Unter dem Ostwind

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Kapitel 3

„Der Winter dauert aber in diesem Jahr lange“, klagen die Leute.

Um Feuerholz zu sparen, gehen die Armen, die kein Waldstück haben, jetzt schon wieder Tannenzapfen sammeln, mit denen sie, wenn sie abgetrocknet sind, den Ofen heizen. Trotz der an manchen Tagen mörderischen Kälte hacken die alten Männer in den Höfen Holz. Sie lassen das Beil in der Sonne blinken, arbeiten wie wild, dass die Scheite nach allen Seiten spritzen. Später schichten sie die Kloben an den Hauswänden bis zum Dach hin auf, dass die Fenster wie tiefe Augenhöhlen wirken.

Abseits der Straßen und Wege liegt noch alter Schnee, grau und von Flecken bedeckt, als habe eine Krankheit sich ausgebreitet.

Die Krähen, die sich diesmal nicht von den Dörfern verabschieden können, lassen vermuten, dass der Winter sich noch weit bis in den Frühling hineinziehen wird.

Jendrik ist damit beschäftigt gewesen, die Webstube zu vergrößern. Er hat die Wand zwischen der Stube seines Vaters und dem Stall ausgebrochen. Als er den Lehmputz und das Flechtwerk entfernte, da beschlich ihn das Gefühl, etwas Unerlaubtes getan zu haben. Ihm war, als würde er am Vermächtnis seiner Vorfahren fleddern. Seine Frau stand die ganze Zeit schweigend dabei und sah zu. Jendrik hat von ihr Gejammer und Vorwürfe erwartet, die seine Unentschlossenheit, seine Schuldgefühle nur noch verstärken würden. Aber Amalie hat nur zugeschaut und geschwiegen, die Arme über den schweren Leib gelegt.

„Geh hinein“, hat er schließlich gesagt, weil er es nicht mehr ertragen konnte, sie dabei zu haben. „Es ist zu kalt für dich ...“

Ihn ärgert, dass sie schon wieder schwanger ist. Und diesmal hat er es so spät bemerkt. Er musste erst darauf gestoßen werden! Auch darüber ist er verärgert.

Der Gemischtwarenhändler Herschel Sylberstein meinte zu ihm, als er ein Paket Nägel von fünf Zoll kaufte, um damit lose gewordene Balken zusammenzunageln: „Was willst du denn mit diesen langen Nägeln anfangen? Für eine Wiege brauchst du sie nicht. Eineinhalb Zoll vielleicht. Und Leim, Jendrik Erdmann. Aber nicht solche Nägel!“

Am Abend hat er sie dann ausgefragt, er wollte vor allem wissen, wann dieses Kind kommen werde.

„Im frühen Sommer.“

„So, im Sommer. Dann wirst du wieder jemanden brauchen, der dir hilft.“

„Ich brauche niemanden. Ich werde meine Arbeit schon schaffen. Bei den anderen Kindern habe ich auch niemanden gebraucht.“

„Dann sind die Zwillinge gerade ein Jahr alt.“

„Ich stille sie schon lange nicht mehr.“ Und dabei hat sie etwas geseufzt.

Seit Jendrik mit seiner Frau und den Kindern aus Lodz zurückgekommen ist, hat er darauf gebrannt, mit dieser Arbeit beginnen zu können. Arbeit, dachte er, muss man mit den Händen tun. Arbeit, wie mein Bruder sie macht, befriedigt nicht. Nur über Planungen und Anweisungen sitzen, den Leuten auf die Finger schauen ... Nein, solche Arbeit fordert nicht genug von mir. Stanislaus’ Arbeit macht ihn nur für unsinnige und verderbliche Dinge empfänglich. Das ist fast wie Müßiggang; damit macht er sich selbst und anderen das Leben schwer.

Wie hat Jendrik darauf gewartet, mit dieser Arbeit beginnen zu können! Jeden Morgen sah er nach dem Wetter, ob es sich nicht bald ändern werde. Und jeder Morgen ließ ihn wissen, dass es noch nicht so weit ist.

„Mit deiner Unruhe kannst du auch mich verrückt machen“, hat seine Frau geklagt. „Vielleicht soll es nicht sein, dass du Vaters Stube niederreißt.“

Das konnte ihn ärgerlich machen; aber er antwortete ihr nie darauf.

Im frühen März, in den Vertiefungen der Äcker und in den Wäldern lag noch Schnee, ging Jendrik daran, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.

In den ersten Tagen stand Amalie da und sah zu, wie Jendrik die Mauer in seinem Elternhaus niederriss und die tragenden Deckenbalken abfing.

