Die Bärin Roman

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Fast empfindungslos hat der Soldat Lewandowski Ursulas Vater das Ende seines Schwiegersohnes erzählt, so, als hätte er diese Begebenheit viele Male hergesagt. Der Vater hat sich während der ganzen Zeit nicht gerührt, es war, als hätte er nicht einmal geatmet.

Als die Stille für beide nicht mehr zu ertragen ist, fragt er: „Weiß meine Urschel das?“

Der Soldat Lewandowski schüttelt den Kopf: „Ich habe ihr gesagt, sie hätten ihn erschossen. Wir wären auf Partisanen gestoßen, und da wäre es passiert...“

„Danke, Herr Lewandowski. Sie darf es auch nicht erfahren.“

Nachdem sie noch über dieses und jenes gesprochen haben, ist der Vater mit ihm ein Stück des Weges gegangen. Er fragt, wie er denn davongekommen sei.

Das Leben hätten ihm die vielen Toten auf dem Platz jener tschechischen Stadt gerettet, erzählt er. Noch in der Nacht sei ein Wagen gekommen, um die Erschlagenen fortzuschaffen. Und unter den Toten, beschmiert mit dem Blut der anderen, steif und wie tot, lag der Gefreite Johann Lewandowski. Sie seien aus der Stadt gefahren worden, und in einem Waldstück sei es ihm gelungen, vom Wagen zu fallen und sich zu verstecken. – Mit dem Mantel eines Soldaten will er sich durchgeschlagen haben, fragt der Großvater. – Nein, nein, sagt Lewandowski, den habe er einem toten Landser abgenommen. Und das Durchkommen sei für ihn kein großes Problem gewesen: Da er beinahe fließend Englisch spreche, sei er als abgeschossener Engländer durchgekommen. In Sachsen, erzählt er nicht ohne Freude, sei er auf einen abgeschossenen britischen Flieger gestoßen, in dem noch die tote Besatzung steckte. Die Papiere eines Menschen, der in seinem Alter gewesen sein muss, die habe er an sich genommen, und fortan hieß er Tony Smith. Das sei leicht zu merken gewesen. Aber er sei niemandem begegnet, der ihn befragt und auf Herz und Nieren geprüft hätte.

Johann Lewandowski lächelt den Großvater an. „Sie sehen, sogar der Tod kann von Nutzen sein. Ich weiß gar nicht, wie oft Tote mir das Leben gerettet haben. Bis hierher bin ich gekommen, und ich werde weiterkommen, bis ich meine Frau und die Kinder gefunden habe. Leben Sie wohl!“

„Danke, dass Sie das auf sich genommen haben. Leben Sie wohl, Herr Lewandowski. Ich wünsche Ihnen Glück und Erfolg bei Ihrer Suche.“ Sie reichen sich die Hand, dann stolpert Johann Lewandowski in seinem zu großen Soldatenmantel und mit dem zersprungenen Brillenglas davon.

Ursula Andreae hat sich nicht anmerken lassen, dass sie zutiefst erschüttert ist über das, was sie erfahren hat, so dass die Großmutter sich fragt, ob sie überhaupt noch Gefühle im Leibe habe.

Einige Tage vermied es Ursula, mit der Großmutter allein zu sein. Sie spürte den prüfenden, sie belauernden Blick der alten Frau, die auf ihrem Stuhl neben dem Herd saß und schwieg, deren Augen aber unentwegt auf die Tochter gerichtet waren. Vom Vater hatte sie keine Fragen zu befürchten; wenn der in die Stube trat, dann sah er die Tochter flüchtig an oder er übersah sie und ging wieder, weil er andere Dinge im Kopf zu haben schien. Aber die Mutter wartete nur auf eine Gelegenheit, um etwas aus der Tochter herauszukriegen.

Bei jeder Gelegenheit lief Ursula nach draußen, wanderte durch die graue, zerbombte Stadt oder ging bis zum Luisenpark, wo niemand sie stören würde. Hier draußen, wo kein Mensch anzutreffen war, brauchte sie ihr Weinen nicht zu unterdrücken. Und wäre sie gesehen worden, dann hätte keiner sie nach dem Grund ihres Weinens gefragt. Zu weinen gab es in dieser Zeit viel, das war normal. Da saß sie eine Zeit auf einer versteckten Bank, weinte und trauerte und versuchte, sich das Leben einer Witwe vorzustellen und es anzunehmen. In Zukunft würde sie nur noch die Bilder und Erinnerungen an Reinhold haben, für Hoffnung und für Glück würde es keinen Platz mehr geben. Und wieder weinte sie, nicht mehr dieses heftige und aufgeschreckte Weinen, es wurde stiller. Ursula Andreae weinte über sich selbst, weinte über das verkürzte, das amputierte Leben, das sie würde führen müssen... Sie weinte auch darüber, dass die Verantwortung und Erziehung der drei Kinder allein auf ihren noch jungen Schultern lasten würde.

