Die Bärin Roman

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„Es tut gut, sich jemandem anvertrauen zu können!“, ruft Käthe Gresshage hinter ihr her. „Danke für Ihren Besuch!“

„Weihnachten gehen wir alle in die Kirche!“, bestimmt die Großmutter und klatscht ihren Teig auf den Tisch, dass es im Fußboden dröhnt. „Wenn die Kleinen mitgehen, Bruno, dann gehst auch du einmal mit!“

Der Bruno sitzt vor der kleinen Fensterscheibe. Seit Tagen ist es neblig, und dieses Wetter drückt aufs Gemüt, findet er, es macht müde und reizbar. Und obwohl er einmal sagte, er werde nie mehr das Verlangen nach Schnee verspüren – jetzt wünscht er sich eine kalte und klare, eine freundliche weiße Welt. Hinter seinem Rücken walkt und knetet die Mutter den zähen dunklen Teig, aus dem sie Weihnachtsgebäck herstellen will. Bis jetzt hat er geschwiegen, aber er mag sich ihr Gerede nicht mehr anhören. Wäre das Wetter besser, dann wäre er schon lange nach draußen gelaufen. Wenn sie wieder anfängt, dann wird er gehen. Er möchte es ihr sagen, aber schweigt.

„Wir haben endlich Frieden“, hört der Bruno sie murmeln. „Wir haben überlebt und sind heil geblieben – sollten wir da nicht in die Kirche gehen? Ja, ich bin selbst sehr nachlässig darin geworden. Früher hat keiner von der braunen Horde mich vom Kirchgang abhalten können, ich bin immer gegangen! Gütiger Himmel, was habe ich für Umwege gemacht! Und jetzt kann ich alle Tage gehen, und ich gehe nicht! Möge Gott mir verzeihen... Dass wir unser Leben behalten haben, dass uns kein Arm oder Bein weggeschossen wurde, das ist nicht unser Verdienst, nein...“ Wieder klatscht sie den Teig auf den Tisch, dass der Bruno den Verdacht hat, sie lasse ihren Ärger, der ihn treffen sollte, an diesem Klumpen aus. „Ja, ja, auch wenn wir Not leiden – aber wir haben doch endlich Frieden. Seit gut einem halben Jahr Frieden! In die Kirche wird gegangen, da gibt es kein Wenn und Aber! Haben wir nicht alle gelobt: Wenn wir überleben, dann werden wir uns ändern, werden uns an den erinnern, der uns bewahrt hat.

Die einen saßen im Bunker oder im Luftschutzkeller und hatten die Bomben über sich, die anderen lagen im Schützengraben und über ihren Köpfen dröhnten die Geschütze – hat denn keiner so etwas versprochen?“ Durch ihr Erzählen ist manche schlimme Begebenheit wieder lebendig geworden, so dass ihr Kinn zu zittern beginnt; die Hände im Teig, sieht sie zu ihrem Sohn hin: „Bruno, könntest du mir diesen Gefallen tun?“

„Was hast du davon?“, knurrt er. „Ob ich nun da sitze oder hier in der warmen Stube... Was hast du davon? Nichts! Du willst nur wieder einmal deinen Willen durchsetzen!“ Er dreht sich jäh zu ihr um. „Du weißt, dass ich nie dahin gegangen bin. Mir reichte ein für alle Mal der Konfirmandenunterricht mit den Gottesdienstbesuchen! Das reicht bis ans Ende meiner Tage! Und was du da eben von einem Versprechen gesagt hast: Ich, Mutter, habe nie so etwas versprochen. Niemandem. Auch nicht dem da oben!“ Er deutet gegen die Zimmerdecke.