Einmal fragte sie ihn: „Drei Webstühle also willst du hier noch unterbringen? Ja, der Platz ist schon da – aber das Geld dafür, Jendrik?“

„Mein Bruder gibt mir Webstühle. Wenn es sein muss auch vier oder fünf. Er hat sich neue kommen lassen. Ich glaube aus Frankreich oder aus England.“

Er ist auf sie zugegangen, sah ihr fest ins Gesicht, als er die Antwort auf ihre Frage gab: „Sie kosten uns nichts, Malchen. Gar nichts!“

„Uns wird aber der Stall fehlen“, wandte sie ein.

„Wir machen es so, wie man es schon immer mit diesem Haus gemacht hat und wie du, Malchen, es mit den Kindersachen machst: wir stricken an!“ Jendrik lachte dazu, so dass auch sie wieder einmal laut lachen musste. Darauf machte er sich wieder erleichtert an die Arbeit. Das, so dachte er, genügt ihr; Amalie ist zufrieden, vorerst wird sie nichts mehr dazu sagen. Denn die Frau machte kehrt und ging ins Haus zurück, schwerfällig und schaukelnd wie ein behäbiges Tier.

Von Tag zu Tag fällt Amalie die Arbeit schwerer.

Sie steht auf die Hacke gestützt hinter dem Zaun und sieht ins Land. Die Bäume fangen an grün zu werden, sie leuchten gegen den wässerig blauen Himmel, an dem unbeweglich ein paar Wolkenfetzen hängen. Die Luft ist erfüllt vom Gesang der Vögel. Es ist noch sehr früh. Sie muss die ersten Stunden des Tages nutzen, wenn sie etwas schaffen will. Die geringsten Arbeiten laugen sie aus, und zu arbeiten gibt es von früh bis spät genug. Darum verrichtet sie zuerst das, was ihr die meisten Kräfte abverlangt.

Gartenarbeit hat sie immer tief befriedigt, auch jetzt in diesem Zustand. Aber sie geht ihr nicht so leicht von der Hand wie sonst. Amalie muss häufig längere Pausen einlegen.

Im Haus hört sie die Kinder. Wenn sie im Frühjahr oder bei schlechtem Wetter im Garten zu tun hat und die Kleinen nicht dabei haben kann, dann öffnet sie stets eins der Fenster auf einen Spalt, um verfolgen zu können, was die in der Stube treiben.

Langsam, mit gesenktem und baumelndem Kopf, kommt die bucklige Wanda die Straße herauf. Sie ist auf dem Weg ins Feld oder in den Wald, um die ersten brauchbaren Blätter, Stengel oder Knollen für ihre Tees zu sammeln, auf die sie schwört, weil sie damit allerlei Krankheiten heilt. Trotz ihres hängenden Kopfes entgeht ihren Augen nicht, wo sich jemand aufhält, mit dem sie ausgiebig plaudern oder tratschen kann.

Mit beiden Händen hält die Wanda sich am Lattenzaun fest und streckt sich in die Höhe.

„Du bist stark wie bei allen letzten Kindern“, sagt sie und rollt bedeutungsvoll mit den Augen. „Diesmal wird es wieder ein Junge werden, das sieht man.“

Amalie wischt sich die Stirn, sie lacht. „Ob Junge oder Mädchen - wenn es nur gesund ist.“

Die bucklige Wanda winkt Amalie zu sich heran, als wollte sie ein Geheimnis loswerden. „Du musst achtgeben“, raunt die Bucklige. Ihre krumme Hand legt sich wie ein Tier auf Amalies Bauch. „Ich habe einen Stern gesehen, Amalie. Kein guter Stern, kein guter ... Wann wirst du dein Kind auf die Welt bringen?“

Amalie stößt die Hand weg. „Im Sommer. Im Juni wird es sein“, sagt sie ärgerlich.

„So, so. Weißt du, dass das die Zeit der Nachtschwalbe ist? Keine gute Zeit, ein Kind auf die Welt zu bringen. Ich rate dir: geh nicht in den Wald! Meide ihn. Du weißt, da ist die Nachtschwalbe zuhause. Sie hat Macht über die Kinder, ja auch schon über die ungeborenen ...“

„Bist du gekommen um mir Angst zu machen, Wanda? Geh weiter. Ich glaube das nicht.“

„Sei auf der Hut, Malscha, du trägst ein Kindchen, einen Jungen. Junges Leben ist immer in Gefahr. Und dann war da noch der Stern, den ich gesehen habe ... Nichts Gutes für uns alle, glaube mir. Unheil liegt in der Luft. Großes Unheil, großes Unheil.“

„Geh du zu deinen Kräutern. Meine Kinder schreien. Sie brauchen mich!“ Amalie lässt die Hacke fallen und läuft ins Haus.