Es gab Tage, da saß Ursula viele Stunden irgendwo in der Einsamkeit, so dass sich die Großmutter Sorgen machte und sie auch schon einmal suchen ging. Langsam begriff die alte Frau, was in der Tochter vor sich ging, und sie ließ sie gewähren, sie fragte nichts, sagte nichts und ließ es bleiben, sie aus den Augenwinkeln zu beobachten. Schließlich ging die Tochter nicht mehr weg und blieb zu Hause, etwas abwesend, stiller als sonst, doch irgendwann war auch das vorüber. Marlenchens Puppe wurde fertig. Die Mutter saß abends wieder am Bett der Kinder und hörte sich an, was sie zu erzählen hatten. Und die Jungen quälten die Großmutter nicht mehr mit Fragen, wohin die Mutter gegangen sei, beide liefen durch die Straßen und trieben Unfug, wie sie es immer getan hatten. Sie wissen nichts von ihrem Vater, für sie gibt es schon seit Jahren keinen Vater mehr, da gibt es keine Unterschiede zu ihren Spielkameraden aus dem Stadtviertel. Allerdings ist die Mutter etwas strenger geworden, so kommt es der Großmutter vor, auch ist sie schneller ungeduldig mit ihnen. Doch auch das wird sich ändern, glaubt die alte Frau. Wenige Tage nach dem Besuch des Soldaten Lewandowski ist Post für Ursula Andreae gekommen, ein knapper Brief von Reinholds älterem Bruder, Manfred Andreae.

„Du hast ihm geschrieben?“, wundert sich die Großmutter.

„Nein, nur seiner Schwester Elsbeth“, sagt Ursula und zieht sich mit dem Brief in ihre Schlafstube zurück, um ungestört lesen zu können, was der Schwager ihr zu schreiben hat. Manfred schreibt, dass er durch seine Schwester von Reinholds Tod erfahren habe, und er würde die Schwägerin gerne besuchen und mit ihr beratschlagen, was künftig zu tun sei.

„Nichts ist zu beraten und zu tun“, brummt Ursula vor sich hin. „Du hast nie nach mir gefragt, denn du mochtest mich nicht und hast versucht, Reinhold und mich auseinanderzubringen. Und unsere Kinder waren dir auch einerlei. Ich brauche dich nicht.“

„Nun, was schreibt er?“, fragt die Mutter.

„Er will mich besuchen.“

„Was will der? Besuchen? Was ist denn plötzlich in den Menschen gefahren? Hat der sich nach eurer Hochzeit überhaupt einmal bei euch blicken lassen?“

„Er will mir raten, mir helfen...“

„Hilfe von diesem Mannsstück? Mein Eindruck war, dass der selbst Hilfe braucht. Na ja, mag er kommen!“

Manfred Andreae ist gekommen. Aufrecht und breitschultrig steht er vor der offenen Balkontür und verdunkelt das Zimmer. Er ist auffallend gekleidet, mit hellen Schuhen, Hemd und Krawatte und hat, was die Großmutter stört, ein aufdringlich duftendes Toilettenwasser benutzt. Ganz ungeniert und mit offenem Missfallen sieht er sich in der Wohnung um und betrachtet lange die Kaninchen und Hühner auf dem Balkon. Die Großmutter stellt ihm einen Blechbecher mit Kaffee hin, dann geht sie mit den Kindern aus der Wohnung.