„Bruno, du bist hart!“, ruft sie. „Ja, hart bist du, undankbar und kaltherzig! Du erträgst es nicht mehr, bei uns zu sein. Wochenlang bekommt man dich nicht zu Gesicht. Wenn ich doch wüsste, was in dich gefahren ist, Bruno!“

Der Bruno ist wütend aufgesprungen und hat den Stuhl umgestoßen. „Mutter, wenn du nicht willst, dass ich davonlaufe, dann sei still, bitte. Ich habe auch meine Schwierigkeiten: Arbeit ist nicht zu bekommen, und dann...“

Die Mutter kommt an seine Seite und hebt den Stuhl auf. „Was ist: und dann, Bruno?“

Bockig wendet er sich ab und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und schweigt. Die Mutter will ihm ins Gesicht sehen, und wieder fragt sie: „Bruno, was heißt: und dann?“

„Ihr Frauensleute könnt einem ganz schön auf die Nerven gehen.“

„Frauensleute?“, fragt die Mutter. Über ihr Gesicht huscht ein verstehendes Lächeln; das ist es also, sie weiß Bescheid. „Weißt du, Junge: Auch wenn es einmal nicht so kommt, wie wir es uns wünschen – davon, Bruno, stürzt nicht gleich der Himmel ein!“

Beinahe fluchtartig rennt er aus dem Zimmer. „Mutter, du immer mit deinen Sprüchen!“, hört sie ihn schimpfen. Im Flur springt er mehrere Stufen gleichzeitig hinunter; vom Balkon sieht sie, dass er immer noch rennend die Joppe überzieht und in Richtung Luisenpark läuft.

Zu seinem Ärger mit der Arbeit hat der Junge auch noch Kummer mit seinem Mädchen, denkt die Großmutter. Er sollte sie einmal mitbringen und uns vorstellen, das festigt die Beziehung. Beim Vater und mir war es nicht anders. Ja, ich werde sie einladen, vielleicht an einem Weihnachtstag. Huhn oder Kaninchen können wir nicht mehr bieten, die wurden von anderen gefressen. Aber es wird mir schon etwas einfallen! Obwohl Teig an ihren Händen klebt, hat die Mutter wegen der Kälte beide Arme um ihren Körper geschlungen. Sie sieht dem Bruno nach, bis er hinter den Ruinen verschwunden ist; erst jetzt geht sie in die Stube und an ihre Arbeit zurück. Neben dem Herd hat der Vater einen Arm voll Holz abgelegt, damit sie ordentlich feuern kann. Ein Blech wird sie mit Brezeln backen, ein zweites mit Fladen, die sie mit einer Tasse aus dem ausgerollten Teig stechen wird. Im Herbst hat sie Kürbiskerne gesammelt, damit wird sie das zweite Blech mit den kreisrunden Fladen verzieren, dass es aussieht, als wäre es Mandelgebäck. Und als der Vater durch den Türspalt späht, meint sie, dass zu Weihnachten Tannenduft gehöre, zumal zu diesem ersten nach dem Kriege, das sie in Friedenszeit feiern können.

„Vater, sieh dich einmal im Luisenpark um“, schlägt sie vor. „Du kennst dich überall gut aus. Über einen Tannenstrauß werden Ursulas Kinder sich freuen, und wir freuen uns auch!“, fügt sie hinzu. Der Vater lacht und schließt leise wieder die Tür und steigt nach unten. Diesmal geht sie nicht auf den Balkon, um ihm nachzusehen.

Gegen Mittag setzt am Heiligabend Regen ein. Vorsorglich hat der Großvater wieder reichlich Holz neben dem Herd aufgestapelt, und die Großmutter legt ordentlich nach, dass die Platten glühen. „Wenn wir uns sonst auch einschränken – heute muss es gemütlich sein“, hat sie gesagt. „Denn wir feiern Weihnachten, Weihnachten ohne Sirenengeheul, ohne Flugzeuggedröhn und zusammenkrachende Häuser. Eben Friedensweihnacht!“

