Die Bärin Roman

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Es war die Großmutter, der Wolfgangs Bedrücktsein, seine Stille und sein Verkriechen auffiel. Sie nahm einen Stuhl und setzte sich so, dass er nicht flüchten konnte und legte ihre Hand auf seinen Arm. „Wolfgang, was ist mit dir?“ Der Junge schluckte, aber er schwieg. „Wir sind allein“, sagte die Großmutter. „Es hört uns keiner, und ich sage es niemandem weiter, was du mir erzählst. Das verspreche ich. Ich schweige wie ein Grab...“

Nach längerem Schweigen begann der Junge zögernd und stockend zu erzählen, und je mehr er der Großmutter anvertraute, umso schlechter gelang es ihm, die Tränen zurückzuhalten. Weinend, mit gesenktem Kopf, schilderte er, wie es im Unterricht zugegangen war. Am Ende meinte er, dass er lieber tot sein würde, als in die Schule zu gehen. Er bedeckte sein Gesicht und schluchzte: „Ja, ich möchte tot sein, dann würde mich niemand hänseln und ärgern, und Lehrer Kiesel könnte mich nicht mehr anbrüllen und treten...“

Die Großmutter, deren Augen sich mit Tränen gefüllt hatten, legte ihre Hand auf seinen Kopf und schwieg. Dann, als der Junge ruhiger geworden war, sagte sie zu ihm: „Wolfgang, ich glaube, das kann ich doch nicht für mich behalten... Ich muss es der Mutter sagen. Die muss zu diesem Kieselstein gehen und mit ihm sprechen. Treten –

das darf der Lehrer nicht!“

„Nein, nicht der Mutter sagen...“

„Doch. Du hast ja Angst vor der Schule. Und wenn du Angst hast, dann kannst du nichts lernen.“

Wann die Großmutter mit der Mutter gesprochen hat, das wusste der Wolfgang nicht, er hat nichts gehört und nichts bemerkt. Aber am Abend, als er in seinem Bett liegt und nicht einschlafen kann, kommt die Mutter in die Schlafstube geschlichen und setzt sich auf die Bettkante. „Du hast Ärger in der Schule gehabt?“

„Ja.“

„Was ist passiert?“

Der Junge erzählt alles noch einmal und die Mutter hört zu, dabei sieht sie ihn unverwandt mit starren Augen an, dass er bereut, ihr davon erzählt zu haben.

„Ein Lehrer tut nichts Unrechtes“, sagt sie. „Wenn er mit dir unzufrieden gewesen ist, dann hast du ihm dafür einen Grund geliefert. Wie kannst du auch zu einem „m“ Bär sagen? Pass in der Schule besser auf, dann kriegst du auch keinen Ärger. Ich habe genug andere Dinge im Kopf, Wolfgang, ich will deinetwegen keinen Ärger haben! Als ich noch zur Schule ging...“ Sie erhebt sich. „Gute Nacht! Versprichst du mir, dass du morgen aufmerksamer im Unterricht bist?“

„Ja.“

Der Junge liegt lange wach. Manchmal weint er still unter dem Deckbett, um den Bruder nicht zu wecken, dann denkt er darüber nach, wie er vor der Schule fliehen kann. Er hört die Mutter in die Schlafstube kommen und sich entkleiden, und als sie sich, nachdem sie beim Achim gewesen ist, auch über ihn beugt, stellt er sich schlafend. Irgendwann ist der Wolfgang dann doch eingeschlafen.

Am folgenden Tag ist es wieder die Großmutter, die ihn am Frühstückstisch forschend ansieht. Die Mutter beschäftigt sich mit seinem Schulbrot und beachtet ihn nicht. Und in einem günstigen Augenblick legt die Großmutter ihm noch einmal die Hand auf den Kopf, wie sie es gestern getan hat. Der Wolfgang begreift, dass niemand ihm dieses Leid ersparen kann und geht gehorsam zur Schule.

Eines Tages ist Lärm auf dem Schulhof, die Kinder sind abgelenkt und recken die Hälse, so dass Baldur Kiesel befiehlt, die Fenster zu schließen. Ein Trupp Arbeiter ist dabei, etliche der Platanen zu fällen, die auf der Grenze des Schulhofes zum Feld in enger Reihe stehen. Die Männer werfen starke Seile in die Kronen und schlingen sie um einen Ast, dann beginnen zwei von ihnen mit dem Absägen des Stammes. Vermittels des Seiles stürzt der gefällte Baum dahin, wohin er fallen soll. In der Pause umstehen in großem Halbkreis die Schüler die zu fällenden Bäume und sehen zu, und Lehrer sind damit beschäftigt, sie aus der Gefahrenzone zu halten. Einer der Arbeiter führt vor, wie genau sich der Punkt abschätzen lässt, wo die Baumkrone auf die Erde schlägt: In langen Schritten misst er ab, wo die Spitze der Krone landen wird; und als der Baum sich senkt, bleibt er ungerührt an seinem Platz und applaudiert dem vor seinen Füßen liegenden Baum. Der Abstand zwischen Krone und seinen Beinen beträgt etwa zwei Meter. Jetzt brechen die Schüler in Begeisterungsrufe aus, sie applaudieren ebenfalls und würden es am liebsten selbst ausprobieren.