„Daraus trinkt ihr?“, fragt Manfred die Schwägerin. „Solche Becher habe ich einmal bei den Zigeunern gesehen.“

„Wir sind ausgebombt“, sagt Ursula feindselig, „und somit vielleicht zu Zigeunern geworden. Aber wir sind froh über alles, was wir zusammentragen konnten.“

Der Schwager betrachtet sie belustigt und schlürft seinen Kaffee, und dabei spreizt er den kleinen Finger ab. Abweisend sitzen sie sich gegenüber. „Mir hast du keine Nachricht von Reinholds Tod geschickt“, sagt er. „Bin ich nicht sein Bruder?“

Ursula will ihm darauf keine Antwort geben, trotzig starrt sie auf ihre Hände. Und weil sie stumm bleibt, lacht er kurz auf und sagt: „Für eine so junge Frau ohne Mann, wie du es bist, ist das eine recht schwere Zeit. Wie willst du mit deinen Kindern durchkommen?“

„Bis jetzt bin ich durchgekommen, ganz gut sogar“, sagt sie. „Ich habe noch meine Eltern, und mein Bruder ist auch da. Es wird schon gehen... Unzählige andere Frauen müssen es auch schaffen.“

Wieder liegen seine hellblauen, wässerigen Augen auf ihr und prüfen, ob sie wirklich die Frau für solche Zeiten ist. Sie kann diesen Blick nicht ertragen und dreht ihren Stuhl zur Seite, dass sie ihn nicht ansehen muss. Nach längerem Schweigen beginnt der Schwager aufs Neue: „Du hast drei Kinder, Ursula, die wollen durch diese schwierigen Zeiten gebracht werden. Die brauchen nicht nur ein Dach über dem Kopf, Essen und Kleidung, da gibt es anderes, das ebenso wichtig ist. Hast du dir darüber Gedanken gemacht? Du bist nur eine Frau, eine alleinstehende Frau“, fügt er hinzu. „Und die hat es besonders schwer.“

„Ich sage dir noch mal: Millionen anderer Mütter geht es ebenso. Die Zeit wird zeigen, ob wir Frauen nicht auch unsern Mann stehen können! Ich frage dich, Manfred: Haben die Frauen nach dem Ersten Weltkrieg versagt? Waren sie unfähig? Nein! Es waren die Frauen ohne Männer, die nach allen Kriegen, die geführt wurden, das, was Männer zerstört hatten, wieder aufbauten; es waren die Frauen, die die Welt wieder in Ordnung brachten!“

Der Schwager richtet sich auf und stellt seine Blechtasse hart auf den Tisch. „Du hast zwei Jungen, Ursula, die brauchen eine straffe Männerhand, die müssen klare Regeln kennenlernen. Mit solchen Rabauken ist eine alleinstehende Frau überfordert.“

„Ich verstehe dich nicht. Werde doch etwas deutlicher, Manfred.“

„Sie brauchen jemanden, der ihnen zeigt, wo es langgeht.“

„Traust du mir gar nichts zu?“

„Du bist eine Frau, Ursula. Frauen sind schwach, sie sind weich und nachgiebig.“

„Was mache ich anders als ein Mann?“

„Jungen brauchen Härte, bisweilen brauchen sie eine...“ Er zieht seine Manschette aus dem Jackenärmel und schiebt sie wieder hinein. „Manchmal, Ursula, ist eine Tracht Prügel nicht unangebracht.“

 

„Manfred!“, ruft Ursula heiser. „Bis jetzt habe ich sie erzogen, wie ich es für richtig halte. Ich werde es auch weiter so machen...“

„Bitte, rege dich nicht auf! Für deine Kinder brauchst du einen Vormund, Ursula. Nicht nur bei der Erziehung von Jungen ist ein Mann geeigneter, er boxt sich auch leichter durch Ämter und Behörden, glaube mir. Und dabei, Ursula, wäre ich bereit, dir zu helfen. Ja, ich sehe darin geradezu eine Verpflichtung gegenüber meinem Bruder...“

„Der Reinhold hätte das niemals zugelassen!“

„Weißt du das? So lange bist du gar nicht mit ihm verheiratet gewesen, dass du weißt, was er für richtig und für falsch hielt. Ursula...“ Er streckt seine Hand nach ihr aus, aber Ursula ist aufgesprungen und läuft aufgebracht von einem Ende der Küche zum anderen. Dann bleibt sie neben ihm stehen und stößt hervor: „Ob Junge oder Mädchen – keines meiner Kinder braucht einen Vormund! Ich habe sie durch den Krieg gebracht, ich werde auch dafür sorgen, dass sie anständige Menschen werden und ein anständiges Leben führen, Manfred! Danke für deine Hilfe, aber diese Hilfe brauche ich nicht!“ Und damit nimmt sie ihm den blechernen Becher weg und trägt ihn an den Spülstein.