Als es zu dunkeln anfängt, haben Mutter und Großmutter die Zinkwanne auf zwei Stühle gestellt, haben sie mit Wasser gefüllt und ein Kind nach dem anderen gebadet. Danach wurden sie von der Mutter ins Bett gebracht, weil sich das vor dem Heiligen Abend so gehöre, hat sie ihnen auf ihr erstauntes Fragen geantwortet. Nachdem die Kinder gebadet waren, haben die Erwachsenen die Wanne auf den Boden gestellt und sich nacheinander darüber gewaschen. Von ihnen kann keiner hineinsteigen, weil sie zu klein ist. In der Stube ist es derart heiß, dass Ursula, die vor der Wanne kniet, die Balkontür einen Spalt geöffnet hat, und da entdeckt sie einen kleinen, etwas schiefen Tannenbaum, den der Großvater vor ihr und den Kindern versteckt hat. Da kniet sie über ihrem Badewasser und weint laut in ihre Hände, dass die Großmutter besorgt an die Tür klopft und fragt, was denn wäre.

„Nichts! Es ist nichts, ich habe Wasser in die Nase bekommen!“, antwortet sie. Einen Moment lauscht sie, ob die Mutter noch hinter der Tür horcht, dann überlässt sie sich wieder ihrem Gefühl, verloren und – wie Käthe Gresshage es gesagt hat – amputiert worden zu sein. Bis vor kurzem hatte sie die Hoffnung, im nächsten oder übernächsten Jahr mit Reinhold Weihnachten feiern zu können. Jetzt weiß sie, was ihm widerfahren ist und dass sie künftig allein mit den Kindern sein wird, mit Reinholds Kindern. In den beiden Jungen und dem Mädchen wird er ihr nahe sein, in den Gesten, in der Art, die er den Kindern vererbt hat. In den vergangenen Monaten hat sie nicht in der Weise um ihn trauern und ihn beweinen können wie an diesem Abend, an dem sie vor ihrer Zinkwanne kniet und sich für das bevorstehende Fest reinigt. Diese Reinigung dauert lange, und als sie endlich fertig ist, fühlt sie sich ganz leer, wie ausgeschabt. Ursula Andreae hat sich nicht nur äußerlich gereinigt, sie hat mit dieser Reinigung wohl auch in ihrem Innern etwas Drückendes und Schweres abgewaschen. Hastig gießt sie das Badewasser Eimer für Eimer in den Ausguss, dann huscht sie an der Mutter vorbei in ihre Schlafstube und legt sich ins Bett. „Lass mir eine halbe Stunde Zeit“, sagt sie. „Ich habe das Verlangen, mich aufzuwärmen.“

Gegen Abend, es ist schon lange dunkel, gehen alle in die Kirche, nur Bruno fehlt, und die Großmutter hofft, dass er vorausgegangen ist. Aber in der übervollen, in der dämmerigen Kirche kann sie ihren Sohn nicht sehen. Heute ist der ganze Kirchenraum für die Gottesdienste hergerichtet. Pastor Mildenberg hatte mit dem Auftauchen der Flüchtlinge einen Teil abtrennen und mit Stroh füllen lassen, um ihnen eine vorübergehende Bleibe zu bieten. An diesem Tag ist die Kirche wieder Kirche, vollgestellt mit Bänken, mit Kerzen auf dem Altar; seitlich davon steht eine fast bis an die Decke reichende Tanne mit einigen Strohsternen. Zwischen den Bänken und in den Ecken sind noch Reste vom Stroh zu sehen, aber wo die Flüchtlinge geblieben sind, das weiß keiner. Es geht das Gerücht, dass der Pastor sie alle in sein Pfarrhaus geholt habe, das vom Keller bis zum Dachboden mit Menschen vollgestopft sei. Pastor Mildenberg sieht alt aus, und er ist mager geworden, aber seine Stimme kommt der Gemeinde wie eine Posaune vor, die von der Kanzel herunter lautstark die Botschaft vom Frieden, von Versöhnung und Gottes-und Menschenliebe bis in den hintersten Winkel verkündet: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Diese Worte ruft er immer wieder, so dass einige in der Gemeinde sie leise mitsprechen.

Was für eine kräftige Stimme noch in diesem kläglich gewordenen Menschen steckt! Andächtig lauschen sie, die einen wischen ihre Augen, andere schnäuzen sich immerzu, wieder andere sitzen bewegt und nickend und versuchen Ordnung in ihren Kopf zu bekommen, der voller Gedanken und Erinnerungen ist.