Hinter den anderen, in der letzten Reihe, sieht Wolfgang zu. Mit ernstem und aufmerksamem Gesicht steht er für sich allein. Hinter ihm liegt die Schule mit dem Furchteinflößenden Baldur Kiesel, der mit dem einen Arm, der ihm geblieben ist, Menschen zu Brei schlagen kann. Vor ihm fallen ganz einfach und ohne viel Aufhebens die Bäume zu Boden und wirbeln nicht mehr als ein wenig Staub auf. Ein solcher Baum, denkt Wolfgang, der könnte mich dahin mitnehmen, wo es niemand auf mich abgesehen hat, wo ich nichts falsch mache, nicht gehänselt und ausgelacht werde. Wie der Arbeiter die Baumlänge bis zur ungefährlichen Stelle abschätzte, so schätzt Wolfgang die Strecke von seinem Platz zu der Stelle ab, wo der dicke Stamm der nächsten Platane sich in die Erde drücken wird. Dann ist er tot, dann hat alles, was ihm Angst macht, ein Ende; das sind die Gedanken des Jungen.

Wie absichtslos schlendert er um den Haufen der gaffenden Schüler, und plötzlich kommt er von der Seite gerannt, geradeswegs auf den stürzenden Baum zu. Aber einer der Männer, der ein Seil zu halten hat, bekommt den Wolfgang an der Schulter zu fassen und wirbelt ihn hinter sich, dass er zu Boden stürzt.

„Du Idiot!“, schreit der Mann und gibt ihm eine Ohrfeige. „Willst du dich und andere unglücklich machen?“

Jetzt kommt Lehrer Baldur Kiesel gelaufen; er schwingt seinen Arm wie eine verletzte Gans ihren Flügel. „Natürlich der Andreae!“, brüllt er. „Lesen kann er nicht. Sich aber so etwas Hirnverbranntes ausdenken – ja, das kann nur der Andreae!“ Und unter dem Grölen und Feixen der anderen Schüler schleift Baldur Kiesel seinen sich sträubenden Sorgenschüler Wolfgang Andreae mit seinem baumstarken Arm ins Lehrmittelzimmer, wo er sich über eine Bank legen muss.

„So macht man das mit solchen widerborstigen Kreaturen wie du eine bist, Andreae. Merke dir das! Und morgen bin ich bei deiner Mutter...“ Immer wilder werdend drischt Lehrer Kiesel los, weil er von seinem Schüler keinen Laut hört.

Baldur Kiesel ist nicht zur Mutter gegangen.

Eines Tages um den Totensonntag herum heißt es: Lehrer Kiesel ist krank geworden. Sein Fehlen schürt wilde Vermutungen. Er sei strafversetzt worden, erzählen die einen, weil er so leicht aus der Haut fahre und die Schüler mit allem geschlagen hätte, was ihm in die Hände fiel. Andere wissen, man habe den Kiesel gefeuert, er wäre kein Lehrer, sondern Ausbilder beim Militär gewesen. Es geht auch dieses Gerücht: Kiesel heiße gar nicht Kiesel; diesen Namen hätte er angenommen, um seine Vergangenheit als Ortsgruppenleiter zu vertuschen, und die, das weiß man, werden überall gesucht, verurteilt und eingesperrt. Weiter wird von ihm erzählt, dass er nicht nur Menschen verraten und ans Messer geliefert habe – nein, an Kiesels eigenen Fingern würde Blut kleben! Eigenhändig hätte er in einem südlichen Land Männer erschossen, weil er die für Partisanen und Kollaborateure gehalten habe, obwohl sie es gar nicht gewesen seien. Ja, der Kiesel hätte es faustdick hinter den Ohren gehabt! Jetzt fehlt er in der Schule und darüber sind die meisten Schüler froh.

