Unter dem Ostwind

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Die alten Braczinskis sind angelangt und müssen absteigen. Die alte Frau beugt sich über Amalie und streichelt kichernd ihren Leib. „Jak dlugo to jeszcze potrwa? (Wie lange wird es noch dauern?)“ zischelt sie in ihr Ohr.

„Okolo Czterech tygodni (Ungefähr vier Wochen).“

Die Alte lacht laut und nickt befriedigt, und umständlich steigt sie vom Wagen herunter.

„Jetzt wird es Zeit, dass ich die Wiege ausbessere und dass ich die Bemalung erneuere“, sagt Jendrik, als sie weiterfahren.

„Wie willst du das machen, Jendrik? Du schaffst das nicht. Wenn du sie nur so weit herrichtest, dass sie wieder schaukelt.“

„Nein, nein, das muss alles sein. Jedes Kind, das du in die Wiege gelegt hast, hat eine frisch bemalte Wiege gehabt.“

„Dies ist nun unser neuntes Kind“, spricht die Frau mehr zu sich selbst. „Und alle sind sie uns geblieben, Jendrik. Das ist doch ein Segen.“

„Ja.“

„Jendrik, ich habe mir gedacht: wenn es ein Junge wird, dann soll er nach deinem Vater genannt werden.“

„Das hätte ihn sehr gefreut, Malchen“, sagt der Mann und sehr aufrecht und voller Stolz kutschierte er das Gespann nach Hause.

Kapitel 4

Das erste Gespann mit einem Webstuhl ist aus Lodz angekommen.

Es ist ein klarer, ein warmer erster Junitag, und die Luft ist noch erfüllt vom Geschwirr und Gesang der Vögel. Im Westen drängen Haufenwolken über den Horizont. Sie machen das Land klein und heben den Himmel weit hinauf. Die Kastanien, die Erdmanns Haus umstehen, leuchten mit ihren Blütenkerzen, und die Birken färben sich in ein satteres Grün. Die Straße ist leer heute, jeder hat bei diesem prächtigen Wetter im Garten oder im Feld zu tun. Nur ein paar Hunde lungern an den Zäunen entlang. Als aber das Fuhrwerk mit seiner aufsehenerregenden Ladung über den staubigen Schotter knirscht, werden die Menschen neugierig, sie lassen alles stehen und liegen und schließen sich dem Wagen an, um zu sehen, bei wem der Webstuhl abgeladen wird.

„Ja, Jendrik, willst du dir eine Fabrik bauen? Du hast doch mehr Webstühle als wir.“

„Ja, ja, aber sie genügen mir nicht!“ lacht er. „Ich mache es wie in der Kinderstube: ist etwas zu klein geworden, dann wird ganz einfach angestrickt!“

„Er will ein feiner Herr werden wie sein Lodzer Bruder!“ bemerkt ein anderer.

„Das gute Land hinter deinem Haus, Jendrik! Willst du alles zubauen?“

„Jetzt, da der Alte tot ist, wird alles umgekrempelt. Ja, ja, so machen es die Jungen! Sie haben doch keinen Respekt vor dem Erbe der Väter.“

„Wer macht das nicht? Habt ihr es anders gemacht, als euch das Erbe eurer Väter zugefallen ist? Ich sehe, dass sich Haus für Haus verändert, dass es sich vergrößert hat!“, antwortet Jendrik ihnen ruhig, ohne sich herausfordern zu lassen, und stößt das Tor zum Hof auf, dass die paar Hühner, die da herumlaufen, aufgescheucht und gackernd durcheinander fliegen und die kleine Natalie so sehr erschrecken, dass sie laut zu schreien anfängt.

Jendrik setzt das verängstigte Kind auf der Schwelle des Hauses nieder, wo es von der Adelheid in den Arm genommen und beruhigt wird.

„Der erste Webstuhl ist angekommen“, erklärt er seiner Frau, die das Geschrei des Kindes und die Erörterungen der Leute auf der Straße herbeigerufen hat.

„Malchen, schick mir den Witold heraus!“

Jeder Arm ist wichtig, sie müssen alle mit anfassen, um den Webstuhl von dem Fuhrwerk zu bekommen. Auch der Älteste, Berthold, wird herausgerufen, um zur Stelle zu sein, wenn er gebraucht wird. Die Unruhe auf dem Wagen hinter ihnen, das Fluchen der Männer, die Rufe und Schreie machen die Pferde nervös, sie wollen mitsamt dem Fuhrwerk und den Männern darauf die Flucht ergreifen.

