frau hat ihn in all den Jahren noch nie angeschrieen. Jendrik brauchte eine Zeit, bis er ihr antworten konnte. Ungehalten fährt er sie an: „Wo du gehst und stehst, schleppst du den Jungen wie eine Äffin mit dir herum. Und mager bist du geworden, seitdem wir dieses Kind haben. Krank siehst du aus, Amalie. Vielleicht bist du es sogar. Mein Eindruck ist: nicht nur dein Körper ist krank, sondern auch in deinem Herzen bist du krank! Und das alles nur, weil dieses Kind dich so an sich bindet, dass dir keine Luft mehr zum Atmen bleibt. Es frisst dich auf und saugt dich aus, und du hilfst ihm dabei! Du machst dich lächerlich, Amalie. Ja, lächerlich!“

Aufgebracht ist er gegangen und hat die Tür krachend zugezogen. „Höre gut zu!“ schrie sie hinter ihm her. „Noch einmal: dieses Kind ist mein letztes! Dass du es weißt: es wird keine anderen mehr geben!“

Am Abend dieses Tages ist Jendrik lange, lange beschäftigt gewesen. Erst als sie schon fest geschlafen hat, ist er ins Bett gekommen. Wiederum traf es sich so, dass sie vor ihm schlafen gegangen und durch nichts mehr aufzuwecken gewesen ist.

Als Jendrik die Schlafstube betritt, spürt er einen starken Widerwillen, eine ganze Nacht neben dieser undurchschaubar gewordenen Frau, mit der er gute wie schlechte Tage zu teilen versprochen hat, zuzubringen. Für Sekunden muss er nachdenken, was vorgefallen war. Dann fällt ihm alles wieder ein. Was sie ihm ins Gesicht geschrieen hat, schürt Wut in ihm, sogar Ekel gegen diesen Körper unter den Kissen.

Abgewandt liegt er am äußersten Rand seines Bettes und wartet auf den Schlaf. Ach, wenn er doch endlich einschlafen könnte! Seit Stunden liegt er nun schon neben ihr; er hört sie atmen, manchmal spricht sie sogar unverständliches Zeug; ihr tiefes, ihr gleichmäßiges Atmen, ihr Gelalle – es ist für Jendrik kaum zu ertragen. Und er daneben muss es anhören und aushalten! Die Schlafkammer ist eng, so eng, dass er meint, darin erdrückt und erstickt zu werden. Wie wird es sein, wenn sie beide morgen früh aufstehen? In jedem wird Wut und auch Scham stecken. Sie werden sich bemühen, den anderen nicht anzusehen, sie werden kein Wort miteinander sprechen; schweigend und dumpf vor sich hinstarrend, werden sie mit den Kindern frühstücken.

 

In den vergangenen Monaten, so kommt es Jendrik vor, leben sie nicht mehr miteinander, sie leben nebeneinander; und wenn er sich ihr schüchtern nähert, wenn er ein zärtliches Wort zu ihr sagt, dann nimmt sie es hin, wie sie Wind und Regen im Garten hinnimmt; und gestern hat es sich entladen wie bei einem plötzlichen Gewitter; Amalie hat ihn angeschrieen, dass er von ihr nichts mehr erwarten kann, und damit hat sie erkennen lassen, was sie noch für ihn empfindet.

Was zwingt mich, hier neben ihr liegen zu bleiben und mich von ihren Geräuschen quälen zu lassen, fragt Jendrik sich. Der Groll wird anwachsen und zu Hass werden und Gedanken, die man keinem Menschen anvertrauen möchte, werden einem die Ruhe am Tage und in der Nacht nehmen.

Es wäre erträglicher, wenn jeder für sich sein könnte, wenigstens für eine gewisse Zeit. Egal, was gemunkelt wird, denkt Jendrik, einen Versuch sollte man wagen ... Nur einen Versuch.

Die beiden kleinen Fenster werfen einen bleichen Lichtfleck in die Stube, sie werfen ihn gerade auf Amalies Hände, die aussehen, als gehörten sie einem Toten.

Tod, die Stille, in der sich alles auflöst, die guten wie die bösen Tage, geht es ihm durch den Kopf ... bis dahin aushalten und darauf warten? Von wem kann ein solches Versprechen gefordert werden, was sie beide vor Jahren einander vor dem Altar gelobt haben: bis dass der Tod euch scheidet?

Jendrik atmet schwer. Kann ein junger, durch Sehnsucht und Wahn aus den Fugen geratener Mensch erahnen oder gar erfassen, was in diesen Worten alles eingeschlossen ist? Nein! Nicht einmal der, der altgeworden ist und abgeklärt, den das Leben durch Erfahrung geschliffen hat.

Es legt sich etwas um Jendriks Hals und schnürt ihm die Luft ab. Sein Inneres wird gepresst und es treibt ihm die Tränen in die Augen.

Ganz leise steht Jendrik auf und verlässt die Schlafstube und setzt sich auf die Bank im Hof, bis er steif vor Kälte geworden ist. Als er es nicht mehr aushalten kann, tappt er wieder ins Haus zurück. Die restliche Nacht wird er auf der Ofenbank zubringen.

Jetzt muss Amalie einsehen, dass Jendriks Entschluss, mit Stanislaus zusammenzuarbeiten, richtig gewesen ist.

Gegen Ende Juli ist ein ein Fuhrwerk aus Lodz gekommen und holte alle Stoffballen ab, die Jendrik, die drei ältesten Kinder und die polnischen Arbeiter gewebt haben. Unbesehen hat Stanislaus alle Ballen genommen, und Jendrik bekam gutes Geld dafür, mehr, als er jemals von anderen Händlern bekommen hätte.