Ihre Entschlossenheit hat den Schwager hilflos und unsicher gemacht. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her und möchte gehen, weiß aber nicht, wie er es anfangen soll. Plötzlich erhebt er sich rasch und sagt, nun versöhnlich geworden: „Du kannst es dir noch überlegen, Ursula. Ich stehe für jede Art von Hilfe bereit. Du und ich – wir haben die Aufgabe, Reinholds Andenken in Ehren zu halten. Sein Vermächtnis, das sind die Kinder. Aus ihnen soll etwas werden, Ursula.“

Sie reicht ihm die Hand und läuft zur Küchentür, um sie ihm zu öffnen. „Bleiben wir im Gespräch, Ursula?“

Auch darauf bekommt der Schwager keine Antwort. Als er im Flur ist, drückt sie hart die Tür ins Schloss. Vor lauter Wut kann sie nicht leise sein. „So weit kommt’s noch! Bleibe, wo du bist, du Schuft!“ Sie ruft es ihm nicht hinterher, sie ruft es in die Wohnung, aber doch so laut, dass er es im Flur noch hören muss.

Ja, ja, ein Paar kräftige Hände und ein williger Kopf, sagt Alois Grabenthin zum Großvater, die seien immer zu gebrauchen. Junge Männer, weiß Grabenthin, die seien gegenwärtig Mangelware. Der Sohn möge doch einmal ins Werk kommen, dann werden beide Parteien sehen, was sie miteinander anfangen können. Ihn einstellen, das könne er nicht, aber vorschlagen und befürworten, das sei ihm möglich, und die Verantwortlichen würden auf sein Wort hören, sagt Alois Grabenthin.

Der Bruno zeigt wenig Lust, sich einen Pferdestall anzusehen; mit einem Gaul habe er noch nie zu tun gehabt. Im Übrigen seien diese Tiere ihm nicht geheuer, da stecke mehr Kraft drin als in zehn Männerarmen, und niemand wisse, was im Schädel eines solchen Ungetüms vor sich gehe.

„Er scheut sich vor dem zivilen Leben“, sagt Ursula zum Vater. „Im Feld, da war er Befehlsempfänger wie die meisten, da hat er nicht nachdenken müssen, was zu tun war, denn es wurde ihnen gesagt. Dabei war man aus dem Schneider und trug für Fehlschläge keine Verantwortung. Konnten sie Siege verzeichnen, die hefteten sie sich stolz an die Brust und wussten, dass auch die Heimat stolz auf ihre Jungen war. Und für Fehlschläge, für Niederlagen – dafür, Vater, waren andere zuständig. So einfach war Brunos Soldatenleben.“

Die Großmutter fährt auf: „Einfach nennst du das, wenn man jede Minute um sein Leben fürchten muss? Lass den Bruno gehen, erst einmal muss er zu Kräften kommen und den Krieg vergessen können. Das ist für ihn schwer genug. Noch ist nicht genügend Zeit verstrichen! Bei uns, in der Heimat, ist der Bruno noch nicht angekommen!“

„Wie schwer das ist, Mutter, das sehen wir an uns selbst!“

„Seit der fremde Soldat hier war, bist du unleidlich geworden, Urschel“, platzt die Großmutter heraus. „Erst rennst du aus dem Haus und machst die Kinder unsicher. Jetzt kannst du es nicht ertragen, dass der Bruno mit seinen Erlebnissen nicht fertig wird. Du hast an deinem Schicksal zu tragen, er an seinem. Jeder muss es nehmen, wie es gekommen ist. Daran ist nichts zu ändern!“

Die Großmutter ist über sich selbst ärgerlich, dass sie ihren Mund nicht halten konnte, und auch Ursula ist ärgerlich. Sie weiß, dass die Mutter immer sorgsam ihre Hände über Bruno halten wird, egal was er sagt oder macht. Sie kann nicht still sein, wenn die Mutter für seine Marotten Verständnis aufbringt und sie entschuldigt. Bei ihm hat sie immer mehr geduldet als bei ihr selbst und beim gefallenen Bruder Heinz. Ursula nimmt sich vor, künftig den Mund zu halten.

Der Bruno ist zum Werkskalfaktor Alois Grabenthin gegangen, und obwohl er der Mutter versprochen hat, sofort zurückzukommen und zu berichten, ist er weggeblieben. Die Mutter steht lange Zeit in der offenen Balkontür und guckt sich nach ihm die Augen aus dem Kopf. Der Bruno kommt nicht, nicht einmal zum Essen, so dass sie sich Sorgen macht und sich ausmalt, dass etwas Schlimmes mit ihm passiert sein könnte. Als sie der Ursula sagt, wie sehr sie seinetwegen in Ängsten sei, schweigt die Tochter, als hätte sie nichts gehört. Sie möchte die Tochter bitten, in die Eisengießerei zu gehen und nach Bruno zu fragen, doch die sitzt mit einem solch verschlossenen Gesicht über ihrer Strickarbeit, dass sie sich nicht traut, sie anzusprechen. Wäre der Vater zu Hause, dann müsste der nach dem Jungen fragen gehen. Aber der Vater ist immer noch, obwohl doch alles Nötige im Hause ist, von früh bis spät auf Tour. Sie selbst würde auch gehen, wenn sie wüsste, wohin. So kann sie nur vom Balkon nach links und rechts in die Straße blicken und sich grämen.