„So bindet den Gäulen doch die Beine zusammen, zum Kuckuck!“ schimpft einer. „Die gehen durch! Und dann wird es ein Unglück geben.“

Jemand bindet den Tieren die Vorderbeine zusammen, das macht sie aber noch unruhiger. Bei jedem etwas lauteren Geräusch gehen sie mit dem Hinterteil in die Höhe und treten gegen Wagen und Deichsel.

Amalie sieht von der Tür aus zu. Sie trägt die immer noch schluchzende Natalie auf dem Arm, nein, sie hat sie eigentlich mehr auf ihrem unförmigen Leib sitzen.

„Was sucht denn der Berthold dazwischen?“ fragt die Mutter. „Wie kann der dabei nützlich sein?“

Sie bekommt keine Antwort, weil niemand sie beachtet.

Jendrik hat angeordnet, dass glatte Baumstämme an der Rückseite des Wagens befestigt werden, auf denen der Webstuhl zu Boden gleiten soll. Vorsichtig bugsieren die Männer ihn dahin, sie hebeln mit Stangen und sie schieben ihn und halten ihn an den Seilen, die sie um den Webstuhl geschlungen haben. Zentimeter für Zentimeter bewegen sie ihn auf die glattgeschälten Baumstämme zu.

„Alle auf den Wagen!“ brüllt Jendrik. „Alle an die Seile! Alle, hab ich gesagt! Vorsicht da unten! Fertig?“

„Fertig!“ rufen die anderen.

„Gut, dann los: eins, zwei, drei ...“

Der Webstuhl liegt auf den schrägen Stämmen, ohne sich zu rühren.

„Wir müssen eine glattere Bahn haben. Sag, Jendrik, sollen wir den Wagen und die Stämme nicht mit Seife oder Fett einschmieren? Dann flutscht das Ding von alleine“, rät einer der Männer.

Jendrik blickt den Mann an, wie er die Kinder anschaut, wenn sie Unsinn reden; stattdessen kommandiert er: „Drückt doch mit einer Stange nach! Aber vorsichtig! Nein, hier, an dieser Seite.“

Unten zwischen den beiden Baumstämmen, auf denen der Webstuhl zu Boden gleiten soll, taucht plötzlich der Berthold auf; er zeigt nach oben und ruft: „Der Webstuhl hängt an einem Ast fest! Hier vorne!“

„Was sucht denn der Bengel da? Mach, dass du da unten fortkommst!“ brüllt der Vater außer sich.

In diesem Augenblick hören sie etwas wie ein Aufstöhnen. Einer der beiden Stämme gibt nach, es knackt und reibt und der Webstuhl donnert nach unten und zieht die Männer an den Seilen vom Wagen herunter.

„Berthold!“ schreit Amalie. „Bertel! Großer Gott ...“

Fast hätte sie die Natalie vom Arm fallen lassen, wenn die Adelheid es ihr nicht abgenommen hätte. Sie läuft, so schnell sie mit ihrem dicken Leib laufen kann, in das Knäuel der übereinander liegenden Männer.

„Bertel!“ schreit sie.

„Mutter, hier ...“ Der Junge taucht seitlich unter dem Wagen auf. „Es ist nichts passiert, Mutter ...“

„Du, du ...“ Amalie ist vor Schreck kreideweiß geworden. Sie befühlt seine Schultern, seine Arme und streicht über seinen Kopf.

Und plötzlich holt sie aus und schlägt ihn mehrmals links und rechts ins Gesicht, und dabei schreit sie: „Wie kannst du nur, du verdammter Satan! Willst du dich umbringen? Oder willst du mich umbringen? Mich so zu erschrecken!“ Und immer noch ohrfeigt sie den Jungen und schüttelt ihn, dass er hin und her fliegt.

Doch plötzlich schlägt Amalies Laune um; zusammengesunken und überwältigt kniet sie vor ihm nieder, umschlingt seinen Körper und reißt den sich windenden Jungen an sich.

„Bertel, mein Bertel, warum tust du mir das an?“

„Malchen, dein Mann ... Er blutet!“ ruft jemand aus dem Haufen.

Jendrik rappelt sich auf die Beine. Er hält den rechten Arm an sich gepresst. Der Ärmel ist aufgerissen, die Frau kann eine lange, stark blutende Wunde sehen.

„Was ist passiert. Jendrik!“ ruft sie entsetzt.

„Nichts. Ein Riss. Etwas Blut ...“

Sie läuft nach einem Lappen, den sie um den verletzten Arm wickelt. „Du brauchst Hilfe.“

„Nein“, wehrt der Mann ab. „Ein Riss, sage ich. Nichts weiter. In zwei, drei Tagen ist das vergessen. Ich spüre ihn nicht einmal.“

„Der Junge wäre beinahe erschlagen worden“, klagt sie unter Tränen und wendet sich ab, dass keiner der Fremden ihr Gesicht sehen kann.