Diese alte bucklige Hexe! Warum lass ich mich von der Alten bloß erschrecken und kopfscheu machen? „Du alte Krähe, du!“ ruft sie hinterher. „Du bist ja nicht bei Trost!“

Sie rennt zu den Kindern in die Stube und reißt die Zwillinge an sich. Sie drückt sie so fest, dass sie Angst bekommen und zu brüllen anfangen.

„Sie ist doch nur neidisch“, sagt sie. „Dieses Waschweib! Hat nie Kinder gehabt. Sieht gelb und grün auf die, die welche im Haus haben. Hexe!“

Der Mann steckt seinen Kopf durch die Tür. „Warum schimpfst du, Malchen?“

„Die Bucklige, die alte Hexe ... Kommt daher und jagt mir einen Schrecken ein, dass mir ganz elendig wird!“

„Nun, wenn du sie nicht davonjagen kannst – dann lass sie doch einfach stehen und gehe weg.“

Als sie wieder bei der Arbeit ist, hält sie Ausschau nach der buckligen Wanda. Die Alte hat mit ihren Worten etwas in Amalie eingepflanzt, das sie nicht ausreißen kann. Den ganzen Tag gehen ihr die Drohungen durch den Kopf.

Später im Bett, als sie auf den Schlaf wartet, da springt die Angst sie wieder an und wird noch drückender; sie hat vorhin mit ihrem Mann darüber sprechen wollen, aber der hat sie nur ausgelacht und ist gleich eingeschlafen.

Heute gibt es einen schönen Tag. Nach dem Regen in den letzten Tagen ist die Erde grün geworden; so weit das Auge sehen kann, sieht es schwarzen fetten Boden, vereinzelt von einem hellen grünen Schleier überzogen.

Jendrik Erdmann kommt mit aufgekrempelten Ärmeln in den Hof. Er ist braun geworden, seitdem er draußen an seinem Haus arbeitet. Morgen wird er die Wand mit Lehm abdichten können. Den abgeschlagenen Putz hat er von den Kindern zerkleinern lassen und ihn dann in einem Zuber aufgeweicht. Jetzt ist er soweit, dass er verarbeitet werden kann.

Aus dem Haus dröhnt das Stoßen und Stampfen der Webstühle, an denen der Gehilfe Witold mit den drei größeren Kindern arbeitet. Der dreizehnjährige Berthold, den Amalie nur liebevoll Bertel nennt, hat sehr früh für nichts anderes Interesse gezeigt als für die Webstühle, für das Haus und den Hof. Jedem Besucher erklärte er, und da war er erst ein fünf- oder sechsjähriges Kind, das auf seinen nackten fleischigen Füßen herumpatschte, dass dies einmal sein Hof, sein Haus und seine Webstühle sein werden. Er konnte es am wenigsten erwarten, endlich wie die Großen weben zu dürfen. Seine um ein Jahr jüngere Schwester Adelheid versucht, so ausdauernd wie der Bruder hinter dem Webstuhl zu sitzen. Wenn sich aber eine Gelegenheit findet, den Platz verlassen zu können, dann verschwindet die Adelheid und vergisst die Arbeit. Mit Rosa, dem dritten Kind, müssen die Eltern nachsichtig sein. Obwohl die Rosa in diesem Jahr elf wird, ist sie ein fünfjähriges Kind geblieben. Blass ist sie und schwach und immer kränklich. Sie klagt oft über Schmerzen im Bauch und über ein Stechen im Kopf. Manchmal kann sie morgens die Augen nicht öffnen, weil sie von Eiter verklebt und verkrustet sind und sie quälen.

 

„Rosa, mein Kindchen, bleibe liegen“, beruhigt Amalie das wimmernde Kind. „Ich werde dir mit lauwarmem Tee die Augen auswischen. Und wenn das nicht hilft, dann werde ich zum Arzt gehen.“

Aber Rosa weigert sich jedes Mal, im Bett zu bleiben. Gleich nach dem Frühstück hockt das Kind wieder auf der Bank des Webstuhls und lässt auf seine langsame Art die Schiffchen laufen. In die Schule kann sie nicht gehen, weil sie nur schwer begreift, was man von ihr erwartet und weil sie die Augen nicht anstrengen darf.