 

Während des Gottesdienstes laufen die Tränen über die Wangen der Großmutter, und die Mutter hält die ganze Zeit ihr Taschentuch an den Mund gepresst; nur der Großvater sitzt da, vornüber gebeugt, die Hände im Schoß, als halte er einen Schuh, der frisch besohlt werden müsse. Die Kinder langweilen sich und würden gerne etwas fragen, aber das sonderbare Verhalten von Großmutter und Mutter macht sie scheu und lässt es nicht zu. So schweigen sie und betrachten den riesenhaften Tannenbaum mit den sich drehenden und schaukelnden Strohsternen.

Die Wohnung ist dunkel und immer noch sehr heiß, als sie nach Hause kommen, und vom Bruno ist auch hier nichts zu sehen. Sie essen ihr Weihnachtsessen, Stampfkartoffeln und eine süßsäuerliche Tunke, in der Reste einer Handvoll zerfaserter Backpflaumen schwimmen. Während der Abendmahlzeit sagt die Großmutter, dass alle, außer dem Großvater, sich zurückziehen sollten, weil das Christkind kommen werde. Als Ursula mit den drei Kindern in ihrer Schlafstube wartet, entsteht Unruhe und auch Lärm in der Stube nebenan, in der die Großmutter zu hören ist. Es ist der Bruno, der am Arm seines Mädchens gekommen ist.

„Dass du in einem solchen Zustand kommst, das habe ich nicht von dir erwartet! Nein, Bruno, das habe ich dir nicht zugetraut!“, schimpft die Großmutter. Der Bruno gibt ihr eine merkwürdig klingende Antwort, worauf die Großmutter ihn anfährt: „Dass du dich an diesem Abend besäufst, Bruno! Schande über dich! Und Sie, Sie bringen ihn mir auch noch ins Haus! Hätten Sie ihn doch gelassen, wo er das gefunden hat, wonach er suchte! Unsere erste Friedensweihnacht, die habe ich mir anders vorgestellt!“ Eine fremde, weibliche Stimme versucht, etwas zu erklären. Die Großmutter ist still, der Großvater antwortet der Fremden so ruhig und bedächtig, dass niemand wagt, den Mund aufzutun und etwas dagegen zu sagen. Für längere Zeit kann Ursula nichts mehr hören, dann wird die Wohnungstür krachend zugezogen, und sie bekommt mit, wie die Eltern sich leise besprechen. Es dauert lange, bis die Großmutter die Tür zur Schlafstube öffnet und seltsam verärgert sagt: „Nun kommt einmal herüber. Ihr seid beschert worden.“

Der Tochter flüstert sie zu: „Es war der Bruno, der gekommen ist. Jetzt ist er wieder fort.“

In der Zimmerecke neben der Balkontür steht ein kleiner Tannenbaum auf einem Stuhl, ein Tannenbaum mit einigen Lichtern und Flitterschmuck aus buntem, glänzendem Papier. Die Kinder drücken sich fassungslos an die Mutter und starren dieses Wunder an, und die Großmutter lehnt sich mit feuchten Augen an den Türrahmen und wischt ihr Gesicht. Auch die Mutter weint. Sie weint ohne einen Laut, nur ihre Schultern werden wie von einer unsichtbaren Hand geschüttelt. Schließlich sagt der Großvater, der sich an den Tisch gesetzt hat: „So weint doch nicht. Das hier ist keine Beerdigung, es ist Weihnachten. Danach habt ihr euch doch gesehnt, Mutter, Urschel! Uns wird kein Alarm, kein Flieger stören...“

„Nein, die nicht, die nicht, aber...“, antwortet die Großmutter bitter. „Da gibt es anderes...!“

Sie schluckt ein paar Mal und seufzt, dann scheint sie sich gefasst zu haben, denn sie schlägt vor, ein Weihnachtslied zu singen. Die Mutter sträubt sich, ihr sei nicht nach Singen zumute.