„Der Schreck war Lehrgeld genug. Er hat’s begriffen.“

„Jendrik, du weißt, was mir oft in den Sinn kommt. Ob das etwas zu bedeuten hat?“

„Aber!“ Der Mann lacht sie an und tätschelt ihr vor allen Männern die Wange. „Ein kleines Malheur ... Ach was! Eine Nichtigkeit, nicht mehr. Nun mach dir nicht wieder schwere Gedanken! – Männer!“ ruft er in die Runde. „Darauf müssen wir uns einen Wodka genehmigen!“ Als sie ihn alle mit ihren Gläsern umstehen, fragt er seinen Gehilfen: „Witold, und du?“

„Nun, einen kleinen möchte ich schon auf Euer Wohl trinken, Meister.“

„Ich habe mit dir meine Pläne, Witold.“

Der Gehilfe macht ein ratloses Gesicht, dann wird er verlegen und bekommt rote Ohren, als wollte der Meister ein Geheimnis preisgeben.

„Wenn du alles begriffen hast, wenn du gelernt hast, was du als guter Weber wissen musst, dann, Witold, sollst du bei mir der erste Mann werden!“, sagt Jendrik, und jeder, der auf dem Hof ist, kann es hören.

Dem Jungen glühen die Ohren noch mehr, man könnte glauben, sie schwellen an und wollen gleich platzen, und vor Aufregung beginnt seine Hand zu zittern, dass er etwas vom Wodka verschüttet.

„Magst du darauf mit mir trinken, Witold?“

Der Junge nickt.

„Gut. Na, dann – Na zdrowie!“

„Auf Euer Wohl, Meister.“

Später sagt Amalie ihm, dass die Zwillinge so merkwürdig geworden seien. Sie erbrechen oft, und immer, wenn sie sie hochnehme, dann seien sie heiß wie frischgebackenes Brot aus dem Ofen.

„Sie haben Fieber“, sagt er. „Hast du keinen Holundersaft mehr?“

„Nein. Ich habe im letzten Jahr keinen Holunder pflücken können. Du weißt, dein Vater ...“

„Dann solltest du in die Stadt gehen und Rat holen.“

„Jendrik, da ist noch etwas“, sagt sie. „Auch in mir rumort und brennt etwas, das mich krank macht. Zuerst habe ich geglaubt, dass die Zwillinge es von mir bekommen hätten. Aber ich stille sie lange nicht mehr.“

 

„Bei dir, Malchen, wird das von der Schwangerschaft kommen. Und die Kleinen, die werden sich schon wieder erholen. So kleine, so schwächliche Kinder wie die Zwillinge, die kränkeln leichter als die robusten.“

Die Frau gibt sich damit zufrieden. Sie wird noch ein paar Tage warten. Vielleicht erholen die Kleinen sich, und alle Sorge ist umsonst gewesen. Wenn sie aber wieder einmal mit der Frau Pastor Wohlgethan zusammentrifft, dann wird sie sich von ihr Rat holen. Man sagt, dass sie eine wissende und in Krankheiten erfahrene Frau sei, obwohl sie noch so jung ist, und dass sie schon so manchem Ratsuchenden geholfen habe. Außerdem verstehe sie sich auf allerlei Kräuter. Im Osten, so munkeln welche, habe sie eine leitende Stellung in einem Krankenhaus gehabt. Die Frau des Pastors, davon ist jetzt mancher überzeugt, der sie näher zu kennen glaubt, sei ein wahrer Segen für die Gemeinde.

Vier Tage später standen die beiden anderen Webstühle in Erdanns Haus; um beim Abladen keine Schwierigkeiten wie beim ersten Male zu haben, hat Stanislaus gleich eine Rotte von Arbeitern, wie er es nannte, mitfahren lassen. Es sind durchweg Polen gewesen, etwas unterwürfige und freundliche Männer, die mit den Kindern scherzten und der Hausfrau mit Ehrerbietung begegneten. Jedoch waren für die Arbeiter diese Erdmanns in Zdunska Wola ebenfalls Grafen und vornehme Leute, vielleicht nicht ganz so vornehm wie jene, in deren Diensten sie stehen. Denn diese Erdmanns bewohnten keine Villa, sondern nur ein behäbiges großes Bauernhaus, dessen Dach mit Stroh gedeckt ist und nicht mit roten Ziegeln, die man zu einem hübschen Muster legen kann.