Der Berthold will nicht in die Schule. Wenn man nur ordentlich weben und dazu noch seinen Acker bestellen kann, meint er, das reiche fürs Leben. Er hat nur so viel gelernt, dass er ein wenig lesen und ein paar Buchstaben schreiben kann. Hingebungsvoll hat er, wenn er Lust dazu hatte, seine Unterschrift geübt, die er gekonnt hinmalt, wenn es einmal sein muss. Ganz anders verhält es sich mit dem neunjährigen Edmund. Er besitzt einen raschen und wachen Verstand, der sich für jede noch so simple Arbeit allerlei Erleichterungen oder Verfeinerungen ausdenkt. Es gibt aber niemanden, der sich seine Schnapsideen, wie der Vater sie nennt, anhören will. Nein, wenn Edmund auftaucht und seine Hilfe anbietet, dann ist bei den Leuten sofort eine Gereiztheit zur spüren. Sie winken ab und schicken ihn schnell wieder weg, und man ist froh, ihn ohne großes Lamento, ohne seine bohrenden Wenns und Abers losgeworden zu sein.

Jendrik steht in der Frühlingssonne und lauscht auf das Klopfen, auf das Durcheinander und das Gegeneinander der Webstühle. Bald wird er sieben Webstühle hören können! Expandieren nennt sein Bruder das; aber Jendrik weiß nicht, was es bedeutet, und den Bruder fragen, das mag er nicht, um nicht verlacht zu werden; ja, expandieren, das will Jendrik auch. Der Bruder erinnerte ihn: ‚Haben nicht alle Erdmanns vor ihm ebenso gedacht und gehandelt? Damit haben sie uns ein ansehnliches Anwesen hinterlassen, das der Familie Respekt im Ort verschafft und ihrem Wort in den Versammlungen ein gewisses Gewicht gegeben hat.’ Ja, Jendrik will sich ebenso wie seine Vorfahren darum bemühen, das, was er übernommen hat, zu vergrößern. Er wird seinen Besitz vermehren und somit dem Namen und dem Ansehen seiner Kinder im Ort noch mehr Wichtigkeit geben.

Er beobachtet eine Katze, die, ein Junges im Maul tragend, vorsichtig aus dem Fenster des Geflügelstalles in den Hof springt.

Ja, so ist das unter dem Dach seines Hauses: hier drängt in jedem Winkel Leben ans Licht, immerzu, als läge nur darin der Sinn.

Die Leute rüsteten sich für den Bittgottesdienst, denn der Mai geht zu Ende.

In jedem Jahr kommen am letzten Maisonntag die Menschen aus der Stadt und dem Umland zu diesen Bittgottesdiensten zusammen, um derer zu gedenken, die zuletzt vor über dreißig Jahren, das war im Jahre achtzehnhundertsechsundsechzig, von der Cholera dahingerafft worden sind. Katholiken und Protestanten, Deutsche wie auch Polen machen sich gemeinsam auf. Einträchtig fahren dazu unterschiedliche Familien in einem Wagen in die Stadt. Vor der eigenen Kirche verabschieden sie sich, um hernach in der Weise, wie sie gekommen sind, auch wieder den Heimweg anzutreten. Dieses gemeinsame Fahren hat noch einen anderen Grund.

Damals, das hatte jeder von den Älteren noch lebhaft im Gedächtnis, starb allein in dieser Stadt ein Zehntel der Bevölkerung. In wenigen Monaten war der Friedhof belegt, und als man nicht mehr wusste, wo man die Toten begraben sollte, kam von der Starosterei die Verfügung, dass jeder Bürger zur Erweiterung des Friedhofs zwei Rubel an die örtliche Verwaltung zu entrichten habe. Mit diesem Geld wurde dann in aller Eile der Friedhof erweitert und auch gleich ein zweiter geplant. Nach einem guten Jahr war dieser zweite Friedhof dann so weit hergerichtet, dass er genutzt werden konnte. Man wollte gerüstet sein für den Fall, dass die Seuche noch einmal auftreten und im Land wüten sollte. Sodann war in die Bittgottesdienste mit der Zeit noch etwas ganz anderes hineingekommen.

Es gab vielfältige Nöte, die die Menschen drückten und ihnen das Leben schwer machten. Lange Winter, in denen sie nicht nur froren, sondern auch erfroren. Und alle paar Jahre gab es Missernten, wie sie sie erst vor kurzem erlebt hatten. Hin und wieder brannte schon einmal ein Haus, und da nicht wenige Häuser aus Holz gebaut waren, breitete sich das Feuer in Windeseile aus und vernichte ganze Viertel oder Straßenzüge. Und oft genug starben Menschen in den Flammen, oder sie wurden von einstürzenden Dächern oder Wänden erschlagen.

