Unter dem Ostwind

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Dem verstorbenen Siegismund ist es vor vielen Jahren in den Kopf gekommen, die Sache auf einer Gemeindeversammlung richtig zu stellen: nicht auf den Rebellen Arnulf gehe ihr polnisches Geschlecht zurück – nein, ihr Geschlecht sei viel älter! Ihre Wurzeln liegen wahrscheinlich noch vor der Zeit des Großen Peter und der Katharina. Den Arnulf hätten die Alten noch kennen und von ihm erzählen können. Das mit dem Arnulf, so argumentierte er, liege erst einmal gut fünfzig Jahre zurück. Ist nicht er, der Weber Siegismund Erdmann, schon im Jahre achtzehnhundertachtundzwanzig in dieser Stadt geboren worden?

Wie kann der Rebell Arnulf dann Ahnherr der Erdmanns in dieser Stadt sein, frage er jene, die mit solchem Blödsinn eine anständige Familie zu beschädigen suchen?

Zudem sei alles in den Kirchenbüchern nachzulesen. Man brauche nur den Pfarrer zu bitten, der werde jeden, der der Sache auf den Grund gehen möchte, aufklären können.

Im Jahr nach dem Tod von Siegismund Erdmann dachte Jendrik daran, die Geschichte seiner Familie zu ergründen, um die Wahrheit seinen Kindern einmal erzählen zu können. Vielleicht wird sogar eins von ihnen sie aufschreiben! Wer kann das sagen?

Davon könnte, wenn es interessiert, später erzählt werden.

Es ging auf Weihnachten zu. Bei den Leuten, die Vieh im Stall stehen haben, wurde geschlachtet. An den Hauswänden lehnten die Leitern mit den kopfüber hängenden, aufgeschlitzten Schweinen, die von Kindern während des Auskühlens bewacht wurden. Blutleer und weiß wie ein Bettlaken hingen sie, und mancher Nachbar, der sie hängen sah, beschloss bei sich, diesem Haus gegen Abend einen Besuch abzustatten.

Auch Jendrik hat den Schlächter kommen lassen. Er wollte es nicht so machen wie die Nachbarn, die mit einem Beil auf das Schwein losgingen und dessen durch Mark und Bein dringendes Quieken oft lange und meilenweit zu hören war. Bei ihm ging die Tötung leise und rasch vonstatten. Und dass die Kinder dabei zusahen, das duldeten er und sein Frau nicht. „Bei so etwas gehören Kinder ins Haus“, hat Amalie gesagt. „Besser noch, sie gehen weg!“ Und darin gab er ihr Recht.

„Wenn die blutige Arbeit getan ist, wenn das Fleisch nicht mehr als Schwein zu erkennen ist, ja, dann mögen sie kommen und helfen“, sagte sie. „Ich leide es auch nicht, wenn sie das aufgeschlagene Schwein bewachen.“

Beim Wursten, beim Zerlegen und Einpökeln haben sie zusehen und auch helfen dürfen, wenn sie helfen konnten.

Oder sie haben das Feuer gehütet und Wasser gekocht und in den riesigen Töpfen gerührt. Den leergedrückten Darm ließ Amalie sie reinigen, auch beim Abbinden der Würste durften sie helfen.

Am Abend wurde jedes mit einer kleinen Wurst belohnt, die es ohne Brot essen durfte. Wie freuten sie sich erst auf Weihnachten! Denn dann kamen alle diese Herrlichkeiten auf den Tisch.

„Solange müsst ihr warten“, sagte die Mutter. „Vorher gibt’s nichts!“

Die Wolken hängen den ganzen Tag über tief und voller Schnee; in der zurückliegenden Woche mussten sie jeden Morgen Tür und Fenster freischaufeln und in die Kamine sehen, weil es vorgekommen war, dass sie vollgestopft waren und nicht zogen.

Amalie Erdmann erneuert die Tannenzweige in den Stuben, sie liebt es, auch zwischen den Doppelfenstern Tannengrün zu haben. Die größeren Kinder helfen ihr, und die kleinen stehen da und staunen und quälen sie mit ihren unzähligen Fragen.