Vor der Haustür sieht sie das Marlenchen, es spielt ganz allein mit seiner Stoffpuppe. Aus Steinen hat sie Zimmer abgegrenzt, große und kleine und steinerne Möbel – Tisch, Stühle und Betten – hineingestellt. Urschels drittes Kind ist ein auffallend stilles Kind, denkt die Großmutter, immer etwas müde und lustlos. Von der Urschel hat sie das nicht, die ist immer lebhaft und direkt, ist aufsässig, laut und eigensinnig gewesen und hat sich behauptet. Aber Marlene... Hat sie das vom Reinhold? Und während die Großmutter darüber nachdenkt und bemüht ist, das Bild des toten Schwiegersohnes in der Erinnerung lebendig werden zu lassen, sieht sie den Achim aus der gegenüberliegenden Ruine klettern und wie ein gehetztes Tier ins Haus stürmen. Ihm folgt ein Mann, den die Großmutter nicht kennt, der nicht so behände über die Trümmer springt wie der Junge. Und gleich darauf fliegt die Küchentür auf, und der Achim flüchtet hinter den Tisch, die Augen voller Angst auf die Tür gerichtet.

„Was ist denn mit dir?“, fragt Ursula. Der Junge antwortet nicht, er hat nur die Tür im Auge. „Achim, so rede! Was ist passiert?“

Da steht plötzlich der fremde Mann in der Tür. „Komm her, du Rotzlöffel! Dir werd ich’s zeigen!“ Der Mensch droht mit einer Rute.

Ursula ist aufgesprungen, sie schwingt den Feuerhaken, vor Erschrecken und Wut ist sie ganz bleich geworden und wächst vor dem Fremden in die Höhe. „In meiner Wohnung wollen Sie meinen Sohn schlagen? Wagen Sie es, ihn anzurühren, Sie...!“

„Da sagt doch dieser Rotzlöffel zu mir: Du bist auch ein altes Nazischwein! Muss ich mir das von dem da anhören?“

„Hast du das zu dem Mann gesagt, Achim?“

Der Junge schweigt, aber nach einer Weile nickt er ganz schwach und fängt an zu weinen und wischt mit dem Handrücken seine Nase.

„Also stimmt das. Warum hast du das gesagt?“

Der Junge stiert Hilfe suchend die Großmutter an, die mit verschränkten Armen wie ein Richter auf ihrem Platz vor der Balkontür steht. Sie nickt dem Enkel aufmunternd zu. Mit sanfter Stimme sagt sie: „Erzähl, mein Junge. Was hat denn der Mann zu dir gesagt?“

„Er hat gesagt... gesagt...“ Der Achim schnäuzt sich, dann schreit er es wütend heraus: „Der da hat gesagt, wir seien liederliches Zigeunerpack! Er werde uns Zucht beibringen, hat er gesagt!“

„So, zuchtloses Zigeunerpack sind wir?“, fragt Ursula den Fremden, der sich duckt, als wollte er Schlägen ausweichen oder sie gleich anspringen. „Und warum hat der Mann das gesagt, Wolfgang?“

„Weil ich seinem Mädchen eine geknallt habe. Die hat zu mir gesagt, ich würde aus dem Fenster auf die Leute pinkeln. Stimmt gar nicht, stimmt gar nicht! Und der da hat auch noch gesagt, du würdest mit den Amis poussieren... Und dann habe ich gerufen: Er ist ein altes Nazi...“

„Aha! Ich poussiere mit den Soldaten! Sie sauberer Herr, ich finde, mein Sohn hat nicht Unrecht mit dem, was er Ihnen vorgeworfen hat!“ Dicht vor seinem Gesicht fuchtelt sie mit dem Feuerhaken. „Und jetzt: Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich, aus meiner Wohnung kommen!“

Ohne etwas zu erwidern, verschwindet der Fremde, und die Großmutter läuft an die Tür und lacht so laut hinter ihm her, dass es die Leute auf der Straße hören können. Ja, sie scheut sich nicht, ihn vom Balkon herunter zu verhöhnen.