An einem Wintermorgen haben Wolfgang Andreae und ein anderer Schüler nach sieben Uhr in der Schule zu sein und den unförmigen Kanonenofen, der fast bis an die Klassendecke reicht, vorzuheizen. Beide haben Papier und Holz mitgebracht und es entzündet, aber der Ofen zieht nicht, der Klassenraum ist voller Qualm. Während beide davor kniend in das schwelende Flämmchen pusten, kommt eine Frau als Nachfolgerin für Lehrer Kiesel in den Raum.

„Damit werdet ihr wohl kein Glück haben“, sagt sie hinter den Jungen. „Wir haben Nebel, der drückt in den Kamin.“ Sie reißt zwei Fenster auf. „Lieber ein bisschen frieren als entzündete Augen bekommen und angekratzte Stimmbänder“, erklärt sie. Sie ist eine große, gebückte Person mit starken O-Beinen und einem flächigen Gesicht, aus dem die Nase wie der Schnabel einer Eule hervorspringt. Vom Fenster aus sieht sie den beiden Jungen zu. „Macht ihr das jeden Morgen?“

„Nein, wir sind heute dran.“

„Ach, wenn wir doch ein bisschen Petroleum hätten oder Benzin...“, denkt die Lehrerin laut nach, dann dreht sie sich um und schaut aus dem Fenster.

Die beiden Jungen bleiben vor dem Ofen hocken, sie trauen sich nicht, das Klassenzimmer zu verlassen. Wolfgang schielt verstohlen zur neuen Lehrerin: Wird sie auch schreien und Gegenstände nach den Schülern werfen, die etwas nicht begriffen haben? Wird sie die Klasse anbrüllen, dass sie diesem Sauhaufen noch Zucht und Ordnung einprügeln werde? Oder zuschlagen wie Kiesel, dass der Stock zersplittert? So vertrauensvoll wie Mascha Wasowa sieht sie nicht aus, denkt Wolfgang, sie ähnelt mehr der Mutter, der Frau Gresshage und vielen anderen Frauen. Durch das Treppenhaus eilt ein Lehrer mit der Glocke, dann steht er auf dem Schulhof und läutet. Der Lärm draußen ebbt ab, wenig später ist es still. Die Tür zum Klassenzimmer fliegt auf, und die Schüler drängen herein und jammern, weil es kalt und rauchig ist. Sie sehen die Frau am Fenster stehen und wagen es nicht, sich zu setzen. Langsam wendet sich die neue Lehrerin der Klasse zu: „Guten Morgen!“

„Guten Morgen, Fräulein...“ antwortet ihr ein unsicherer Chor.

„Setzt euch.“ Sie schreibt ihren Namen an die Tafel. „Das ist mein Name. So heiße ich.“

Jemand in der ersten Bankreihe buchstabiert ihn laut: „A-n-t-o-n-i-n-i...“

„Richtig!“ Frau Antonini wiederholt ihren Namen. Wenn sie über die Klasse hinsieht, dann könnte in jedem das Gefühl aufkommen, dass sie nur ihn ansehe. Frau Antonini erklärt: „Antonini – das ist ein italienischer Name, aber ich bin keine Italienerin, ich bin eine Deutsche.“ Sie macht eine Pause und blickt wieder über die Köpfe, und man könnte meinen, dass ihre Nase gleich zuhacken wird. „Ich werde mich bemühen, gerecht zu sein und jeden von euch ernst zu nehmen. Wer etwas nicht verstanden hat, der soll zu mir kommen, ich bin dazu da, es ihm zu erklären“, sagt sie. „Von euch erwarte ich, dass ihr untereinander kameradschaftlich bleibt, niemanden anschwärzt, wenn er Unerlaubtes getan hat. Das sind ganz schlechte Manieren! Macht euch nicht über den Mitschüler lustig, der eine Aufgabe nicht sofort begreift. Keiner von uns hat es gerne, wenn er ausgelacht und gehänselt wird. Ich auch nicht!“ Sie zeigt noch einmal auf ihren Namen an der Tafel. „Ich heiße: Antonini! Die drei letzten Buchstaben gehören auch zu meinem Namen!“ Sie wandert ein Stück weit in den Mittelgang. „Herr Kiesel wird nicht mehr an diese Schule zurückkommen“, erklärt sie. „Für die nächste Zeit bin ich eure Klassenlehrerin. Ich hoffe, dass wir gut miteinander auskommen...“ Einige Schüler stoßen ihre Banknachbarn an und freuen sich, solche Worte aus dem Mund eines Lehrers zu hören. Vor Frau Antonini braucht niemand Angst zu haben; mit ihr wird eine bessere Zeit anbrechen.