„Nein“, sagt sie schon müde geworden. „Den Baum holt der Vater aus dem Wald. Aber die Äpfel und silbernen Nüsse, die hängt das Christkind daran. Aber nur, wenn ihr bis dahin brav seid und eure Mutter nicht immerzu mit tausend Fragen drangsaliert!“

Jendrik Erdmann kommt in die Stube. Er geht auf Strümpfen, seine Stiefel hat er vor der Haustür ausgezogen; schweigend wärmt er seine Hände an der Ofenwand. Schließlich sagt er, und es klingt, als spräche er mit sich selbst: „Ich sollte in Vaters Stube noch drei Webstühle stellen. Wenn ich die Ostwand zum Stall hin abbreche und sie um ein paar Fuß versetze ...“

Die Frau sieht auf. „Vaters Stube?“ Sie erhebt sich schwerfällig und stöhnt leise, und als sie vor ihm steht, stemmte sie beide Arme in ihren Rücken; der Mann beachtet das nicht; ihm war es nie aufgefallen, wenn diese Art von Schwerfälligkeit ihr zu schaffen machte.

„Er liegt noch nicht lange unter der Erde, und da willst du aus seiner Stube so etwas machen? Sie mit Webstühlen vollstellen?“

Er lacht sie listig an: „Mein Bruder vergrößert, hast du es nicht gehört? Und wir, Malchen, vergrößern auch! Natürlich in einem anderen Maßstab und in einer anderen Weise als er es macht.“

„Wo willst du das Geld für die Webstühle hernehmen?“

Er gibt ihr keine Antwort darauf. In Gedanken ist er weiter, und er sagt zu ihr: „Dann nehme ich noch zwei oder drei Leute in den Dienst.“

„Auch das noch! Weißt du, was das kostet?“ Was soll sie weiter dazu sagen? Ja, das kennt sie. Was Jendrik sich einmal in den Kopf gesetzt hat, das führt er auch aus. Anfangs hat sie ihm widersprochen, wenn sie nicht überzeugt war, hat sich gegen solche Pläne gewehrt. Nach ihrem Dafürhalten war manches zum Scheitern verurteilt. Und doch gelang ihm, was er plante.

Weil er am Ende recht behielt, darum schweigt sie jetzt und wendet sich wieder ihrer Arbeit und den Kindern zu.

Abwartend steht der Mann eine Weile in der Tür, dann geht er nach draußen an seine Arbeit.

Alle Unebenheiten und Vertiefungen im Feld hat der Wind mit Schnee zugeblasen. Es ist bitterkalt geworden, und die Fensterscheiben bleiben auch am Tage zugefroren. Obwohl die Pumpen und Brunnen rechtzeitig mit Stroh und Säcken umwickelt und abgedeckt wurden, geben sie kein Wasser mehr; vor einem solchen Frost sind sie nicht zu schützen. Die Menschen gehen so dick eingepackt, dass sie sich auf der Straße kaum erkennen. In entlegenen Dörfern, so erzählte man sich, seien Wölfe gesehen worden, und es habe schon die ersten Erfrierungstoten gegeben, alte Menschen vor allem, die sich beim Holzsammeln einen Moment ausruhen mussten und die auf ihrem Platz eingeschlafen und erfroren seien.

Der Himmel ist hoch und unnatürlich blau. Nur an wenigen Stellen zeigen sich ein paar hingewehte Wolken, die wie gefegter Schnee auf einer Eisfläche aussehen. Die Sonne steht kalt und bedrohlich hinter dem Wald, der jetzt schon lange Schatten über die verschneiten Felder wirft.

Heute geht Jendrik Erdmann seinen Weihnachtsbaum schlagen, und der dreizehnjährige Berthold, die ein Jahre jüngere Adelheid und der zehnjährige Edmund dürfen den Vater begleiten. Die Kinder schweigen, weil der Vater sie geheißen hat, still zu sein. Der scharfe Frost, hat er gedroht, schneide ihnen weit hinten im Hals die Adern durch, so dass Blut aus Mund und Nase fließt. Und außerdem würde der Luchs sie hören, und der Luchs, so ist dieses Tier, springt von seinem Baum herunter und wird versuchen, sie wegzuschleppen. Das wirkt. Wenn sie nicht schon so weit im Feld wären, dann würden die Kinder sofort kehrtmachen. Jetzt müssen sie weitergehen, und darum halten sie sich so dicht hinter dem Vater, dass sie ihm hin und wieder in die Hacken treten. Manchmal bleibt der Vater stehen, um ihnen Spuren im Schnee zu zeigen, Spuren von Kaninchen, von Fasanen und einmal sogar eine vom Fuchs und von einer Wildkatze. Zielstrebig drängt sich der Vater in eine Schonung zu seinem Baum, wie er sagt. Es ist ein Baum, der merkwürdigerweise keinen Schnee mehr trägt und der wie ein Fremdling, dunkel und auffällig, unter den anderen steht. Auf den hat es der Vater abgesehen, den schlägt er.