„Zuchtloses Zigeunerpack!“, wiederholt die Großmutter. „Mit den Amerikanern poussieren... Urschel, der verwechselt dich mit jemandem... Vielleicht ist es sein Weib, das so etwas macht! Eine bodenlose Frechheit, das dem Kind ins Gesicht zu schreien... Ach, der Bruno kommt. Wie war’s, mein Junge?“

Der Bruno wirft seine Jacke auf den Stuhl. Er lässt Wasser in die Hände laufen und trinkt, und die Großmutter steht daneben und wartet, dass er vom Pferdestall der Eisengießerei erzählt.

„Was war hier los? Was wollte der Kerl?“

„Bruno, stell dir vor...“ Ursula erzählt dem Bruder, was vorgefallen ist.

„Und ihr lasst das Miststück gehen? Den hätte ich die Treppe hinuntergeworfen“, sagt Bruno und versprüht etwas vom getrunkenen Wasser. „Soll ich ihm nach?“

„Wie du einen auf die Folter spannen kannst!“, ruft die Großmutter ungeduldig. „Die ganze Zeit denke ich an nichts anderes als an dein Gespräch mit diesem Kalfaktor – und jetzt bist du da und machst darüber deinen Mund nicht auf!“

„Ich habe keine Zeit, Mutter, ich muss sofort wieder weg.“

„Hast du Arbeit bekommen?“

„Das erzähle ich dir später. Ich habe keine Zeit!“ Nachdem er sein Gesicht gewaschen und sich gekämmt hat, wirft er seine Jacke über die Schulter und beeilt sich, aus dem Haus zu kommen. Wieder läuft die Großmutter auf den Balkon, und da sieht sie den Bruno mit einem Mädchen weggehen. Eine Hand hat er auf ihre Hüfte gelegt, mit der anderen schwenkt er übermütig seine Jacke durch die Luft. Lange sieht die Großmutter ihm nach, und als sie in die Küche zurückkommt, schlägt sie die Hände zusammen und seufzt: „Du lieber Himmel, was war das heute für ein Tag! Nichts als Aufregungen, nichts als Aufregungen...“

Ursula hat sich in ihre Schlafstube zurückgezogen. Sie mag sich das Jammern der Großmutter nicht anhören, vor allem reizt sie, wie sie sich um Bruno sorgt, wie sie um ihn herumscharwenzelt. Ihretwegen hat sie nie ein solches Theater gemacht, denkt Ursula.

Der Ärger über den Fremden, der in ihre Wohnung eindrang, um den Achim zu züchtigen, weil sie als Mutter eine zu lasche Hand bei der Kindererziehung zeige, der Ärger darüber ist über Großmutters Gewese um den Bruno verraucht. Jetzt hat sie von diesem fremden Strolch zu hören bekommen, was schon ihr Schwager Manfred Andreae einmal über alleinstehende Frauen äußerte, und was die Großmutter über Tage in Harnisch gebracht hatte. Sie wird es künftig öfter zu hören bekommen und ertragen müssen, dass Männer Witwen mit Kindern so einschätzen: Mit solchen Aufgaben seid ihr Frauen überfordert – nein: Um Kinder, vor allem Jungen, allein großzuziehen, dazu seid ihr unfähig!

„Ich habe mit dir zu reden“, sagt die Mutter zum Wolfgang, der in seinem Essen stochert und darüber nachdenkt, wie er entwischen kann. Denn eingeweichtes Brot mit einem Salat, den die Mutter auf den Wiesen des Luisenparks gesammelt hat, das mag er nicht.

Wenn die Mutter etwas mit diesen Worten beginnt, dann liegt Ungutes in der Luft. Ein Entrinnen ist nicht möglich, denn der strenge Blick der Mutter hält ihn an seinen Platz.