„Willst du wie alle anderen Abende am Tisch sitzen? Es ist Weihnachten, und zu Weihnachten, Urschel, wird gesungen!“, entscheidet sie. „Wir singen: ‚Vom Himmel hoch, da komm ich her’. Das ist ein Lied, das auch die Kinder verstehen. Wir haben es heute Abend schon in der Kirche gesungen...“ Mit ihrer brüchigen Stimme beginnt sie zu singen, und nach und nach fallen die Mutter und der Großvater ein, und sogar der Wolfgang erinnert sich an die eine oder andere Liedzeile.

Nach der dritten oder vierten Strophe ist ihnen der Text entfallen, da nimmt die Großmutter das Marlenchen an die Hand und führt es an den Tannenbaum. „Das ist für dich, mein Kind.“ Sie zeigt auf eines der drei Häuflein, die mit einem Handtuch zugedeckt sind. Darunter sitzt Marlenchens Stoffpuppe! Die vermisste und unauffindbare Stoffpuppe ist wieder da! Jetzt sitzt sie in neuen Kleidern zwischen einem Schal und ein Paar Handschuhen auf einer Milchsatte mit dunkelbraunen Keksen und schwarzen, splitterigen Bonbons, als säße sie auf dem Töpfchen. Dann holt die Großmutter Achim, zuletzt den Wolfgang. Der Achim hat einen bunten Blechpapagei bekommen, der auf einem Gestell sitzt und bei der leisesten Berührung zu schaukeln anfängt.

„Du bist groß, bist ein Schulkind“, sagt die Großmutter und zieht das Handtuch von Wolfgangs Häufchen: „Für dich ist etwas Kostbares abgegeben worden. Sieh einmal!“ Es ist ein Buch, das über seine Satte gelegt worden ist, halb Bilderbuch, halb Lesebuch, mit kurzen, zweizeiligen Versen. „Das kannst du lesen, das kannst du auch auswendig lernen...“

Jedes Kind hat seine Satte mit den abgezählten Süßigkeiten, die auch alle gleich groß sind. Als Überraschung liegt bei beiden Jungen der Pullover, dessen Ärmel von der Mutter neu angestrickt wurden, sowie ein Paar lange Strümpfe und neue Leibchen. Die Mutter besteht darauf, sie sogleich anzuziehen. „Es ist Weihnachten“, sagt sie. „Da dürft ihr ruhig adrett aussehen. Ihr bleibt ja in der Stube und geht nicht nach draußen – also werden die feinen Sachen auch nicht schmutzig gemacht.“

Sie kann es kaum erwarten, die Jungen in den ausgebesserten Pullovern zu sehen und hilft ihnen beim Umziehen. Dann tritt sie ein paar Schritte zurück, um sie zu begutachten. „Es passt, und gut seht ihr darin aus!“, ruft sie und schiebt beide vor die Großmutter, dass auch sie sie betrachten kann.

„Wie das kratzt“, jammert Achim und er fährt mit beiden Händen in die Strümpfe.

„Was kratzt?“

„Die Strümpfe.“

„Quatsch! Die kratzen nicht. Du bist es nur nicht gewohnt, solche Strümpfe zu tragen. In ein paar Stunden hast du dich daran gewöhnt“, sagt die Mutter und wendet sich dem Wolfgang zu. „Gefallen sie dir, Wolfgang?“

„Es stimmt, was der Achim sagt: Die Strümpfe kratzen.“

„Jetzt fang du auch damit an!“, ruft die Mutter gereizt. „In diesen Zeiten muss man nehmen, was man kriegt! Da kann niemand wählerisch sein! Wir sind es auch nicht!“ Mit ihrem Kinn deutet sie zu den Großeltern. „Ja, wisst ihr denn, was wir aushalten? Großmutter, Großvater und ich?“

Die Jungen verlieren kein Wort mehr über diese Angelegenheit, sie sitzen mit ihren Geschenken in der Ecke, aber sie spielen nicht. Als die Großmutter nach ihnen sieht, da bemerkt sie, dass sie still vor sich hin weinen.