Als sie später den Ort erreichen, ist die Sonne schon lange untergegangen und der Abendstern steht einsam an seinem Platz.

Am Heiligabend schneit es ohne Ende.

Vom frühen Morgen an ist Amalie Erdmann damit beschäftigt, das Haus zu putzen und alle die Dinge vorzubereiten, die zum Weihnachtsfest gehören und die getan werden müssen. Und diesmal fällt es ihr besonders schwer; in ihrem Leib ist seit langem ein kleiner Schmerz, ein völlig unbedeutender Schmerz zuerst, der aber von Woche zu Woche gewachsen ist und der sich nach und nach bis in die äußersten Glieder ausgebreitet hat.

Die kleinen Kinder sind ihr lästig heute, und gegen ihren Willen herrscht sie sie an und scheucht sie von einem Winkel in den anderen; heute wird sie sie zeitig ins Bett schicken. Das Gequengel ist ihr unerträglich, sie mag es nicht hören, warum sollen die Quälgeister bis zur Mitternachtsmette aufbleiben dürfen?

Die Mitternachtsmette – wie gerne ist sie alle Jahre zuvor in diesen Gottesdienst gegangen. Heute würde sie viel lieber zu Hause bleiben. Bestimmt wird sie in der Kirche einschlafen, denn sie ist so müde, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann.

Später Abend ist es geworden, als sie die Arbeiten endlich beendet hat. Amalie streut zuletzt noch weißen Sand in die Stube und verbrennt ein paar Tannenzweige im Herd. Das ganze Haus soll von weihnachtlichem Duft durchzogen werden. Das muss sein, sagt sie sich, das gehört dazu. Auch wenn Jendrik meint, es rieche wie in katholischen Kirchen, sie geht sogar mit glimmenden Zweigen von einer Stube in die andere.

Als das getan ist, wäscht sie sich über der Schüssel und setzt sich auf die Ofenbank, um sich vor dem Kirchgang ein wenig auszuruhen.

Von weither strömen die Menschen zum mitternächtlichen Gottesdienst in die Stadt. Die Vornehmen und Reichen kommen mit ihren Kutschen oder Schlitten und füllen den Platz vor der Kirche. Sogar in den angrenzenden Straßen stehen ihre Gefährte, und die dampfenden Leiber der Pferde täuschen Wärme und Behaglichkeit vor.

An einigen Stellen des Platzes brennen Feuer in eisernen Behältern, die von Kutschern und Knechten umlagert sind, wo sie ihre Füße warm stampfen und die Wodkaflasche kreisen lassen und wo sie über ihre Herrschaft herziehen und sich auch schon einmal streiten. Manchmal kommt jemand aus der Kirche, und wenn die Tür sich öffnet, flutet ein Schwall von Licht in die Nacht, der für einen Augenblick alle Straßengeräusche verstummen lässt.

 

Sie singen: „Lobt Gott, ihr Christen allzugleich in seinem höchsten Thron.“

Über den Kutschern und Knechten an ihren Feuern, über den ergeben wartenden Pferden, brausen die Glocken und wetteifern mit der singenden Gemeinde. Alle sollen es wissen, sie sollen den Jubel draußen auf den Straßen und hinter ihren Wänden hören: dass der Dienst vor dem Herrn getan ist und das Fest hat begonnen.

Diesem rauschenden Jubel aus Hunderten von Kehlen, dem unrhythmischen Takt der vier Glocken können sich auch die Fuhrknechte nicht entziehen. Trotz der grimmigen Kälte ziehen sie ihre Pelzmützen vom Schädel und singen mit, so gut sie es können. Es sind solche darunter, die durch das Singen und das Glockengetöse, und vor allem durch Erinnerungen, angerührt werden und feuchte Augen bekommen.

Die Kirche leert sich nur langsam. Jeder will die für das Fest erforderlichen Oblaten haben, die in der Sakristei oder an der Kirchentür gekauft werden können und die zu Hause vor dem Weihnachtsessen untereinander geteilt werden. Darauf umarmen und küssen sich die Menschen, und unter Lachen und mit Tränen in den Augen wünschen sie einander ein gesegnetes Christfest.