 

An diesem Morgen will es im Klassenzimmer nicht richtig hell werden, und die Kinder in den hinteren Reihen haben Mühe, Frau Antoninis Namen an der Tafel zu lesen, darum lässt sie singen. Sie sammelt Vorschläge, was sie gerne singen würden, und schreibt die Lieder an die Tafel.

Singen – Kiesel hat nie singen lassen. Und es gibt auch niemanden in der Klasse, der sich Kiesel singend vorstellen kann. Ja, die Schüler atmen bei Frau Antonini auf, vor allem jene, die die kurze Zeit unter Kiesel zu leiden hatten.

Das Jahr geht in wenigen Wochen zu Ende. Beinahe jeden Morgen hängt Nebel zwischen den Trümmern und zieht durch die leeren Ruinenfenster und die kahlen Baumkronen, die ebenso von Bomben und Granaten gezeichnet sind wie alles andere ringsum. Durch den Nebel sind die gespenstischen Straßen noch geisterhafter, so dass auch mancher Mann sich schon am späten Nachmittag nur ungern ins Freie wagt. Die Frauen hinter den Fenstern gruselt es, und sie wundern sich über das, was sie gelegentlich zu sehen bekommen. Denn mit zunehmender Dunkelheit kommt lichtscheues Gesindel, kommen Diebe und Schrottsucher aus ihrem Versteck und streunen durch die Trümmer. Die Großmutter sagt, in jeder Gestalt, die um diese Zeit durch die Straße strolcht, sehe sie einen Halunken. Und noch mehr wundert sie sich darüber, dass vereinzelt Frauenspersonen unterwegs sind, vor allem aufgedonnerte und aufdringliche, die die Nähe der Männer suchen, sie ansprechen, sie am Ärmel festhalten und in ein Versteck zu zerren versuchen. „Der ehrbare Mensch, ja, der wird überfallen und ausgeraubt“, schimpft sie. „Aber diese Weibsstücke kommen ungeschoren davon. Weiß der Himmel, wann es wieder so zugehen wird, wie es zuzugehen hat!“

Hinter den Fenstern des gegenüberliegenden Hauses sieht sie Männergestalten huschen. Jetzt reißen sie auch da Rohre und Kabel aus den Wänden und schleppen sie fort. Einmal stand jemand vor ihrem Haus und betrachtete es so eingehend, dass sie alle auf die Straße liefen, und jeder von ihnen trug eine Waffe in der Hand, worauf der Fremde sich gemächlich davonmachte. Der Bruno, der in den letzten Wochen selten zu Hause war, wird gebeten, nicht einfach ins Haus zu kommen, sondern auf der Straße zu pfeifen und zu rufen. Dann tritt der Vater auf den Balkon und ruft ihm zu, er werde aufschließen. Damit wird dem herumlungernden und spionierenden Gesindel gezeigt: Seht euch vor, hier sind Männer im Haus, sogar ein junger und kräftiger! Denn bei den vernagelten Fenstern ist nicht gleich zu sehen, dass das Haus bewohnt ist.

„Für euch und für mich ist es einfacher, wenn ihr euch einen Hund anschafft“, schlug der Bruno vor. „Einen großen und scharfen Wachhund. Mit ihm lebt ihr sicherer!“

„So, und wovon soll das Tier leben?“ fragte die Großmutter und schüttelte über so viel Unverstand den Kopf. „Es ist nicht einmal für uns genug da! Für das, was ein Hund frisst, könnten wir es wie der Nikolai Wasow machen und uns ein Schwein halten!“ Plötzlich schlägt sie die Hände zusammen. „Einen Hund!“, ruft sie aus. „Unsere Wohnung ist sauber, Bruno. Wir haben keine Wanzen und Flöhe in den Betten, und keiner von uns hat Läuse. Und da werden wir uns einen verlausten Köter ins Haus holen, der uns dazu noch in die Ecken schiffen wird? So weit kommt das noch!“

Darauf entgegnete der Bruno nichts, obwohl er eine freche Antwort sehr gerne losgeworden wäre. Trotz ihrer anfänglichen Abneigung, der Gedanke an einen Hund hat sich bei der Großmutter festgesetzt; so ein Tier würde rechtzeitig warnen und ungebetene Besucher in die Flucht schlagen. Und später brachte sie wie unabsichtlich das Gespräch darauf, indem sie von einer Frau erzählte, die in ihrer Behausung schon mehrmals überfallen wurde und jetzt einen Hund bei sich habe, kein großes Tier, sondern einen kleinen, der sofort anschlage und Höllenlärm mache und ganz bestimmt schon den einen oder anderen Ganoven davongejagt habe. „Die Frau sagte zu mir: Ach, wissen Sie, Frau Straeten, es schläft sich viel ruhiger. Mein Hund, der ist aber auch wachsam! Und sauber und gehorsam ist er auch. Und der Bruno, Vater, der sagt, dass er nicht nur anschlage, wenn sich jemand ans Haus schleiche, sondern dass er auch seine Familie verteidige!“