„Warum weint ihr?“, fragt sie so leise, dass die Mutter nichts hören kann.

„Weil die Strümpfe kratzen.“

„Lass mich einmal sehen!“ Sie schiebt eine Hand in Achims Strumpf, und als sie sie herauszieht, ist sie blutverschmiert. „Was ist das? Achim? Du blutest ja!“

Beide Jungen haben sich die Oberschenkel blutig gekratzt. Wütend stapft die Großmutter auf die Tochter zu. „Ursula, willst du den Jungen das Weihnachtsfest verderben?“, fährt sie sie an. „Sieh einmal!“ Sie streckt ihr die blutverschmierte Hand hin. „Die kratzen sich die Haut vom Fleisch. In diesen Strümpfen können sie nicht herumlaufen, das ist Dreck: Die fassen sich wie ein alter Sack an.“ Sie geht wieder zu den Jungen. „Hört zu: Ihr zieht das sofort aus!“

„Soll ich die vergeblich herbeigeschafft haben?“, fragt die Mutter. „Was habe ich dafür hergegeben!

Auch wenn sie ein wenig hart sind – sie werden sich daran gewöhnen...“

Nein, Ursulas Protest hilft nichts; in diesem Haus oder in dieser Stunde hat die Großmutter das Sagen, und beide Jungen dürfen sich von diesem kratzigen Zeug befreien. Endlich ist es für sie noch Heiligabend geworden.

Der Heilige Abend ist vergangen, Mitternacht ist vorüber; die Kinder schlafen seit zwei Stunden, und auch die Erwachsenen sind müde und wollen ins Bett, als der Bruno zurückkommt. Wie es aussieht, ist er mittlerweile nüchtern geworden. Wieder hängt er am Arm von Regina Stieglitz, seinem Mädchen, und beide sind verlegen und grinsen die Großmutter an, nachdem sie sie hinter der Karbidlampe im Dunkeln entdeckt haben. Kleinlaut gehen sie zuerst zu ihr und reichen ihr die Hand und wünschen frohe Weihnachten, dann zum Großvater, zuletzt zur Ursula. Die ist verärgert darüber, dass der Bruder diese fremde Person mitten in der Nacht ins Haus bringt. Dadurch, dass die Großmutter für alles Verständnis zeigt, was er sagt und tut und alles entschuldigt, denkt der Bruno nicht über sein Verhalten nach und macht, was ihm gerade in den Sinn kommt, findet Ursula. Vor allem das ärgert sie: dass die Großmutter sich sofort versöhnlich zeigt. Mit ihr, der Tochter, wäre sie anders umgegangen. Und so nimmt sie sich vor, ihren Unmut nicht zu verbergen. Einer muss den beiden zeigen, was er von diesem rücksichtslosen Überfall hält.

„Unseren Festbraten haben wir aufgegessen“, scherzt die Großmutter versöhnlich. „Brot mit Hagebuttenmarmelade, das kann ich euch noch geben.“

Regina lehnt dankend ab, nein, nein, sie seien gekommen, um sich für den unpassenden Überfall vorhin zu entschuldigen. Der Bruno habe nach Hause gewollt, um mit der Familie in die Kirche zu gehen, sagt sie, und das sei die volle Wahrheit. Aber dann habe er doch ein oder zwei Glas Schnaps zu viel getrunken, und er sei plötzlich umgekippt und habe nicht mehr gehen können.

„Bruno, wie bist du denn an den Schnaps gekommen?“, will die Großmutter wissen.