Dieses Erleben, solches Wissen floss in die Bittgottesdienste mit ein.

Das Fürchterlichste aber war die Cholera. Sie wurde als ebenso schlimm empfunden wie die Knechtung durch die russischen Usurpatoren.

So wurde in den Bittgottesdiensten am letzten Maisonntag an diese beiden zentralen Ereignisse gedacht: an das letzte Wüten der Cholera und an den Januaraufstand der polnischen Patrioten gegen ihre Unterdrücker, der sich drei Jahre vor dem letzten Auftreten dieser Seuche ereignet hatte.

Mit aller Härte war damals gegen die Aufständischen und gegen jeden, den man dafür hielt, vorgegangen worden. Ein Heer von Soldaten und von Spionen hatte das Land überzogen, um mit Verhaftungen und Hinrichtungen und dem Verwüsten von Höfen und ganzen Dörfern den patriotischen Gedanken der Polen und ihrer Sympathisanten auszumerzen.

Vielfach versuchten die Russen, Misstrauen und Hass zu säen zwischen der polnischen und der deutschstämmigen Bevölkerung, und sie versuchten durch hohe Belohnungen die Deutschen dazu zu bewegen, ihr Mitwissen über geheime Verschwörungen von Widerstandskämpfern und Anarchisten preiszugeben und an deren Ergreifung mitzuwirken.

„Wir leben im Lande unserer polnischen Brüder, ihr Schicksal ist unser Schicksal, ihr Leid ist unser Leid, ihre Sehnsucht nach Freiheit ist auch unsere Sehnsucht!“ So konnte man es am letzten Maisonntag von den Kanzeln vieler deutscher Kirchen hören, und eine aufmerksame und bereite Gemeinde pflichtete dem Prediger bei; sie tat es durch Nicken oder Seufzen oder auch schon einmal durch zustimmendes Gemurmel.

„Durch die polnische Erde, die uns alle nährt und am Leben erhält, sind wir miteinander verbunden. Und diese Erde ist der Schoß, aus dem wir gekommen sind und zu dem wir zurückkehren werden. Sie ist nicht nur die Mutter der Polen, sie ist auch unsere Mutter. Somit sind Polen und wir, deren Väter dieses Land zu ihrer und zu unserer Heimat erwählt haben, Brüder; und wenn ein Bruder leidet, dann leiden die anderen Brüder mit. Hat ein Bruder Anlass zur Freude, dann teilt er auch sie mit seinen Brüdern ...“

Der junge Prediger ist erregt; er ist nach und nach in Hitze gekommen. Seine Erregung ist so groß, dass er mehrmals mit der Faust auf die breite Brüstung der Kanzel schlägt und dass er, mit dem Finger durch seinen Hemdkragen fahrend, sich Luft verschaffen muss.

Manchmal bohrt sich sein Blick in das Gesicht des einen oder anderen fremden Gottesdienstbesuchers, weil es nicht die Spur einer Gemütsbewegung erkennen lässt, und in dem jungen und heftigen Prediger der Verdacht aufkommt, dass da ein Schnüffler an der Säule lehnt oder sich in die harte Kirchenbank gequetscht hat; vielleicht ist es sogar jemand von der geheimen Polizei.

Wenn er doch seine Gemeinde schon besser kennen würde! Wenn er von seinem Vorgänger Informationen bekommen hätte! Aber den haben die Pferde, aufgeschreckt von irgendeinem Tier, mit seiner Kutsche, aus der er sich, wohl wegen seiner Dickleibigkeit, nicht befreien konnte, geradeswegs in die Warthe gefahren, wo er mitsamt dem Gespann ertrunken ist. Daraufhin hat das Konsistorium ihn in diese Stadt entsandt, in der er mehr Deutsch als Polnisch auf der Straße hören kann.

Zum Ende des Gottesdienstes singt die Gemeinde: ’Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten‘. Sie singt es laut wie eine kampfbereite Bruderschaft, die einen bemerkenswerten Entschluss gefasst hat und ihn jetzt einem weiten Umkreis mitteilt.

Unangemessen schnell, keck und aufrecht, nicht mit jenem feierlichen Ernst und demütig gesenktem Kopf, wie es der Anstand fordert, und wie die Gemeinde es bei ihrem verunglückten Pastor sah, ist der junge Pastor bei diesem Choral in die Sakristei geeilt; findet die Gemeinde.