So erzählt sie beim Bügeln, und ohne hinzuhören sitzt der Großvater am Ofen und näht eine neue Zunge an Achims Schuh. Erst als sie diese Sache schon wieder vergessen hat, meint der Großvater: „So unrecht hat der Bruno gar nicht... Bei unseren Hühnern und Kaninchen wäre ein Hund nicht übel, was denkst du, Mutter? Der Grabenthin hielt seine Karnickel in der Badewanne, die nicht mehr zu gebrauchen war. Stell dir das vor: Dem haben sie die Viecher aus der Wohnung geholt! Die Banditen sind durchs Fenster gestiegen, ohne die Scheibe zu zerschlagen!“

„Aus der Wohnung?“, ruft sie und stellt das Bügeleisen ab, und patscht vor Schreck auf die Tischplatte über so viel Dreistigkeit. „Da kommt das Pack bis in die Wohnung! Was sind das nur für Zeiten, wenn man schon im eigenen Haus nicht mehr sicher ist! Würde ich hier in der Wohnung auf einen Strolch treffen – Vater, das wäre mein Tod! Ich würde einen Herzschlag kriegen... Aber ein Hund hier in der Stube... Du weißt, dass ich dafür nicht viel übrig habe! Ein Hund gehört in den Hof, an die Kette. Womit soll der gefüttert werden? Wir haben doch selbst nicht genug...“

„So schlimm ist unser Mangel nicht, Mutter, wir haben Reste für die Kaninchen und für die Hühner, und für den Hund wird sich ebenfalls etwas finden.“

Sie bricht in lautes Lachen aus und prüft mit befeuchtetem Finger die Hitze des Bügeleisens. „Grünzeug und Kartoffel-oder Möhrenschalen für einen Hund! Willst du ihn damit füttern?“

Schweigend, mit einem schrägen Blick zu ihr hin, näht der Großvater an Achims Schuh. Damit scheint dieses Thema beendet zu sein.

Unausgesprochen ist man sich einig geworden – ja, wenn es Sicherheit für alle in der Wohnung und für die Tiere auf dem Balkon geben soll, dann könnte sie nur ein scharfer und Furcht einflößender Hund geben, trotz aller Vorbehalte und Bedenken, ihn in der Wohnung um sich zu haben.

Doch noch bevor ein Hund ins Haus kommt, werden die Hühner und Kaninchen vom Balkon gestohlen. Als die Großmutter eines Morgens die Tiere füttern will, tritt sie auf die abgeschnittenen Hühnerköpfe. Die Kaninchen haben sie wohl lebendig mitgenommen. Sie ist darüber so erschrocken, dass sie laut aufkreischt, ihre Schuhe auf den Hühnerköpfen stehen lässt und barfuß in die Wohnung rennt.

„Allen Hühnern haben die Drecksäcke den Kopf abgeschnitten, Vater, und alle Kaninchen geklaut! Alle!“, weint sie in ihre Schürze. „Dafür haben wir die Tiere nicht gefüttert, dass sich solche Halunken daran satt fressen!“ Und als der Bruno, der inzwischen tagelang bei seinem Mädchen bleibt, wieder einmal nach Hause kommt, wird ihm gesagt, er möge sofort einen scharfen Hund besorgen.

„Wenn ich mir vorstelle, dass die bis auf unseren Balkon geklettert sind... Und ich liege im Bett und schlafe!“, jammert die Großmutter und schüttelt sich immer noch vor Angst und Grauen.

Es dauert nicht lange, und der Bruno bringt den Hund, einen mittelgroßen, wild aussehenden, grauen Mischling mit schrägen Wolfsaugen, der sich auf den Boden presst, eng an Brunos Schuhe und jedem, der ihn anspricht oder sich zu ihm beugt, die Zähne zeigt, so dass die Großmutter meint, er solle nicht ihnen, sondern dem Gesindel Angst einjagen. Das Tier stecke noch voller Unsicherheit, sagt der Bruno, denn es sei gerade ein Jahr alt, aber damit aus seinem Flegelalter heraus. Vor seinen Zähnen brauche sich keiner von ihnen zu fürchten, die fletsche der Hund nur deshalb, weil er nicht wisse, was man von ihm wolle. „Das gibt sich“, beruhigt der Bruno die Großmutter.