Bei den Erdmanns wird in diesem Jahr das Brechen und Teilen der Oblaten fast widerwillig getan; beide Eltern reichen sie einander ohne die Ergriffenheit und Bewegung, wie es früher gewesen ist. Amalie wirkt abwesend, und manchmal trommelt sie nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, wenn die Kinder laut werden; sie hat es eilig an diesem Abend, die Kinder ins Bett zu bringen. Sonst sitzt man nach dem Festessen lange in der mit frischem weißem Sand ausgestreuten Stube zusammen, in der es nach Gans, nach Bratäpfeln und Tanne riecht. Sogar für die heilige Familie sind Gedecke aufgetragen worden, und diese drei Teller zwingen alle um den Tisch zu einer solchen Feierlichkeit, als säße das heilige Paar mit seinem Kind leibhaftig unter ihnen. Heute Abend stehen nur drei überflüssige Gedecke da, auf die Amalie in Gedanken versunken blickt: ja, zu Hause, bei ihren Eltern, da waren schon einmal Fremde am Tisch gewesen und haben von diesen Gedecken gegessen. In diesem Haus ist das all die Jahre, die sie hier wohnt, noch nie vorgekommen, weil ihre Schwiegermutter bei dieser Feier keine Fremden am Tisch haben wollte. Und das ist auch so geblieben, als die alte Frau gestorben war.

Nachdem sie das Weihnachtslied ’Lulajze Jezuniu‘ gesungen haben, dürfen die Kinder endlich vom Tisch aufstehen und sich über das hermachen, was ihnen beschert worden ist. Amalie hat, als sie die Führung des Haushalts übernommen hatte darauf bestanden, dass das Weihnachtsmahl und damit der Tag mit diesem schlichten polnischen Lied beendet werde. Die Schwiegermutter hatte sich, so lange sie lebte, durchgesetzt und das deutsche Lied singen lassen: ‚Freuet euch, ihr Christen alle’; seit sie aber begraben ist, singen sie in Erdmanns Haus, obwohl auch Amalie das Polnische ablehnt, ’Lulajze Jezuniu‘.

Jendrik fällt auf, dass seine Frau nach dem Kirchgang noch stiller geworden ist als vorher, und dass sie ungeduldig mit den Kindern ist und keine Freude zeigt. Ihr scheint der Schwiegervater zu fehlen, sagt er sich. Ja, manchmal sieht sie aus, als hätte sie sogar geweint.

„Hast du geweint?“ fragt er sie.

„Nein, weshalb sollte ich weinen? Ich bin nur müde. Nein, es ist nichts.“ Sie schüttelt den Kopf, das genügt ihm, und er lässt sie in Ruhe.

Nach den Feiertagen werden sie mit allen Kindern nach Lodz fahren, um mit Jendriks Bruder das väterliche Erbe zu besprechen. Wenn Amalie daran denkt, dann legt sich etwas um ihren Hals und würgt sie. Sein Bruder und die Schwägerin verursachen ihr Unbehagen. Bei der Beerdigung des Schwiegervaters hat sie alles daran gesetzt, ihnen nicht zu nahe zu kommen; so ist Amalie entschlossen, nicht zu fahren, sondern mit den kleinen Kindern hier zu bleiben.

„Hoffentlich ist besseres Wetter, wenn du mit den Großen nach Lodz fährst.“

„Mit den großen Kindern? Wir sind alle eingeladen“, hat ihr Mann geantwortet.

„Aber es muss sich jemand um das Vieh kümmern!“

„Ja. Um Vieh und um Haus wird sich Witold kümmern!“

„Der Witold? Du willst das alles dem Witold überlassen? Diesem ... Er ist doch noch fast ein Kind!“

„Mit siebzehn Jahren? Ich weiß, was ich ihm zumuten darf.“

„Jendrik, außerdem fühle ich mich in letzter Zeit nicht wohl“, wendet die Frau später ein.

Sie liegt abgewandt und weit weg von ihm im Bett. Obwohl sie den ganzen Tag gearbeitet hat und so vieles bedenken musste – sie kann nicht einschlafen. Der Gedanke an den Besuch bei der Lodzer Verwandtschaft hat alle Müdigkeit verscheucht. Es ist, als hätte sich die Klammer, die sie um den Hals spürte, auch noch um die Brust gelegt.

Der Mann lässt sich Zeit, ehe er sagt: „Ja, das habe ich bemerkt. Aber die Pflege meines Vaters war für dich auch viel zu ...“

„Nein, nein, das ist es nicht, Jendrik, nicht das ...“

„Was ist es dann?“

In dem Bettchen nebenan werden die Zwillinge unruhig, die sie im Frühjahr geboren hat, und eins von ihnen beginnt zu wimmern. Amalie hat ihm heute den Grund ihres Unwohlseins sagen wollen, aber sie sagte es nicht.

Sie steht auf und tappt auf bloßen Füßen zu den Kleinen, um sie zu beruhigen. Als sie sich wieder zu Jendrik legt, da ist er schon eingeschlafen.