Nach dem Gottesdienst bleiben Männer und Frauen noch, wie sie es nach jedem Gottesdienst zu halten pflegen, auf dem Platz vor der Kirche beisammen.

„Mut, ja, das ist ein Vorrecht der Jungen“, behauptet, seinen Bart zwirbelnd, Heinrich von Lehndeckel, der pensionierte Lehrer, den die Predigt offensichtlich aufgewühlt und erregt und die ihm eingeheizt hat, denn er betupft unablässig Stirn und Glatze mit einem auffallenden Taschentuch.

„Uns fehlen Leute, die so unverhohlen Farbe bekennen.“ sagt er in die Runde, und dabei wippt er auf den Zehenspitzen und nimmt eine Haltung ein, wie die Gemeinde sie vorhin beim Pastor in der Kanzel gesehen hat.

„Nun ja, das mag schon stimmen“, sagt der Hufschmied Nagelschur und gibt sofort zu bedenken: „Aber man wagt damit doch allerhand. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die, die einem anvertraut sind, nicht wahr? Selbst für jene kann es gefährlich werden, die solchem Redner zuhören. Das kennen wir doch alle!“ Und dabei blickt er Herrn von Lehndeckel herausfordernd mit schrägem Kopf an.

„Ja, ja, das kennen wir ...“ Die Älteren und Alten nicken.

„Wir haben schlimme Zeiten hinter uns“, meldet sich ein zahnloser, faltiger Greis. „Warum soll man sie durch Unvorsichtigkeit wieder heraufbeschwören?“

„Was wollt ihr denn bewahren? Ungerechtigkeit? Unterdrückung? Verrat?“, ereifert sich Herr von Lehndeckel. „Mit solcher Vorsicht bewahrt ihr doch nur diese miserablen Zustände! Offenheit ist gefragt! Mut!“

Sie streiten ein wenig, während ihre Frauen beratschlagen, wie sie durch Liebesgaben die vielfältige Not, vor allem unter den Alten und den verarmten Fabrikarbeitern lindern können.

„Wissen Sie, wir sollten einen Hülfsverein ins Leben rufen“, schlägt Frau von Lehndeckel vor, deren behandschuhten Hände immer mit einem weißen Spitzentüchlein wedeln. „Einen richtigen Verein. Mit Satzungen, mit einem Vorstand und einer, die die Kasse verwaltet. Eben mit allem, was dazugehört.“

Keine der Damen hat Einwände, sie haben auch nichts zu bedenken – nein, sie sind von diesem Vorschlag geradezu hingerissen. Eine steckt die andere mit ihrer Begeisterung und ihrem Eifer an. Sofort treten diejenigen vor, die von ihren Fähigkeiten und Talenten für diese Aufgabe überzeugt sind.

Die Frau des Kantors, die für sich keine Chancen sieht und die den Hülfsverein nicht allein in den Händen dieser Damen sehen möchte, schlägt vor: „Wer von uns wäre geeigneter, meine Damen, als die Frau Pastor Wohlgethan? Wir haben nicht nur einen unerschrockenen Pastor, wie wir es soeben erlebt haben, wir haben auch eine recht couragierte Pastorenfrau Die wird mit Geschick und Beharrlichkeit die Dinge angehen. Und mutig, meine Damen, ist sie wie ihr Mann!“

Mit einem vielsagenden Lächeln fügt sie in Richtung von Frau von Lehndeckel hinzu: „Es ist wahr: Mut, das ist ein Vorrecht der Jungen. Und sie ist jung und besitzt beides! Ich sage Ihnen: Die Frau Pastor Wohlgethan hat ihr Herz auf dem rechten Fleck!. Somit, meine ich, ist sie goldrichtig für diese Aufgabe. Sehen Sie das anders?“

Sie wiegen, Zweifel, vielleicht auch Billigung ausdrückend, ihren Kopf: die meisten haben ihn unter Tüchern versteckt, die vornehmen Damen tragen Kapotthüte, wie Frau von Lehndeckel, deren rundes, rosiges Gesichtchen einer reifen Frucht gleicht, die dabei ist, die sie umgebende Schale zu sprengen.

 

Die Kantorin deutet es als Billigung. „Also, dann ist diese Sache ja entschieden“, sagt sie schnell, um den Plan unumgänglich auf den Punkt zu bringen. „Kommen Sie, wir gehen zu ihr. Ach, da drüben steht sie ja.“

Frau Pastor Wohlgethan ist eine bleiche und hohlwangige Frau, die aus der Nähe erschreckend alt aussieht. Ihr etwas kümmerlicher Kopf wird von einem üppigen Haarknoten in den Nacken gezogen. Wenn sie spricht, dann formt sich der nicht gerade kleine Mund zu einer faltigen Kirsche und die Augen verengen sich, als würden sie geblendet oder als müsse sie jeden, der sich in ihre Nähe wagt, bis auf die Knochen prüfen.