„Ein guter Hund zeigt sich seiner Familie nicht böse. Was soll das werden, wenn er niemanden in seine Nähe lässt! Hätte der wirklich Manschetten vor uns, wie du sagst, dann würde er uns sofort die Stube einseichen. Das machen sie alle, habe ich gehört. Na, Bruno, mit dem da hast du uns einen schönen Wachhund ins Haus gebracht!“

„Wart’s ab Mutter. Gib ihm ein wenig Zeit!“, entgegnet der Bruno. „Was du willst, ist ein Hund, der in deine Vorstellung passt, aber der ist nicht so ohne weiteres zu bekommen! Früher gab es einmal weißen Zucker – heute ist nur brauner, klebriger zu kriegen. Da ist der Hund – nun macht mal etwas daraus!“

„Wie heißt er?“, fragt Ursula, die beide Arme hinter ihrem Rücken versteckt, als hätte sie Angst, gebissen zu werden.

„Der hört auf jeden Namen“, sagt der Bruno. „Probiert es aus, worauf er am ehesten reagiert!“

„Keinen Namen hat er, keinen Anstand, keine Rasse, ein Hund wie geschaffen für diese Zeit“, amüsiert sich Ursula. „Na, dann lasst euch mal einen treffenden Namen einfallen! Die Kinder müsst ihr fragen, die haben Fantasie, denen wird ein passender Name für den schon einfallen.“

Weder Nieselregen noch Kälte können die unentwegt fleißigen Frauen davon abhalten, Schutt wegzuräumen, Steine zu putzen und aufzuschichten; und wenn sie etwas Brauchbares dazwischen finden, legen sie es beiseite oder verstecken es unter ihrer Kleidung. Gegen die Kälte hat die eine oder andere sich Handsäcke genäht, das sind abgeschnittene alte Strümpfe oder Beine von Unterhosen, die sie mehrfach übereinander über die Hände streifen. Käthe Gresshage, die Kriegswitwe mit den fünf Kindern, ist auch dabei. Ursula, die mit zwei anderen eine randvolle Lore zum Abladeplatz schiebt, sah sie zuvor die Straße heraufkommen und rief sie zu sich. Jetzt arbeiten beide Frauen Seite an Seite, um sich unterhalten zu können. Käthe Gresshage erzählt, dass sie es in ihrer zugigen Wohnung kaum aushalte, dass die kleinen Kinder seit dem Spätsommer erkältet seien und dass vor allem die kleine Edith, ihre Jüngste, des Nachts so stark huste, dass sie kein Auge zumachen könne. Heute sei sie für ein paar Stunden aus dem Haus gegangen, um einmal anderes zu hören als Kindergeplärre, als Husten, Schniefen und Japsen. Friedhelm, der Älteste, sei verständig genug, um auf die jüngeren Geschwister ein Auge zu haben. Im nächsten Jahr, erzählt sie, wenn das Wetter besser sei, werde sie mit allen Kindern in den Osten fahren und nach dem Grab ihres Mannes forschen. Von einer entfernten Verwandten habe sie erfahren, dass in den Soldatensärgen wohl nicht immer der läge, der darin liegen sollte, sondern dass man auch schon einmal ein Stück Baumstamm oder Steine hineingepackt hätte.

„Ja, werden die denn im Sarg beerdigt?“ fragt Ursula.

„Nicht alle. Aber einige, ja...“ Sie brauche Gewissheit, sagt Käthe Gresshage. Ursula, die sich fragt, warum man für ein Stück Baumstamm einen Sarg verschwendet, schweigt dazu. Aber sie fragt sich insgeheim, wie das gehen soll! Etwas sonderbar ist ihr diese Frau gleich vorgekommen, dass sie aber auf solche wunderlichen Ideen verfallen kann! Wahrscheinlich hat das Leid ihr auch schon zugesetzt...

Ein Jeep fährt suchend durch die Straße, und Frau Gresshage schiebt ihr Kopftuch zurück und reckt sich in die Höhe, und als der Soldat sie erkennt, winkt er heftig und ruft ihren Namen. Verschämt, beinahe widerstrebend, winkt Frau Gresshage zurück, dann stemmt sie sich mit aller Kraft gegen die Lore, um sie wegzufahren. Merkwürdig, wundern sich Ursula und auch die anderen Frauen, wie rot die Frau Gresshage geworden ist.

 

Am Nachmittag, als sie ihre Arbeit beendet haben, sagt Frau Gresshage: „Kommen Sie mich doch einmal besuchen. Ich habe ja niemanden, der zu mir kommt.“ Sie beugt sich dicht an Ursulas Ohr: „Bei mir bekommen Sie auch eine Tasse echten Bohnenkaffee. Kommen Sie!“

Bohnenkaffee? Wie kann diese Frau denn heutzutage Bohnenkaffee, einen solchen Luxus, anbieten? Ja, Ursula verspricht, am nächsten Tag einen Besuch bei ihr zu machen.