Durch den Riss in der Fensterlade scheint der Mond. Oder leuchtet der Schnee in dieser Nacht so hell? Nach und nach bekommen einige Dinge in der dunklen Stube durch das spärliche Licht Konturen oder sie verzerren sich zu Spukgestalten.

Wenn sie mit der Schwägerin, dieser Antonya, zusammen ist, dann wird der Boden unter ihren Füßen unsicher. Ihr ist, als klaffe ein tiefer, ein unüberbrückbarer Riss zwischen ihr und der Schwägerin. Antonyas Art zu sitzen, plötzlich aufzustehen und etwas in der Stube unter die Lupe zu nehmen, ihre Art zu sprechen – das verunsichert sie. Wenn jene Fragen stellt oder Antwort gibt – deutlicher kann man das Gegenüber nicht klein machen, findet Amalie. Und wie sie mit dem Besteck umgeht! Wenn wir beide zusammen kommen, dann wechseln wir in fremde, in gegensätzliche und beklemmende Welten. Nein, in Antonyas Nähe packt mich nichts als Unbehagen. Warum soll ich tagelang mit dieser Frau zusammen sein, wenn es sich so verhält?

Mag Jendrik seine Verwandten besuchen! Mag er auch die größeren Kinder mitnehmen. Ich werde nicht fahren!

„Wie soll ich mit den größeren Kindern fahren können? Wenn sie schreien, dann werden sie nach dir schreien! Ich kenne sie doch: schon während der Fahrt wird das Gequengel losgehen“, hatte er gebettelt. Und als sie schwieg, hatte er weiter eingewandt: „Und außerdem muss ich mich mit dir besprechen können, Malchen. Du weißt, dass ich nur ungern Entscheidungen treffe, die nicht mit dir besprochen wurden ...“

„Und wenn ich sie nicht gutheiße – du tust dennoch, was du für richtig hältst!“, hatte sie ihn heftig unterbrochen. „Du hörst ja überhaupt nicht auf das, was ich sage, Jendrik!“

„Das ist nicht wahr! Ich höre schon auf dich, aber du bist oft sehr zögerlich, dir fehlt oft die Entschlusskraft, die für so manche Entscheidung nötig ist. Bedenken, ja, das ist gut. Aber man kann nicht alles so lange bedenken, wie du es machst. – Du wirst mitfahren. Und wenn du es bei ihnen nicht mehr aushalten kannst, nun, dann fahren wir eben wieder heim“, bettelte er weiter.

Nein, dazu wird es nicht kommen, wollte sie ihm antworten. Auch das hat sie ihm nicht gesagt. Denn sie wird hier bleiben, und wenn sie eine Lüge erfinden muss! Ja, dazu ist sie bereit!

Aber wie anders ist es, wenn er vor ihr steht und mit ihr spricht! Dann ist es mit ihrer Standhaftigkeit vorbei.

Sie hat ihm nicht viel entgegenzusetzen gehabt, und eine Lüge, nun die ist ihr bis jetzt auch noch nicht eingefallen. Wenigstens eine solche nicht, die ihn hätte überzeugen können, die einleuchtend gewesen wäre.

Sie wird mir schon einfallen, sagt sie sich und hört ihm zu, wie er tief und gleichmäßig atmet.

Etwas Beruhigendes und Angenehmes geht durch sie und lässt sie schließlich einschlafen.

Kapitel 2

Im Zimmer ist es dämmerig und still. Wenn Schnee liegt, ist es länger hell, aber bis in dieses Zimmer kann kein Schnee heraufleuchten. Es liegt in der oberen Etage der Villa Stanislaus Erdmanns, zudem halten breite und schwere Fenstervorhänge das Licht draußen. Hier sind sie nicht so sehr auf das Tageslicht angewiesen, in allen Zimmern dieses Hauses hängen prachtvolle Lampen, die jederzeit Licht spenden, mehr Licht, als wenn Amalie in ihrer Stube in Zdunska Wola alle Petroleumlampen und ihren ganzen Kerzenvorrat angezündet hätte. In der Ecke tickt die große Wanduhr, die zu gewissen Zeiten sogar eine kleine, abgehackte Melodie hören lässt; das wäre der Anfang eines Volksliedes, wurde ihr gesagt.