Manchmal lugte einer von ihnen durch die Tür, wo es für ihn ungewöhnliche Dinge zu entdecken gab. Und als Amalie sie am Nachmittag zur Vespermahlzeit ins Haus bitten wollte, da lehnten sie es ab.

„Mit diesen Füßen“, erklärte einer von ihnen und streifte seinen Galoschen ab, um ihr seinen erdigen und schwieligen Fuß zu zeigen, „mit diesen Füßen – nein, mit solchen Füßen mögen wir nicht in Euer Haus kommen.“

„Du brauchst die Schuhe nicht auszuziehen“, sagte Amalie.

Der Mann blieb fest. Er winkte lachend ab. „Nein, nein, mit Schuhen kommen wir erst recht nicht in diese feine Stube. Das machen wir nicht! Wir sind nur ganz einfache Leute, und tragen Euch Schmutz ins Haus.“

Sie hockten sich an die Hauswand und aßen da, und Erdmanns Kinder standen daneben und sahen zu.

Diese zusätzlichen Webstühle haben das Leben in Erdmanns Haus verändert. Es ist lauter geworden, und die neuen Weber, die Jendrik geworben hat, sind polnische Arbeiter, wie er sie bei seinem Bruder an den Maschinen gesehen hat. Es ist für ihn nicht leicht, die Männer anzulernen, denn anfangs haben sie nicht begriffen, was von ihnen erwartet wurde. Ihre Ungeschicklichkeit brachte Jendrik und auch den Gehilfen Witold oft zur Verzweiflung und ließ sie ärgerlich werden. Wurde ihnen etwas erklärt, dann nickten sie verstehend und lachten, als brächte man ihnen altbekannte Kindereien bei. Waren sie aber auf sich selbst gestellt, dann blieb Verwirrung, ja, dann blieb das Chaos nicht aus.

„Jagt sie weg, Meister“, hat der Witold geraten. „Sie werden es nie begreifen. Und wenn sie es doch begriffen haben, glaubt mir, dann geht es im Schlendrian weiter.“

„Ja, Witold, du hast es ja auch gelernt. Und vom gemächlichen Trott hast du dich auch nicht anstecken lassen. Nicht wahr?“

Was sollte der Gehilfe darauf antworten? Er ist doch auch ein Pole, daran ist er erinnert worden. Ihm war, als wäre er auf eine feine, aber schmerzende Weise gerügt worden.

Schweigend machte der Witold sich wieder an die Arbeit. Oft schämte er sich der anderen polnischen Webergehilfen, die, wenn der Meister nicht im Hause war, jede Gelegenheit nutzten, zu faulenzen. Dann standen sie beisammen, oder sie gingen an die Luft, ja, sie setzten sich sogar in einen stillen Winkel und spielten Karten. Der Witold hatte dann das Gefühl, für sie mitarbeiten zu müssen.

Wenn der Meister ihn erst zum Aufseher in der Weberei gemacht hat, dann wird er damit aufräumen! Ein frischer Wind wird unter seinen Landsleuten blasen. Alles will er daransetzen, ihnen mehr Zucht und Eifer beizubringen.

Dazu ist der Witold fest entschlossen.

Eines Abends, die untergehende Sonne scheint durch die Baumkronen und ihr Licht fällt wie grelle, leuchtende Stäbe und Bündel aus den Wolkenlöchern auf die Erde, steht der Witold beim Stall. Seine Arbeit hat er getan und sein Abendbrot gegessen. Der Meister und die Frau sitzen noch lange am Tisch, weil die Kinder sich Zeit lassen mit ihrem Brei, um das Schlafengehen hinauszuzögern. Heute hat der Witod die Adelheid durch den Hof in den Garten gehen sehen, tänzelnd und leicht wie ein Fohlen, das auf die Wiese läuft. Er sieht sie oft hier draußen, und jeden Tag sitzt er bei den Mahlzeiten mit ihr an dem großen Tisch in der Stube, und manchmal kommt sie wegen irgendeiner Sache zu ihm gelaufen, um ihn zu befragen - aber noch nie hat er das Besondere an dem Mädel bemerkt, es noch nie mit diesen Augen angesehen, mit denen er sie in den Garten hüpfen sieht. Dem Witold ist, als sähe er dieses Mädel zum ersten Male.

Staunend bemerkt der Witold an diesem Sommerabend, welche Wirkung auf seine Seele nicht allein die Adelheid hat, sondern ein alltäglicher Sonnenuntergang und dass in ihm etwas geweckt wurde, das er nicht kennt und ihn mit einer guten Wärme überschüttet, die er noch nie in sich gespürt hat und für die er keinen Namen weiß.