Frau Gresshage wohnt mit ihren Kindern in einem Loch, findet Ursula. Schlimmer war es auch nicht bei mir im Keller zwischen den Bergen von Dreck und Schutt! In beiden Räumen, die sie bewohnt, zieht es, und an einer Stelle tropft Wasser durch die Decke. In den Wänden zur Nachbarwohnung klaffen Risse, in die sie Lappen gestopft hat. Weil der Abfluss ihres Spülsteins fehlt, hat Frau Gresshage einen Eimer darunter gestellt, den sie einfach aus dem Fenster gießt, wenn er vollgelaufen ist. Dass sie noch alle Kinder bei sich hat, das ist ein Wunder, findet Ursula. In diesem nassen und stinkenden Behelf müssen die Kinder krank werden und die Mutter auch.

„Erschrecken Sie nicht“, warnt Frau Gresshage. „Hier gibt es viele Mäuse. Sie sind dreist geworden und flüchten kaum, wenn sich jemand rührt.“ Sie schiebt Ursula einen Stuhl hin, den sie mit ihrem Ärmel abwischt. „Es gibt Tage, da können die Kinder sie einfach tottreten.“

Auf dem Herd summt der Wasserkessel. Frau Gresshage nimmt den Deckel von der Herdplatte und rückt den Kessel in die Flamme. Sehr vorsichtig schüttet sie aus einer Blechdose, die sie im oberen Schrank verwahrt, Kaffeebohnen in ihre Handfläche und lässt sie in die Kaffeemühle gleiten. Und während sie die Körner mahlt, sagt sie: „Nach der Zeit mit Zichorie und gebranntem Roggen – jetzt kann ich richtigen Kaffee trinken. Der schmeckt besser als Zichorie und das andere Zeug.“ Nach einer Pause wendet sie sich Ursula direkt zu: „Sagen Sie selbst: Sind wir nicht eine amputierte Generation? Und unsere Kinder sind es auch. Eine Hälfte hat man uns genommen, jetzt müssen wir mit dem fertig werden, das uns geblieben ist. Keiner hat mich gefragt, ob ich dieses Leben führen will, keiner! Andere haben es so bestimmt. Und jetzt kann ich zusehen, wie ich zurechtkomme!“ Sie unterbricht das Mahlen und sieht Ursula Andreae streng an. „Bei allem fehlt der Mann, fehlt der Vater. Wen haben meine Jungen zum Vorbild? Mich, die Mutter, eine Frau! Der, nach dem sie sich ausrichten sollten, der fehlt!“

Frau Gresshage macht eine Pause, auch im Drehen der Kaffeemühle, und als sie weiterspricht, schlägt sie ihre Augen nieder wie jemand, der nur ungern preisgibt, was ihn bewegt. „Bei mir liegt so vieles im Argen... Sie, Frau Andreae, haben Ihren Vater und den Bruder, die Ihnen zur Seite stehen...“ Frau Gresshage spricht in Stößen, und in der gleichen Weise dreht sie ihre Kaffeemühle. Ihr bleiches Gesicht streckt sich etwas vor, und sie fragt: „Was ist daran verwerflich, wenn eine Frau sich einen Mann ins Haus holt? Wir haben außer Hausarbeit nichts gelernt. Und jetzt sollen wir uns als Ungelernte mit unseren Kindern durchs Leben schlagen, sollen sie ins Leben führen und Mann und Vater ersetzen.“ Sie schlägt mit der Hand gegen das Mahlwerk. „Ich sag’ es frei heraus: Mir hilft manchmal einer von den Besatzungssoldaten. Nun, er darf sich nicht erwischen lassen, Sie wissen ja, dass das verboten ist. Aber er kommt und hilft mir heimlich. Was glauben Sie, woher ich den Bohnenkaffee und meine Kinder manchmal ihren Riegel Schokolade, die Kekse und den Kakao haben? Ich kann in den Besatzungssoldaten, in den Amerikanern oder Engländern keinen Feind sehen. Meine Feinde, das sind...“ Ihr bleiches und hohlwangiges Gesicht senkt sich über die Schublade mit dem gemahlenen Kaffee, dessen Geruch sie genießerisch einatmet, bevor sie ihn in die Kanne schüttet. „Meine Feinde, Frau Andreae, das sind die braunen Hunde, die uns ins Elend gestürzt und sich dann davongemacht haben! Käme mir einer davon unter die Finger, glauben Sie mir, ich könnte ihn eigenhändig mit einem Ziegelstein erschlagen... Es wird über mich geredet, dass der Soldat zu mir kommt. Na, und? Ich habe nicht nur für mich zu sorgen – ich habe auch noch meine Kinder. Und selbst wenn ich mich auf etwas einlasse, was die anderen unanständig finden – es geht allein um meine Kinder, Frau Andreae.“