Das Mädchen wird rot. „Mein Vater hat welchen gebrannt“, gesteht sie und sieht sich um, als könnte sie von jemandem gehört werden, der das nicht wissen darf. „Obwohl das verboten ist – er hat Schnaps gebrannt, damit wir was zum Tauschen haben.“

„Wir verraten nichts!“, beruhigt die Großmutter sie. „Aber lassen Sie es nicht zu, dass der Bruno wieder so eine Dummheit begeht und trinkt. Dadurch könnte auch Ihr Vater auffallen.“

Ursula tritt aus dem Schatten, im Licht der Karbidlampe ist sie nur undeutlich zu sehen. Sie stellt sich neben den Bruno. „Ist sie seine Frau? Warum soll sie ihn vom Trinken abhalten, Mutter? Der Bruno ist alt genug und macht sowieso, was er will. Einen Schnaps zu trinken, das ist kein Verbrechen. Lass ihn doch trinken, wenn er trinken kann! Und wenn er hinterher einen schweren Kopf hat, dann muss er allein damit fertig werden. Ich kann versuchen, meine Kinder von Dämlichkeiten abzuhalten, nicht einen erwachsenen Menschen.“

„Was meinst du damit?“, fragt die Großmutter verwundert. „Heißt du es gut, dass er sich betrinkt und dann vergisst, was er sich vorgenommen hat?“

„Ich sage: Der Bruno ist kein Kind mehr, Mutter. Für alles, was er macht und sich in den Kopf setzt, ist er allein verantwortlich. Er braucht niemanden, der auf ihn aufpasst. Dich nicht mehr und seine Freundin auch nicht. Wenn sie seine Frau ist, wird sie ihm sagen, was er lassen soll. Aber ob er sich das sagen lässt...“

„Urschel, wie du redest! Warum greifst du mich an?“ Die Großmutter sieht verwundert von der Tochter zum Sohn, der nur Augen für seine Regina hat. Und weil der Großvater beruhigend nach ihrer Hand greift, sagt sie: „Ach, du bringst mich durcheinander... Über Jahre habe ich mich seinetwegen gegrämt, wie soll ich es plötzlich lassen können?“

Der Bruno hat alles ruhig mit angehört. Plötzlich geht er zur Großmutter und legt einen Arm um sie und küsst sie auf die Wange. „Mutter, du bist nicht mehr böse auf mich?“, fragt er.

Sie sieht ihn, noch verwirrter, von der Seite an. Dann lächelt sie ein wenig und meint: „Richtig böse, Bruno, bin ich nicht gewesen, nur enttäuscht.

Du bist auch gleich so heftig geworden, so aufsässig...“

„Sie kann auf jeden von uns böse werden, nur nicht auf dich“, knurrt Ursula im Dunklen, aber der Bruno verhindert eine neue Verstimmung, indem er erklärt: „Als ich nach Hause gekommen bin, da konnte ich die ersten Nächte nicht in einem Bett schlafen, Mutter. Wie soll ich mich jetzt in einem Leben zurechtfinden, das mich nicht braucht? Ich kann nicht tagelang auf einem Stuhl sitzen und den Himmel ansehen. Ich kann auch nicht Tag für Tag Steine putzen. Ich will das nicht! Ich möchte, dass mich jemand braucht. Dass ich sagen kann: Hier ist meine Aufgabe!“

Seine Hüfte umschlingend drückt die Großmutter ihn an sich. „Bruno, warum sagst du mir das nicht? Wie soll ich dich verstehen? Gott im Himmel, was sind das für Zeiten, dass wir uns nicht mehr verständigen können! Alles ist aus den Fugen geraten, alles!“

Ursula ist verdrießlich geworden, dennoch hat sie Kaffeewasser aufgesetzt, und der Großvater langt nach hinten und stellt Tassen auf den Tisch. „Na, dann ist wohl manches geklärt“, sagt er. „Siehst du, Mutter, nun fängt der Heilige Abend für dich noch einmal von vorne an!“

 

Und dann reden alle gleichzeitig und so laut, dass Ursula fürchtet, ihre Kinder könnten aufgeweckt werden. An der Schmalseite des Tisches schneidet die Großmutter Brot und bestreicht es mit Hagebuttenmarmelade. „Ihr beide seid durchgefroren“, sagt sie. „Und Hunger habt ihr auch. Junge Leute müssen essen...“

Ja, der Bruno langt tüchtig zu. Regina, sein Mädchen, isst nur, weil der Bruno sie nötigt. Als sie ihr Brot aufgegessen hat, blickt sie alle der Reihe nach an, dann geht ihr Blick nach oben und sie sagt so leise, dass die Großeltern eine Hand ans Ohr legen müssen: „Der Bruno und ich – wir haben uns heute verlobt... Und zum nächsten Weihnachtsfest – nicht wahr, Bruno? – zum nächsten Weihnachtsfest wollen wir dann heiraten...“

„Verlobt?“, fragt die Großmutter sprachlos, die es nicht fassen kann, was die Regina Stieglitz verkündet. Sie schaut zum Großvater hin, als bräuchte sie von ihm Bestätigung.