„Frau Pastor Wohlgethan, diese Damen hier tragen sich mit der Absicht ...“, beginnt die Kantorin.

Pastorin Wohlgethan unterbricht die Kantorin mit einem hart klingenden: „Guten Morgen“, und streckt jeder der sie umringenden Damen ihre mit einem außergewöhnlichen Granatring geschmückte Hand hin. Die Pastorin wirkt stolz; obwohl sie nicht groß ist, blickt sie doch gleichsam auf jeden herab, wenn sie mit ihm spricht. Ihre Geduld, ihr Zuhören hat etwas von einer kalten und schonungslosen Prüfung an sich. Der ausdruckslose Blick und die unbewegte Miene verwirrt ihr Gegenüber, man verhaspelt sich schnell und will das, was man vorzubringen hat, schleunigst loswerden. Nur die Kantorin bewahrt ihre Natürlichkeit und Ruhe, sie scheint mit der Art dieser Frau vertraut zu sein, oder sie beachtet sie ganz einfach nicht.

„Ihr Mann hat eindeutige, ja: er hat mutige Worte gesprochen“, sagt die Frau des Fischhändlers Schönborn. Frau Schönborn ist eine sehr beleibte Person mit einem kugeligen roten Gesicht, in dem die Augen wie zwei kleine dunkle Knöpfe liegen.

„Sollten wir Deutschen nicht auch Patrioten sein?“ fragt die Pastorin von oben herab. „Das Land ist unsere Heimat.“ Ihr Arm reckt sich mahnend in die Höhe. „Wagen wir doch einmal etwas!“

Das kugelige rote Gesicht von Frau Schönborn beginnt zu glänzen. „Das meine ich!“, stößt sie tief überzeugt hervor und holt tief Luft.

Die Kantorin fällt dazwischen: „Sprechen wir doch endlich von dem, was wir der Frau Pastor vortragen wollen.“ Sie beugt sich etwas vor, damit sie jeden im Blick hat: „Es geht um die Gründung eines Hülfsvereins. Viele Familien in unserer Gemeinde leiden eine unbeschreibliche Not.“

„Ja, ja!“ rufen die anderen in einem unsauberen Chor dazwischen.

„Und da ist uns dieser Gedanke gekommen ...“

Er rückt noch enger zusammen, dieser Kreis von dunkel gekleideten Frauenspersonen, die in heftige Bewegung geraten; leise und eindringlich legen sie der Frau Pastor Wohlgethan ihre Pläne vor, bis aus der Gruppe der Männer zum Aufbruch gemahnt wird.

Frau von Lehndeckel hakt sich bei der Fischhändlerin Schönborn unter, während sie zu ihren Kutschen gehen. „Sie wird einen kalten Wind in die Gemeinde bringen. Das wage ich vorauszusagen. Mir scheint, dass sie nicht nur im Haus das Regiment führt.“

Davon ist Frau von Lehndeckel überzeugt. „Eine Suffragette. Ja, ja, dafür halte ich sie.“

„Was ist das denn nun wieder? Etwas Anstößiges?“

„Wie Sie vermuten: im Haus hat sie die Zügel fest in der Hand, das sieht man doch! Und in der Gemeinde, meine Liebe, wird es nicht anders sein! Wir hätten so ganz unauffällig bei der Kantorin nachfühlen sollen, die weiß mehr.“

„Warten wir es ab! Es wird sich alles zeigen.“

Wie eine kleine graue Maus kommt die schwerhörige Küsterin Klingseil durch Menschen und Wagen gehuscht. Sie friert, denn sie trägt beide Arme in ihr Schultertuch gewickelt. Geschickt umläuft sie die Gruppen und steuert auf Amalie zu, die für sich steht und den Frauen zusieht, wie sie die Köpfe zusammenstecken und sich hin und wieder derart ereifern, dass sie wie auf Kommando zurücktreten, in die Hände schlagen und sich wieder sammeln. Wie Hühner beäugen sie sich, findet Amalie, und gleich darauf strecken sie wieder ihre Köpfe einander zu.