„Ich habe dich in der Schule angemeldet. Ab August geht der Schulbetrieb wieder los.“ Und zur Großmutter hin sagt sie: „Das wird auch Zeit, dann kommt der Bengel endlich von der Straße!“

Bruno lacht schadenfroh: „Jetzt fängt der Ernst des Lebens an, Bursche. Es wird auch Zeit, dass euch Zucht und Ordnung beigebracht wird! Da hat das Spielen und Schreien in den Trümmern ein Ende. “

Was das bedeutet, das weiß der Wolfgang nicht, doch Brunos Bemerkungen machen ihm Angst, dass er blass wird, und kleinlaut wagt er zu fragen: „Und der Achim? Geht der mit?“

 

Ursula schüttelt verwundert ihren Kopf: „Der kommt später in die Schule. Du weißt doch, dass er einen kaputten Rücken hat, und für die Schule ist er noch nicht kräftig genug.“

„Dann will ich auch nicht. Ich will mit dem Achim gehen.“

Die Mutter legt ihren Löffel auf den Tisch. Beide Ellbogen aufgestützt, betrachtet sie aus starren Augen ihren Ältesten, und plötzlich verfinstert sich ihr Blick und in drohendem, keinen Widerspruch duldenden Ton sagt sie: „Willst du Theater machen? Hier gibt’s kein: Ich will nicht! Du bist acht Jahre alt und müsstest schon in die dritte Klasse kommen! Das Spielen hat einmal ein Ende. Es ist so, wie der Onkel Bruno sagt: Die Spielerei ist vorbei, du bist alt genug, um ernsthaftere Dinge zu tun!“

Die Großeltern sitzen ungerührt dabei. Als die Kinder wieder gegangen sind, meint der Großvater: „Warum bist du so streng mit ihm, Urschel? Wie soll der Junge begreifen, dass die unbeschwerte Zeit vorbei ist? Jahrelang hat er spielen können, wenn wir nicht wegen eines Angriffs im Bunker sitzen mussten! Und plötzlich kündigst du ihm etwas Ernsthaftes an, und das auch noch beim Essen!“ Der Großvater gestikuliert mit seinem Löffel und fügt hinzu: „Dein Ton dem Großen gegenüber hat sich verändert, Urschel. Du bist streng geworden, manchmal sogar hart.“

„Vater, weißt du, was auf mir lastet?“

„Das, was unzählige Kriegsmütter zu tragen haben.“

Ohne es zu wollen, sagt sie: „Jungen brauchen eine straffe Hand, Vater.“ Und als sie das ausgesprochen hat, ärgert sie sich darüber, weil sie das auch von Reinholds Bruder gehört hat.

„Meinst du? Deine Hand, Urschel, sehe ich aber nur beim Großen straff, sehr straff!“

Und die Großmutter meint, und sie unterstreicht ihre Worte durch mehrmaliges Nicken: „Das habe ich schon einmal gehört! Hat dich das, was dein Schwager zum Besten gab, so sehr beeindruckt, dass du deine Ansicht geändert hast?“ Und weil die Tochter schweigt, fügt die Großmutter hinzu: „Der Junge hat Angst vor der Schule. Das hat er mir neulich gesagt, als ich mit ihm darüber gesprochen habe. Er fürchtet sich vor den Lehrern, vor den anderen Kindern...“

„Ich bin immer gerne in die Schule gegangen, Mutter. Mir hat das Freude gemacht!“, unterbricht Ursula sie. „Angst vor der Schule!“, ruft sie höhnisch. „Wie kann er vor etwas Angst haben, das er nicht kennt? Er ist so anders... Von mir hat er das nicht!“

„Urschel, es gab Zeiten, da musste ich auch Druck aufwenden und dich zur Schule zwingen. Hast du das vergessen?“

Ursula lacht schrill auf und schlägt die Hände zusammen. „Ich und Angst vor der Schule? Mit wem verwechselst du mich? Die Schulzeit war meine angenehmste Zeit... Mutter, ich habe zu tun!“ Damit springt Ursula auf und läuft in ihre Schlafstube, wo sie Hemden für die Jungen näht, und lässt die Großmutter mit der Küchenarbeit allein.

„Ja, so ist sie“, murmelt die Großmutter. „Wenn man den Finger bei ihr auf eine Wunde legt, dann läuft sie davon. So war sie schon als Kind. Und sie hat sich bis heute nicht geändert.“

Der Vater hat vorgestern Fallschirmseide nach Hause gebracht, und daraus will sie den Jungen Hemden nähen. Zuerst soll der Wolfgang eines bekommen, so dass er beim ersten Schulgang ordentliche Kleidung trägt, denn einer alleinstehenden Frau wird nicht viel zugetraut. Wie sie ihren Aufgaben und Problemen zu Leibe rückt und sie bewältigt, darauf wird mit Argusaugen geachtet, so ist das. Noch weiß kaum jemand, dass sie Witwe ist, denn das könnte ihre Lage verschärfen und die Maßstäbe anheben. Hat sie nicht auch klare Vorstellungen von Kindererziehung, von Ordnung, von Regeln und Zucht? Fehlt ihr wirklich der Mann an der Seite, um ihre Kinder damit vertraut zu machen? Der Schwager ist davon überzeugt, und jener fremde Eindringling deutete es ebenfalls an.