Durch das geöffnete Stubenfenster hört er die Frau mit den Kindern sprechen. Während dieser Schwangerschaft spricht sie leiser als sonst, aber manchmal kann sie laut werden, und ihre Stimme klingt böse, dann ist der Edmund gemeint, der sich wieder einmal bei irgendeiner Angelegenheit durchsetzen will, der bockig und aufsässig wird und der der Mutter ungezogene Antworten gibt.

Ohne es zu wollen, geht der Witold ins Feld. Er geht dahin, wo die Sonne untergeht, wo sie auf der Oberfläche der Warthe schimmernde Goldplatten schaukeln lässt.

Beim Gehen reißt er Wiesenschwingel aus und kaut den Halm bis zur Ähre, und wenn er den Speichel nicht mehr im Mund halten kann, dann spuckt er ihn mit seitwärtsgedrehtem Kopf in hohem Bogen ins Feld.

Den Witold hat etwas gepackt, und er weiß nicht, was es ist.

Amalie sorgt sich um die Zwillinge. Sie essen nicht und weinen auch nicht mehr. So oft die Frau die Kinder aus dem Bettchen nimmt, findet sie sie in ihrem Kot. Sie bleiben in ihren Kissen liegen, wie sie sie hingelegt hat, apathisch und ohne Bewegung und sehen sie nicht mehr an, wenn sie sich über sie beugt. Ihre Augen sind trübe und glasig und hängen an einem Punkt, den nur sie sehen können. Sie hatten es immer gern, wenn sie ihnen etwas vorsummte oder ihnen ein Liedchen vorsang und dabei mit den Fingern Figuren in die Luft malte. Jetzt hören sie es nicht mehr, sie sehen an der Mutter vorbei oder sie sehen durch sie hindurch.

Amalie traut sich kaum noch, die Kinder aufzunehmen, so heiß sind sie. Und wenn sie eins auf den Arm nimmt, dann hängt es wie ein schlaffes Tuch vor ihrem Leib.

Einmal ist die bleiche Rosa in die Stube gekommen, ohne dass Amalie sie bemerkt hat. Die Mutter drückte ihr Gesicht auf die heiße Stirn Gotthards, und dabei weinte sie lautlos vor sich hin.

„Mutter, sterben die?“ fragte die Rosa hinter ihr.

Amalie schreckte zusammen. „Sterben? – Ja, bist du denn ganz verrückt geworden!“, schrie sie und ohrfeigte das Mädchen, dass es vor Entsetzen in die Kniee ging.

„Sag das nicht noch einmal“, drohte sie leise, mit tonloser Stimme. „Hörst du! Ich will das Wort nicht wieder hören! Nie wieder!“

Rosas Gesicht war noch bleicher geworden, und ihre tiefliegenden umränderten und geröteten Augen schienen noch tiefer in den Schädel gesunken zu sein; Sie rührte sich nicht, sie stand nur da und blickte die Mutter voller Entsetzen an; Amalie hatte dieses Kind niemals geschlagen.

So leise, dass die Mutter es kaum hören konnte, sagte das Kind: „Aber beim Großvater ist es auch so gewesen. Und dann ist er gestorben und wurde ins Loch getan ...“

Amalie sackte vor dem Kind auf die Knie und umfasste den dürren zitternden Körper. Ganz steif stand die Rosa da und ließ es zu, dass die Mutter wie wild ihre Arme um sie schlang, dass sie ihren Kopf gegen den Bauch des Kindes presste und wie ein Hund aufheulte.

„Meine Rosa“, schluchzte sie. „Mein Herz, ich habe das nicht gewollt. Keine Schläge ... Verzeih mir, bitte. Keine Schläge, nein ...“

Und etwas später, als sie sich beruhigt hatte und wieder aufgestanden ist, sagte sie zu dem Kind herunter: „Später wirst du das verstehen können, mein Kind, später, wenn du erwachsen bist, wenn du Angst um eigene Kinder haben wirst.“ Damit ließ sie die Rosa stehen und ging aus dem Zimmer, ohne noch einmal nach den Zwillingen zu sehen.

In der Stube fällt sie auf die Bank, als wäre sie niedergeschmettert worden oder hätte eine gewaltige Arbeit verrichtet. Ihre Hände im Schoß verhaken sich ineinander, dass die Knöchel ganz weiß hervortreten.