Das Mädchen nickt. „Ja, verlobt... Der Bruno und ich...“

„Hat er deshalb Schnaps getrunken und den Gottesdienst vergessen?“

„Nein, nein. Er hat vom Schnaps probieren sollen, ob der gut ist.“

Über diese Nachricht schüttelt die Großmutter immerzu ungläubig den Kopf und seufzt wieder, und sie weiß nicht, was sie anfangen soll. Der Großvater schiebt die Karbidlampe einige Male auf dem Tisch hin und her, dann meint er: „Ihr habt euch also verlobt, gut und schön. Und heiraten wollt ihr auch bald. Auch das ist zu verstehen.“ Er wendet sich an den Bruno. „Wie willst du eine Familie ernähren, Bruno, wenn du keine Arbeit, kein Einkommen hast? Glaubst du, dass die Zeiten in einem Jahr besser geworden sind?“

„Sie können nicht bleiben, wie sie sind, und schlechter können sie auch nicht mehr werden, Vater. Ich glaube fest daran, dass es auch für mich aufwärtsgehen wird!“

„Na!“ Der Großvater zieht die Karbidlampe zu sich heran, weil die Regina sich die Nase zuhält und den Kopf wegdreht. Ursula nimmt einen Span und zündet die Kerzenstummel wieder an. „Dann wollen wir es zur Feier dieses ungewöhnlichen Tages noch einmal festlich machen“, sagt sie. „Dieses Weihnachten mit einer Verlobung, das nächste dann mit einer Hochzeit. Wenn alles gut geht!“

Sie haben sich so gesetzt, dass sie in das flackernde Licht sehen können. Ursula hat zusätzlich noch die Ofentür geöffnet und etwas Holz nachgelegt. Manchmal flammt das Feuer hell auf und beleuchtet die Gesichter. Der Großvater meint, und es klingt, als spräche er mit sich selbst: „Ach, so ein Schnäpschen, das wäre jetzt nicht verkehrt...“

„So, so, du möchtest auch ein Schnäpschen auf unser Wohl trinken, Vater? Und ihr?“, fragt Bruno die Großmutter und die Schwester.

Er lacht verschmitzt und geht behutsam, um Ursulas Kinder nicht zu wecken, in sein Zimmer, wo er eine kleine Flasche versteckt hat, die er mit den Zähnen entkorkt und neben die Karbidlampe stellt.

„Von meinem zukünftigen Schwiegervater“, sagt er. „Damit wir das Fest begießen können.“

„Weihnachten braucht nicht begossen zu werden!“, ruft die Großmutter, die Gläser auf den Tisch stellt. „Ja, das ist ein fröhliches Fest, aber zugleich auch ein ernstes!“

„Nicht auf Weihnachten, Mutter!“, antwortet der Bruno. „Trinkt auf unser Wohl, auf das, was wir uns vorgenommen haben!“ Er legt seinen Arm um Reginas Schulter, drückt sein Gesicht in ihr Haar und flüstert mit ihr, worüber sie rot wird.

Der Großvater hebt die Flasche, die kein Etikett hat, dicht an sein Gesicht, um den Schnaps besehen zu können.

Der Bruno gießt ein und hebt sein Glas gegen die Runde. „Na, dann prosit!“

Nachdem er getrunken hat, vertraut er seinen Eltern an, dass er bald mit der Regina eine Wohnung nehmen werde. „Wir wollen uns besser kennenlernen“, erklärt er.

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