Alles, was Frau Gresshage sagt, wird wie unter großem Druck herausgepresst. Ihre Art zu sprechen erinnert Ursula an das Bellen ihres Hundes. Sie rührt sich nicht auf ihrem Stuhl. Vom Duft des Kaffees wird ihr schwindelig, und sie fürchtet, dass sie ihn nicht vertragen wird. Die ganze Zeit hat sie still zugehört, was Frau Greeshage zu erzählen hat; jetzt betrachtet sie deren Kinder, die wie aufgereiht an der Wand hocken und sie aus großen Augen anblicken und sich vielleicht fragen, warum die Mutter der fremden Frau von ihrem kostbaren Kaffee zu trinken gibt.

Ursula Andreae fragt: „Sie sprachen davon, nach dem Grab Ihres Mannes zu suchen. Wie wollen Sie in die Sowjetunion kommen und nach ihrem Mann forschen?“

„Sowjetunion? Nicht da, er ist bei Breslau umgekommen.“ Frau Gresshage hat zwei Tassen auf den Tisch gestellt, sie selbst trinkt aus der, die keinen Henkel mehr hat. „Ja, da gehört Sahne zu und Zucker! Beides gibt’s für uns nicht mehr. Und auf dem Schwarzmarkt – wer kann das bezahlen? Die Friedchen Klosseck nimmt für ein Pfund Kaffee weit über fünfhundert Mark. Und ob der von dieser Qualität ist... Trinken Sie, trinken Sie! Der Ted wird schon für Nachschub sorgen! Er ist ein freundlicher Mensch, der Ted, und etwas Deutsch spricht er auch, ein ulkiges Deutsch! Im nächsten Frühjahr, sagt er, will er sich nach einer besseren Wohnung für mich und die Kinder umsehen. Vielleicht in der Nähe seiner Unterkunft, da ist es leichter für ihn, kurz zu uns herüberzuhuschen.“

Wenn Frau Gresshage von ihrem Ted erzählt, dann glüht es in ihren Augen, wie Ursula es nie bei ihr vermutet hätte. Hin und wieder vergisst sie, dass sie Besuch hat: Ihre Gedanken wandern weit weg, und auf ihrem sonst harten Mund zeigt sich ein glückliches Lächeln. Dann fällt ihr wieder ein, dass sie nicht allein ist, und sofort verschließt sich ihr Gesicht. Müde bläst sie in ihre Tasse; Frau Gresshage ist ein aufgebrauchter und verhärmter Mensch, der vom Leben nichts mehr erwartet, sondern nur noch dafür auf der Welt ist, den fünf Kindern ein paar Annehmlichkeiten zu schaffen und sie großzuziehen. Wenn sie einmal auflebt und Gefühle zulässt, dann in den Armen von Ted. So wie manchmal ein Sonnenfleck über ihren Fußboden huscht, so huscht ab und an ein dünnes Lächeln über Frau Gresshages Gesicht. „Sie wissen, dass es für die Besatzungssoldaten verboten ist, mit deutschen Frauen anzubandeln. Der Ted schert sich nicht darum! Wenn er mit einem unsicheren Kantonisten Patrouille fährt und nicht will, dass ich ihm zuwinke oder an seinen Jeep laufe, dann klemmt er sich eine Zigarette hinters Ohr! Stellen Sie sich das vor: Eine Zigarette im Mundwinkel, die andere klebt wie ein Bleistift hinter seinem Ohr!“

Frau Gresshage findet das so komisch, dass sie laut darüber lachen kann. „Da heißt es für mich: aufpassen, ob die Luft rein ist! Vielleicht haben sie auch schon die Bestimmungen gelockert – ich weiß es nicht. Trinken Sie noch...“

„Ich bin keinen Bohnenkaffee mehr gewohnt, Frau Gresshage, mir wird schwindelig. Ich muss wohl an die Luft gehen. Ihr Kaffee riecht nicht nur gut, er schmeckt auch so, aber mein Kopf streikt oder mein Magen...“ Ursula Andreae drängt nach draußen. In der Tür sagt sie, dass sie sich öfter besuchen sollten. Sie werde wiederkommen, ganz bestimmt!