Plötzlich springt sie in die Höhe, sie reißt die Tür auf und schreit in den Hof: „Jendrik! Jendrik! Du musst sofort in die Stadt. Die Zwillinge ...“

Als der Mann vor ihr steht, verschwitzt und dreckig, sagt sie: „Hilf mir, Jendrik, hilf den Kindern, sie sterben ...“

Zuerst begreift er nichts; er wischt sich die Stirn und kratzt seine gebräunten Arme. „Wer stirbt, Malchen?“

„Die Zwillinge“, stöhnt die Frau, und vor lauter Leid fällt sie auf einem Stuhl ganz in sich zusammen, dass der Mann fürchtete, sie werde im nächsten Augenblick auf den Boden stürzen.

„Soll ich die Pastorin holen?“, fragt er.

„Sie brauchen einen Arzt ... Ach, vielleicht auch den Pfarrer.“

Amalie hört nicht, wie Jendrik die Pferde anschirrt und gleich danach den Hof verlässt. Sie hört auch nicht, dass der Witold dem Meister etwas hinterher ruft; sie rauft sich die Haare wie eine Wahnsinnige.

Und plötzlich schießt wieder jener Schmerz durch ihren Leib. Sie möchte schreien, möchte eins der Kinder rufen, aber dieser gewaltige Schmerz, dieses Bohren und Stechen, diese Flamme, die da in ihr aufgeschossen ist, schlägt ihr die Beine weg, und mit einem gurgelnden Laut stürzt die Frau hin ...

„Sie hat doch schon so viele Kinder geboren“, hört Amalie eine Fraustimme sagen. „Und jetzt leidet sie solche Qual. Da muss doch etwas geschehen sein, als sie sie empfangen hat. Wisst Ihr etwas?“

„Nichts“, hört Amalie Jendrik sagen. Seine Stimme ist heiser und sie kommt von weit her. Ein Mensch mit einem fremden Geruch beugt sich über ihr Bett, sie kann einen Schatten erkennen und die Wärme des fremden Gesichts ganz dicht an dem ihren spüren.

Dann fällt sie wieder in ihre Träume zurück.

Himmel, da kommt die bucklige Wanda angeschlurft, ihre Nase tropft in den brabbelnden schwarzen Mund. Die Alte trägt einen Stern, einen blutroten sengenden Stern, der mit seinem Licht alles verglüht, was links und rechts von ihr am Wege steht. Die Alte brabbelt vor sich hin und kichert vergnügt, als sie Amalie hinter dem hohen Lattenzaun entdeckt; die Wanda ruft ihr etwas zu, aber sie kann es nicht verstehen. Sie möchte ins Haus flüchten und stößt sich von den Latten des Zaunes ab, doch ihre Beine bleiben fest an der Stelle wo sie steht, als wäre sie angewachsen.

Amalie ruft nach ihrem Mann, sie ruft nach dem Berthold und dem Witold. Sie schreit, weil sie auch ihre Hände nicht von den Latten losreißen kann. Nicht nur ihre Beine, auch die Hände sind wie angewachsen. Sie schreit und schreit – aber es ist keiner da, der sie hört und ihr zu Hilfe kommt. Die alte Wanda lacht noch verrückter, sie streckt einen Arm aus und hält ihr eine Nachtschwalbe hin, ein struppiges halbnacktes Vieh, blau- und rosafarben, das wie aus Katzenaugen unverwandt zu ihr herüberstarrt.

Eine fremde, bewegte Stimme sagt: „Geben Sie ihr das. Sie muss es morgens, mittags und abends trinken. Und achten Sie darauf, dass sie im Bett bleibt. Sie darf nicht aufstehen. Ihre Frau braucht Ruhe, unbedingte Ruhe!“

Von Jendrik hört Amalie ein schwaches „Ja, ich merke mir das: morgens, mittags, abends ... Ja, ja.“

„Und die Zwillinge“, fährt die fremde Frauenstimme fort, „Herr Erdmann, die lassen Sie da liegen, wo wir sie hingelegt haben. Und jetzt – bitte, kommen Sie nach nebenan, da können wir unbefangener sprechen.“

Ihr Mann und die Frau mit der unbekannten Stimme und dem fremden Geruch entfernen sich.

 

Amalie liegt wieder allein; das, was sie von der buckligen Wanda geträumt und das, was sie gehört hat, das verwebt sich zu etwas Dunklem und Bedrohlichem. Ihre Gedanken gehen durcheinander, halb sind es Phantasien, halb sind es die Geschehnisse, die hinter ihr liegen und auch das, was sie wahrnimmt. Und alles kommt von dieser Flamme in ihrem Leib, die ihr blindwütiges, versengendes Brennen verloren hat, die aber als eine beständige, gleichbleibende Glut weiter brennt.

Durch die Hälfte des kleinen Fensters fällt das Licht der untergehenden Sonne bis auf Amalies Gesicht. Zuerst wagt sie nicht, die Augen zu öffnen, sie bringt das Licht mit der Flamme in ihrem Innern in Verbindung. Dann vernimmt sie leise Tritte; jemand geht auf nackten Füßen durch ihr Zimmer und nähert sich ihrem Bett.