„Dass du trotzdem gekommen bist!“, ruft die Küsterin. „In dem Zustand! Wie weit bist du denn, Malchen?“

„Es geht auf das Ende zu“, sagt Amalie Erdmann müde und leise, als könnte jemand gestört werden. Sie lehnt gegen den Wagen und drückt ihren Bauch noch auffälliger hervor.

„Dann sei froh“, ruft die Küsterin. Umständlich wickelt sie ihre rechte Hand zur Begrüßung frei. „ Es sollen heiße Monate kommen. Da wird jeder Tag zur Qual, wenn man das da mit sich herumschleppt. – Wenn nur nicht wieder eine Dürre kommt“, seufzt sie. „Die Zeiten sind doch schlecht genug, findest du nicht auch? Da braucht uns der Himmel nicht noch so etwas aufzuladen. – Es geht das Gerede, dass es zum Krieg kommen könnte. Von Russland aus. Die Anarchisten gehen jetzt aufs Ganze, sagt man. Und wie man weiß, die Polen heizen bei diesem Feuer kräftig mit ein. Nicht nur die da oben, nein, auch viele aus den unteren Schichten haben solche Gedanken im Kopf und sind bereit mitzumischen. Dann, das können wir uns an einer Hand abzählen, gibt es einen furchtbaren Flächenbrand. Das glauben alle. Ja, es sollen auch schon Deutsche hinübergelaufen sein, sogar hier aus Zdunska Wola, erzählt man sich!“

Amalie denkt an den heruntergekommenen Bruder ihrer Schwägerin, an Krystian von Zlotczinsky, der am vergangenen Neujahrsmorgen nicht nur über seine Verwandten in Lodz Unruhe gebracht hat, sondern auch über sie und ihren Mann. Sie hat mit Jendrik lange darüber gesprochen, und er hatte gemeint, wenn nach Krystian gesucht wird, dann werden alle Familien verhört und alle Häuser durchstöbert werden, die mit den Zlotczinskys in irgendeiner Weise zu tun haben; auch sie müssten damit rechnen, eines Tages die geheime Polizei vor ihrer Haustür zu sehen. Aber dann war der Vorfall schließlich vergessen; doch in ihr ist eine kleine Sorge geblieben: Edmund, ihr viertes Kind. Edmund, das glaubt sie zu wissen, ist für solche Gedanken und Taten empfänglich, von denen er meint, dass sie ihn zum Helden erheben könnten. Sie muss ihn mehr als die anderen im Auge behalten.

Die Küsterin fragt mit einem Blick auf Amalies Leib: „Malchen, ist dir nicht gut? Du bist still geworden und hast einen abwesenden Blick. – Sind deine letzten Kinder nicht die Zwillinge?“

„Ja, Johann und Gotthard.“

„Die sind doch noch sehr klein, nicht wahr?“

„Vom Januar vergangenen Jahres.“

„Nun, dann hast du alle Hände voll zu tun.“ Sie berührt so eben Amalies Schulter zum Abschied, dann huscht sie davon.

Jendrik holt mit seiner Kutsche die alten Braczinskis von der katholischen Kirche ab, wo die heute die Messe gefeiert haben. Sein Vater, der verstorbene Siegismund, hat mit diesem spindeldürren Polen in jungen Jahren bei einem Weber in der Kaliczer Gegend das Weberhandwerk gelernt, und später sind die beiden, als sie im selben Ort wohnten, Freunde geworden. Die Braczinskis sind schwerhörig und sie verstehen kein Deutsch, darum kann Amalie ihrem Mann ohne Bedenken alles das weitersagen, was sie an Neuigkeiten von der Küsterin erfahren hat und sie kann ihm auch gestehen, welche Sorgen sie sich um Edmund macht.

„Er ist noch ein Kind, Malchen. Erst neun Jahre ...“

„Mit dem jungen Zlotczinsky hat es auch sehr früh angefangen.“

„Malchen, was wird in zehn oder zwölf Jahren sein! Deswegen brauchst du dir doch jetzt noch keine Sorgen zu machen. Außerdem wird unser Sohn niemals dahin kommen, wo der junge Zlotczinsky gewesen ist. Der kennt Sankt Petersburg und Moskau, in Warschau und in Paris ist der auch gewesen. Das sind die Töpfe, Malchen, in denen revolutionäre Gedanken gekocht werden. Nein, mit Edmund machst du dir unnütze Sorgen. Wie soll der Junge dahin kommen?“

„Nein, ich will mir ja auch keine Sorgen machen. Ich will es nicht! Aber solche Gedanken und Sorgen lassen sich nicht lenken wie ein Pferd. Und so habe ich an manchen Tagen keine Ruhe ...“