Amalie sitzt vor dem Fenster im Erkerzimmer, auf dem Schoß liegt eine Stickarbeit, ein Geschenk ihrer Schwägerin Antonya. „Ich weiß, dass du solche Arbeit von jeher gerne gemacht hast“, hat Antonya gemeint. „Wenn sie fertig ist, dann soll sie dich an diese Tage in Lodz erinnern!“ Es ist eine komplizierte, eine kostbare Arbeit und Amalie findet, die passe eher in dieses Haus, nicht in ihre derbe Stube.

Eben hat die Halina, das stupsnasige Hausmädchen, die Schwägerin nach draußen gebeten. Die Halina ist eine direkte, eine unverblümte Person. Gleich bei der ersten Begegnung hat sie erkennen lassen und eine Bemerkung gemacht, dass sie diese Leute vom Land nicht mag.

Amalie überlässt sich ihren Gedanken.

Sie denkt an die lange Fahrt in der kalten Kutsche, die der Schwager geschickt hat. Die Nachbarn in Zdunska Wola waren nicht besonders überrascht, diese Kutsche vor Erdmanns Haus zu sehen. Sie wussten, das sind die Lodzer Verwandten. Ein wenig erstaunlich war es für sie, dass nach dem Weihnachtsfest das Gefährt wieder auftauchte und gleich für einige Tage auf dem Hof stand. Keiner konnte sich erinnern, sie vor der Beerdigung des alten Siegismunds in dieser Stadt gesehen zu haben.

„Werdet ihr damit zum Jahreswechsel so vornehm in die Kirche fahren?“, wurde Amalie gefragt.

„Nicht in die Kirche.“ Dann etwas überheblich: „Nach Lodz fahren wir. Zum Schwager.“

„Ei, seid ihr vornehme Leute geworden!“

War das vergnüglich! Amalie muss jetzt noch darüber lachen. Nachdem sie sich gegen die Fahrt nicht mehr verweigern konnte, gab es schon wegen der Kinder vieles zu bedenken; dazu die Aufregung und Fragerei bei ihnen!

Für die Kinder hat sie Ziegelsteine heiß gemacht und Wärmflaschen mitgenommen und sie zu ihnen in die Decken gelegt. Es dauerte nicht lange, ein wenig hinter Zdunska Wola, und die Kleinen haben zu jammern angefangen und über kalte Füße und Hände geklagt. So mussten sie und Jendrik während der langen Fahrt abwechselnd das eine oder andere auf den Schoß nehmen, um es zu wärmen.

Als sie durch Pabianice gefahren sind, haben die Kinder Gucklöcher in die vereisten Scheiben gekratzt und gehaucht und sich die Nasen platt gedrückt. In Lodz schließlich wollten sie aussteigen und zu Fuß gehen. Solche breiten und festen Straßen, wo sich Geschäft an Geschäft reiht und wo in einer einzigen Straße mehr Menschen unterwegs waren, als in ihrer Stadt wohnen – das hatte keiner von ihnen je gesehen. Auch Amalie und ihr Mann staunten, und gegenseitig machten sie sich auf die vielen unerhörten Dinge aufmerksam, die es hier zu bewundern gab. Zu beiden Seiten der Straßen standen hohe Lampen, die von einem Mann mit einer langen Stange angezündet wurden, so dass es selbst am Abend heller war als an manchen Tagen in dieser Zeit. Und in unerhörter Fahrt jagten Kutschen rechts und links an ihnen vorbei, dass ihnen schwindelig werden konnte.

„Wohnen hier denn nur Reiche?“ hat sie ihren Mann gefragt. „Wie gut die gekleidet sind! So wohlgenährt ...“

„Das ist die Stadt“, versuchte der Mann zu erklären. „Da kleiden sie sich anders als bei uns auf dem Land. Hier verdienen sie in den Fabriken gutes Geld. Sogar die Frauen arbeiten, sagt Stanislaus.“

Amalie ist entsetzt. „Die Frauen arbeiten? Und die Kinder!“

„Frag meinen Bruder. Arme gibt es hier auch mehr als genug. Die fallen nur weniger auf.“

 

Sie wunderten sich über die schnurgerade Straße, durch die Menschenmassen schwärmten, über die aneinandergereihten Häuser wunderten sie sich, in denen sie Geschäft an Geschäft sahen. Dann bogen sie in ein stilleres Viertel ein, in dem weniger Menschen unterwegs waren. Nur die Kutschen jagten noch hin und her. Die dichten Häuserfronten blieben zurück, dafür tauchten zu beiden Seiten der Straße Villen auf mit Erkern und verzierten Giebeln, mit hohen hellen Fenstern, vor denen durchscheinende Vorhänge hingen, über die die Frau sich sehr wunderte. Hinter den Scheiben erkannten sie Menschen, die in den Abend schauten oder miteinander sprachen. Manche Villa stand dicht an der Straße, aber eine hohe Mauer oder ein kunstvolles Gitter schirmte sie ab. Andere versteckten sich in einem weiten Park, und der Weg dahin wurde von kleinen Laternen beleuchtet; in der Ferne blinkten ihre Lichter aus hohen Fenstern in die Dunkelheit.