„Jendrik?“ fragt sie.

Am Fußende ihres Bettes taucht Rosas krankes Gesicht auf. Die geröteten, verklebten Augen blicken wie suchend in der Stube herum, und als sie sich auf die Mutter richten, ist ihr, als wäre in diesem Blick ein stiller Vorwurf.

„Rosa, mein Kind, was machst du hier?“

Das Mädchen lacht albern und zeigt auf den Stuhl neben dem Bett. „Sitzen, da.“ Sie zeigt auf den Stuhl, setzt sich aber breitbeinig auf Amalies Bettkante.

„Du sollst bei mir sitzen? Wer sagt das?“

„Der Vater.“

„Wo ist der Vater?“

Wieder lacht das Mädchen und erhebt sich. „Draußen. Er muss kommen ...“

„Warum soll er kommen, Rosa?“

„Ich darf nicht sprechen.“

„Warum denn nicht?“

„Weiß nicht. Er muss kommen.“ Das Kind will gehen, doch mit einem Mal schlägt es seine lange Schürze vors Gesicht, als wollte es nicht gesehen werden oder nichts sehen, oder als müsste es weinen.

„Rosa! Was ist? Weinst du?“

„Nein.“

„Warum versteckst du dein Gesicht?“

„Nur so ...“ sagt das Mädchen schnell und patscht auf seinen nackten Füßen aus der Stube, um den Vater zu holen.

„Malchen“, flüstert gleich darauf der Mann neben ihrem Bett. „Wie geht es dir? Hast du immer noch Schmerzen?“

Die Frau nickt und lächelt dabei. Sie schiebt das Deckbett etwas zur Seite, dass er sich zu ihr setzen kann. „Sie sind auszuhalten“, sagt sie.

„Die Pastorin Wohlgethan war hier. Und auch der Arzt.“

„Der Doktor?“ ruft sie erstaunt. „Jendrik, was das kostet!“

„Nichts, Malchen, nichts. Mein Bruder hat ihn geschickt und auch bezahlt.“

Sie überlegt. Dann sagt sie: „Dein Bruder ist doch ein guter Mensch, Jendrik.“

„Ich bin froh, dass es dir etwas besser geht. Weißt du, dass du hier drei Tage ohne Bewusstsein gelegen hast?“

Nein, sie schüttelt den Kopf. Ihre knochige Hand streicht über die Stirn. „Drei Tage?“ fragt sie.

Sie überlegt wieder, und dabei wird ihr Gesicht von vielen Falten überzogen. „Jendrik, warum hast du der Rosa verboten, mit mir zu sprechen?“

„Nun, du kennst sie doch! Sie hat einen kleinen Verstand. Sie hätte dir die ganze Zeit nur mit ihrem Kinderkram zugesetzt und dir keine Ruhe gelassen, Malchen.“

Die Frau versucht, sich im Bett aufzurichten, und sofort treten Schweißperlen auf ihr Gesicht. Sie schaut bittend zu ihrem Mann auf. „Jendrik, was ist mit den Zwillingen?“

Der Mann schaut durchs Fenster. Er lässt sich Zeit mit der Antwort. Die Frau wartet, dann fragt sie wieder: „Die Zwillinge, Jendrik.“

„Nun ja“, spricht er zögernd gegen die Scheiben. „Da hat sich nicht viel geändert. Es ist noch so, wie es gewesen ist.“

„Hol sie mir.“

„Malchen, das geht nicht, weil sie eine ansteckende Krankheit haben. Sie müssen für sich bleiben. Niemand soll zu ihnen, niemand!“

Die Frau fällt in die Kissen zurück. Sie starrt gegen die Decke und atmet schwer, und unruhig geworden reibt sie die Hände.

„Sie brauchen mich, Jendrik. Ich bin doch die Mutter.“

Er sagt nichts darauf, er steht nur da mit hochgezogenen Schultern und starrt durch die Scheiben ins Land. Er möchte gehen und sie allein lassen, aber er darf jetzt nicht gehen. Plötzlich beginnt der Mann zu zittern. Sein Kopf schlägt gegen das Fensterkreuz und ganz leise beginnt er zu weinen.

„Sie sind tot ...“ sagt die Frau hinter ihm.

Der Mann schüttelt den Kopf. „Malchen, sie werden aber sterben, alle beide.“

„Sterben? Was ist es, Jendrik?“ fragt die Frau ganz ruhig.