Ja, sie hätten auch die beiden anderen Webstühle aus Lodz brauchen können. Aber die waren nicht mehr zu bekommen, Stanislaus Erdmann hatte sie an einen Polen verkauft, der in das Webergewerbe einsteigen wollte.

Ganz überraschend ist Stanislaus heute wieder mit dem Fuhrwerk nach Zdunska Wola gekommen, um selbst eine Ladung Tuch abzuholen.

Die Brüder sitzen auf einem Holzstapel, der hinter den Räumen, in denen die Webstühle stehen, noch von dem alten, vom verstorbenen Siegismund aufgeschichtet worden ist.

„Wenn du unter deinem Dach die Weberei tatsächlich ausbauen, wenn du expandieren willst“, rät Stanislaus seinem Bruder, „dann sieh zu, dass du dir andere Webstühle hinstellst. Webstühle, wie ich sie mir habe kommen lassen, Webstühle aus England. Man nennt sie Schussspulenwechsler, und sie werden durch Elektrizität betrieben. Ich habe dir gesagt, was die zu leisten imstande sind! – Nun, ihr habt bei euch noch keine Elektrizität. Aber auch dafür ließen sich Wege finden!“

„Und wo soll ich das Geld dafür hernehmen? – Weißt du, in dieser Weise zu denken, das jagt mir große Angst ein! Mir wird schwindelig, wenn ich mir das ausmale, Stanislaus!“

„Nicht Angst – Kredite brauchst du, Bruder. Anders geht es nicht.“

„Nein. Kredite, das sind Schulden! Und Schulden sind mir ein Greuel. Keiner von den Erdmanns in unserer Stadt hat sich jemals auf so etwas eingelassen!“

„Das ist wahr. Weil sie es nicht kannten und sich mit dem begnügten, was sie besaßen! Wir Geschäftsleute, und dazu, Bruder, zähle ich dich auch, denn du hast ja bereits den Weg dahin eingeschlagen – wir Geschäftsleute müssen die Zeichen der Zeit verstehen lernen! Und wir müssen stets bereit sein, Wagnisse einzugehen.“

Der Stanislaus spricht von diesen ungeheuren Dingen, als spräche er vom Normalen eines ganz normalen Lebens, ja, als wäre das nichts anderes als Kleinigkeiten, als Lappalien.

Sie müssen ihre Augen mit den Händen beschatten, weil die untergehende Sonne sie blendet. Beide hören dem Schlagen und Stampfen der arbeitenden Webstühle zu. Erst wenn die Hausfrau zur Abendmahlzeit rufen wird, wird es hinter der Mauer still werden.

„Sag einmal, Bruder“, beginnt Stanislaus nach einer Weile. „Hast du nie daran gedacht, deine Kinder in die Schule zu schicken? Heute ohne Schulbildung – was haben sie da für Chancen? Wie sollen sie diesen Betrieb, den du aufgebaut hast, halten? Und die Aussichten, auf dem Markt bestehen zu können, die sind für sie noch geringer, wenn sie Analphabeten bleiben.“

„Der Edmund geht zur Schule“, sagt Jendrik.

„Und die anderen?“

Jendrik weicht aus. „Die Rosa taugt nicht für so etwas.“

„Nein, die Rosa nicht, das ist wahr. Aber die beiden ältesten, der Berthold und die Adelheid, die hättest du in die Schule geben können.“

„Der Berthold will nicht“, sagt Jendrik verlegen. „Er sagt, wenn er nur alles vom Handwerk versteht, dann ist das genug. Er hat nicht zur Schule gewollt ...“

„Er wollte nicht? So? Nun, er wird nicht wollen, weil du und Amalie es auch nicht wolltet.“

„Ich brauche ihn da drinnen.“

„Es gibt genug Arbeiter, Bruder, die auf einen Wink von dir warten.“

„Ja. Die wollen einen guten Lohn sehen.“

„Und deine Kinder?“

„Sie erben das einmal.“

„Da hast du nicht sehr weit gedacht, Bruder“, sagt Stanislaus ernst. Er ist aufgestanden, sein Schatten fällt auf den sitzenden Bruder, so dass sein Gesicht nicht voll zu sehen ist.

Jendrik senkt den Kopf, er starrt auf seine Füße.

Nach längerem Schweigen fährt Stanislaus eindringlich fort: „Jendrik, wir sagen: Polen, das ist unsere Heimat. Ja, das ist es auch. Denn wir haben in diesem Land gebaut und ihm ein anderes Gesichtr gegeben. Wir haben nicht nur für uns und für unsere Kinder gebaut, sondern auch für dieses Land, für die Bevölkerung. Aber Bruder, wir sind dennoch keine Polen. Wir sind Deutsche. Wir sprechen die Sprache unserer Vorfahren, und wir sprechen die Sprache der Polen. Wir pflegen, was uns mit den Polen verbindet und uns zu Polen macht, und wir pflegen, was unsere Vorfahren aus Deutschland mitgebracht haben. Einerseits unterscheiden wir uns kaum von den Polen, weil wir nicht nur die polnische Sprache und Musik als unsere ansehen und lieben, sondern weil wir auch ihre Sitten oder Besonderheiten angenommen haben, alles das, was wir gebrauchen können, was uns gefällt.

Dagegen pflegen wir immer noch das, was unseren Vorvätern wichtig gewesen ist, auch wenn es da, wo sie hergekommen sind, nichts mehr gilt oder untergegangen ist.

Es könnte einmal die Zeit kommen, Bruder, dass man uns daran erinnern wird, dass wir keine rechten Polen sind. Und dann? Es könnte geschehen, dass die Achtung, dass das Ansehen, das die meisten von uns bei den Polen genießen, umschlägt in Ablehnung, vielleicht sogar in Hass!

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