Das Pferd, das ihre Kutsche zog, in der sie saßen, ist ruhig und gelassen durch das Gewühl gegangen. Plötzlich jedoch verfiel es in einen leichten Trab. Es hielt sich dicht an der rechten Straßenseite und einige Frauen, die nebenher gingen, grüßten, und Männer zogen ihre Mütze vom Kopf und verneigten sich.

Sie haben die Straße verlassen und sind in einen dunklen Weg eingebogen, der vom Schnee freigefegt worden war. Verschneite Tannen waren zu erkennen, schwarze Baumstämme und Büsche, die sich unter der Last des Schnees bogen. Nach einer scharfen Kurve tauchte rechts neben der Kutsche ein Haus mit Säulen und einer weiten Freitreppe auf. Jemand leuchtete mit einer Fackel durch das Wagenfenster und rief: „Sie sind da! Sie sind da!“

Augenblicklich waren die oberen Stufen der Treppe voller Licht. Amalie erkannte den Schwager und die Schwägerin, daneben deren Kinder und etwas im Schatten die stupsnasige derbe Person in ihrer Dienstkleidung.

„Wie weit bist du denn, Schwägerin?“ fragt Antonya so leise, als sei jemand eingeschlafen. Sie ist ins Zimmer gekommen, ohne dass Amalie sie bemerkt hat. Antonya lehnt gegen den Porzellanofen. Sie steht tief im Schatten und ist noch immer nicht zu erkennen.

„Ach, Antonya, Schwägerin, bist du hier? Ich habe dich gar nicht gehört. Wovon sprichst du?“

„Von deiner Schwangerschaft. Ich habe das bei der Beerdigung schon bemerkt.“

„Es müsste der dritte Monat sein.“

„Nicht weiter?“ Sie tritt aus dem Schatten. „Diese unersättlichen Kerle!“ schimpft Antonya mehr für sich.

„Nein, ich freue mich auf dieses Kind, denn es wird das letzte sein ...“ gibt Amalie zurück.

Antonya kommt an Amalies Seite, gallig sagt sie: „Ja, das hat man uns gelehrt: freue dich, denn zum Gebären bist du da. Freue dich, Kinder sind eine Gabe des Himmels. Aber jede dieser Himmelsgaben zerstört unseren Körper und macht uns mit einem Schlag um Jahre älter und hinfälliger, und dann ...“ Sie bläst verärgert Luft durch die Nase. „ ... und dann, dann machen sich die Kerle davon und lassen uns mit unseren Himmelsgaben im Regen stehen! So ist das! So machen sie es alle.“

„Jendrik nicht“, widerspricht Amalie.

„Vielleicht jetzt noch nicht.“

Amalie ist, seit sie dieses Haus betreten hat, noch irritierter, als sie es vor der Reise gewesen ist. Diese Antonya ist so ganz anders als jene, die sie vorher kennengelernt hat. Antonya wirkte immer etwas fremd, etwas zurückhaltend und von oben herab, nicht selten sogar dünkelhaft. Der Schwiegervater nannte sie das ‚Polnische Madamchen’, wenn sie oder Stanislaus nicht in der Nähe waren. Oder er winkte ab oder zog die Mundwinkel verächtlich nach unten, wenn jemand ihren Namen erwähnte. Es soll sogar zwischen ihm und Stanislaus, seinem älteren Sohn, zu lauten, zu aufbrausenden Auseinandersetzungen nach der Hochzeit gekommen sein, worauf der Sohn sich nicht mehr in Zdunska Wola sehen ließ. Erst als die Mutter beerdigt wurde, traf er mit dem Vater zusammen und hat sich mit ihm ausgesprochen; zu einer Aussöhnung sei es nicht gekommen, hat der Sohn durchblicken lassen. Antonya ist, als es zu dieser Begegnung kam, in Lodz geblieben.

Das war vor acht Jahren.