„Der Arzt sagt, sie haben die Ruhr.“

Wieder denkt sie nach, bevor sie ihn fragt: „Und wo sind sie? Wo habt ihr sie gelassen?“

„Wir haben sie in den Stall bringen müssen, dahin kommen die anderen Kinder nicht.“

„In den Stall? Mein Gott, dahin?“, flüstert die Frau.

„Natalie und Martha, und auch die Rosa – Malchen, wir konnten sie nicht von den Zwillingen fernhalten.“

„Mein Gott ...“ stöhnt sie. „Wenn es denn sein muss ... Wenn nur die anderen sich nicht anstecken.“

„Nein, wenn sie nicht zusammenkommen, oder wenn sie nichts anfassen, was von den Zwillingen kommt ...“

„Jendrik, wer kümmert sich um die beiden?“

„Die Küsterin Klingseil hat ihre ledige Schwester kommen lassen, die, die bei Sieradz wohnt. Du wirst sie kennen, Malchen: die kleine hüftlahme Jadwiga. Die mit dem schiefen Gesicht. Erinnerst du dich?“

„Jadwiga? Die?“ Die Frau runzelt ihre Stirn; das Nachdenken fällt ihr so schwer; gegen die Zimmerdecke starrend fragt sie nach einer Weile: „Sag, Jendrik, kann die das überhaupt?“

„Ach, Amalie, wenn du sie sehen könntest! Sie ist so liebevoll. Sie pflegt sie, als wären es ihre eigenen.“

„Das beruhigt mich ... Ja, das ist gut. Nun ja, die Klingseil ... Die weiß doch immer Rat. – Was ist die Klingseil doch für ein prächtiger Mensch“, fügt sie hinzu und dreht sich auf die Seite.

Später, als Jendrik allein in der Stube sitzt, hört er seine Frau wie ein Tier in der Schlafstube stöhnen und ächzen.

Den ganzen Tag liegt Amalie mit dem Gesicht zur Wand, ohne mit jemandem zu sprechen. Sie ißt und sie trinkt nichts, ja, es sieht aus, als bewege sie sich nicht mehr.

Und nach den Zwillingen fragt sie nicht.

Drei Tage später hilft ihr Emma Klingseil, die Küsterin, einen gesunden Jungen auf die Welt zu bringen, den sie, wie es besprochen war, nach seinem Großvater ‚Siegismund’ nennen.

An diesem Tag sind auch die Zwillinge auf ihrem Strohlager im Stall gestorben. Die hüftlahme Jadwiga hat die beiden während dieser Zeit keinen Moment aus den Augen gelassen. Erst als sie sich mit einem Spiegel und einem Gänsefederchen davon überzeugt hatte, dass sie nicht mehr atmeten, ist sie aufgestanden und hat das letzte getan, das noch getan werden musste: sie hat, nachdem sie die Kinder in ihre Särge gelegt und die Särge verschlossen hatte, das Stroh, die Decken und die Kleidung der Kinder verbrannt. Das, was in der Nähe gestanden hat und noch gebraucht wurde, das hat die hüftlahme Jadwiga in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen, um die todbringenden Keime zu vernichten. Danach hat sie sich selbst gereinigt; sie hat ihre Hände und Arme geschrubbt, bis sie ganz rot geworden sind, und hat ihre Kleidung und die Schuhe gewechselt und das Getragene in eine Gummidecke geschnürt und ist gegangen.

Im Ort ist es sehr schnell bekannt geworden, dass die Zwillinge an der Ruhr gestorben sind. Die Ruhr, so meinen die Leute, sei ebenso schlimm wie die Cholera. Darum findet sich keiner aus der Nachbarschaft, der an der Beerdigung teilnimmt. Stellen nicht alle, die unter dem Dach der Erdmanns leben, eine Gefahr dar? Es ist ratsam, vorsichtig zu sein und sie zu meiden; das versteht jeder, entschuldigt sich der eine beim anderen; und die Erdmanns müssen es auch verstehen.

So werden die kleinen Zwillinge in einem traurigen Leichenzug zu Grabe getragen, an dem neben dem Vater und den beiden ältesten Kindern, Berthold und Adelheid, nur die Küsterin, die hüftlahme Jadwiga und die Frau des Pastors teilnehmen.

Amalie wird lange im Wochenbett liegen, so dass sie mutlos wird und insgeheim Jendrik an ihrem Leiden die Schuld gibt; sie hat weder die Zwillinge noch dieses Kind gewollt, denn nach der Rosa hat sie sich während jeder Schwangerschaft krank und alt gefühlt, und sie fragt sich, ob sie sich von der Geburt dieses Kindes noch einmal erholen wird.