Antonya beugt sich über die Handarbeit und hebt sie etwas in die Höhe, um sie besser besehen zu können. „Wie sauber du stickst, Schwägerin. Das sieht aus, als würdest du nichts anderes tun, als käme es aus Asien. Es heißt, die handarbeiten so vollendet wie kein anderer.“

Amalie lacht etwas. „Ich habe seit Jahren nicht mehr gestickt. Was ich getan habe, Schwägerin: am Webstuhl habe ich gesessen! Seit der Heirat – nur am Webstuhl. Dann kamen die Kinder. Haus und Garten waren zu versorgen, zuletzt dazu noch die Schwiegereltern ...“

„Ja, du bist stark. Ich hätte das nicht gekonnt.“

„Nein, stark bin ich nicht.“

„Ich fühle mich an manchen Tagen schon mit den Leuten hier überfordert! Alle diese schwerfälligen Schädel! Wenn du denen nicht jede Einzelheit vorkaust –“ Antonya läutet, und augenblicklich erscheint die Halina, diese stupsnasige Person, als hätte sie hinter der Tür gestanden.

„Halina, bringen Sie uns den Tee. Aber hierher an den Ofen!“ fügt sie mit Nachdruck hinzu.

Später, die Halina hat gehorsam ein Tischchen an den Porzellanofen getragen und einen Stuhl dazugestellt, gesteht Antonya: „Ich habe mich auf das Zusammensein mit dir, Schwägerin, gefreut. Ich weiß, dass du überhaupt keine Lust hattest, nach Lodz zu kommen. Aber ich wollte, dass du mitkommst! Du und die Kinder. Ich dachte mir, nein, ich habe es gehofft, dass das eine Gelegenheit ist, die uns zwei näherbringt ...“ Sie bricht ab und machte eine Pause. Dann: „Zwichen uns gab es immer so etwas wie eine Mauer. Weißt du, ich finde, dass die eingerissen werden muss; ich habe das Gefühl, dass wir uns verstehen könnten.“

Amalie macht ein Gesicht, als verstehe sie nicht.

Die Schwägerin sagt: „Mit den Schwiegereltern war es auch für mich nicht leicht. Sie haben mich abgelehnt. Sie sagten: Wenn so eine sich in eine Weberfamilie drängt, dann will sie etwas. Sie haben mich auch gefragt: Was wollen Sie mit unserem Sohn? Der passt nicht dahin, wo Sie herkommen. Wir sind Weber, wir leben von der Arbeit unserer Hände, ehrlich und aufrichtig. Sie waren hart, alle beide! Hart und fromm und stolz. Und misstrauisch gegen alles, was ihnen fremd war. Sie sagten: Um uns zusammenzubringen, habe mein Vater den Stanislaus gekauft.“

„Wenn ich dabei war, dann wurde nie über die Sache gesprochen“, sagt Amalie. „Aber wie kann man einen Menschen kaufen?“

„Aber das weißt du, dass mein Vater Stanis’ Studium bezahlt hat. Die Schwiegereltern hatten dafür kein Geld. Und hätten sie’s gehabt, dann hätten sie nichts herausgerückt. Wie kann ein Webersohn studieren? Das macht ihn vor der Obrigkeit verdächtig! Für die geriet die Welt aus den Fugen, weil der Sohn aus allem Vertrauten, aus der alten Ordnung auszuscheren versuchte. So etwas hat’s bei den Erdmanns noch nie gegeben!.“

Es ist so dunkel im Zimmer, dass die Frauen sich nicht sehen können. Antonya zündet eine Kerze an und stellt sie auf das Tischchen. „Dass Stanislaus mich liebte und ich ihn – das war für die Schwiegereltern ebenso unmöglich. Wer heiratet denn aus Liebe? Neumodische Kindereien sind das. Wenn geheiratet wird, dann wird weder aufs Gesicht noch auf die Figur geguckt, vielleicht auf den Charakter, sondern auf das, was der andere in der Tasche hat. Aber diese Regel galt bei uns nicht. Nicht bei Stanislaus, nicht bei mir. Denn ...“ Antonya kichert. „Obwohl ich doch, wie man so sagt, mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde – so eine wollten sie trotzdem nicht. So hoch hinaus sollte der Sohn nicht langen, denn da stürzt man schnell und tief!“

Sie ist aufgestanden, um den Rücken am Ofen zu wärmen. „Was man vom Adel zu halten habe, das wisse jeder, sagten sie zu Stanislaus. Der Adel ist faul, er presst die Menschen aus, hat einen Dünkel, dass es zum Himmel stinkt. Selbst wenn er so unbedeutend ist, wie wir es sind. – Bei der Beerdigung des Schwiegervaters überfiel mich wieder die Erinnerung und dieses ... dieses Gefühl, dass ich eine Fremde in der Familie bin und wohl auch bleiben werde.“