Ursula Andreae ist entschlossen, den anderen und auch sich selbst zu beweisen, dass sie ihren Mann im Leben stehen kann!

An Wolfgangs erstem Schultag geht es turbulent zu. Der Junge hat das Deckbett über den Kopf gezogen und weigert sich, aufzustehen. Er wolle erst in die Schule gehen, wenn auch der Achim gehe, sagt er wieder und wieder. Dass er Angst vor der Schule hat, das verschweigt er vor der Mutter.

„Zum Kuckuck! Junge, du raubst mir die Nerven!“, fährt die Mutter ihn an. „Ich habe keine Zeit, dir die ganze Geschichte noch einmal zu erklären. Jeder Mensch muss in die Schule, daran kommst auch du nicht vorbei. Schule! Was bin ich doch gerne in die Schule gegangen!“, ruft sie und verdreht vor Seligkeit die Augen. „ Die Schulzeit war die schönste Zeit in meinem Leben. Schule...“ Und plötzlich schlägt ihre Stimme vor Ungeduld um, und wieder herrscht sie den Jungen an: „Steh endlich auf und zieh dich an! Du kannst nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen!“ Und damit zieht sie ihm das Deckbett weg, wirft es über einen Stuhl und eilt aus dem Zimmer, ohne die Tür zu schließen.

An ihrer Hand ist Wolfgang zur Schule gegangen. Sie umklammerte sein Handgelenk, dass es schmerzte, und manchmal, wenn er nicht mit ihr Schritt halten konnte, zerrte sie ihn wie ein Tier hinter sich her. Viele Kinder, die vor dem Eingang standen, fürchteten sich wie er und weinten. Andere musterten frech, wer da stand oder kam, und sie hatten wohl schon irgendwelche Pläne. Wolfgang bekam noch ein paar Ermahnungen zu hören, dann wandte sich die Mutter ab und ging zur Straße zurück, wo sie abwartend stehen blieb, bis eine Lehrperson auf der Treppe auftauchte und die Kinder hieß, sich nach ihrem Alter aufzustellen. Und erst als Wolfgangs Klasse im Gebäude verschwunden war, ging sie nach Hause zurück.

Baldur Kiesel, ein Kriegsversehrter, ein einarmiger Mensch, wurde Wolfgangs Klassenlehrer. Als Kiesel sich der Klasse vorstellte, warnte er: Auch wenn ihm der linke Arm fehle, in dem, der ihm geblieben sei, stecke noch so viel Kraft, dass er ohne Mühe jemanden zu Brei schlagen könne. Und das, sagte er, habe er öfter getan, als die Schüler vermuteten. Er werde aus diesem verwilderten, unordentlichen Haufen eine Klasse schmieden, die sich sehen lassen könne! Und sofort begann Kiesel damit, dass er die Schüler aufstehen und sich setzen hieß. Alles müsse gleichzeitig geschehen, weil sich das für deutsche Schüler gehöre, die einmal ordentliche Menschen werden wollen, brüllte er. Die Vermittlung von Buchstaben ging bei Kiesel folgendermaßen vor sich: Er malte ein „m“ an die Tafel und sagte, das sei wie ein Bär, weil der Buchstabe brumme wie ein Bär. Ein „H“ sei wie eine Teppichstange. In Wirklichkeit aber sei es ein „H“! Kiesel riss seinen Mund auf und staunte in die Klasse: „Haaaa!“ Er rief Wolfgang an die Tafel und drückte ihm den Zeigestock, wie Kiesel den meterlangen Stock mit der gedrechselten Kugel am unteren Ende nannte, in die Hand und befahl: „Den Stock unter den Buchstaben, dann laut lesen!“ Der Wolfgang las: „Bär, Turnstange...“ Kiesel geriet außer sich. Er lief rot an und fuchtelte ungehalten mit dem einen, dem kraftstrotzenden Arm in der Luft herum. „Bär, Turnstange!“, äffte er Wolfgang nach. Er sei ein Esel, weil er die beiden Buchstaben nicht lesen könne! Habe er nicht immer wieder und ausdrücklich betont, dies seien ein „m“ und ein großes „H“? „Mach, dass du auf deinen Platz kommst!“, schrie Kiesel unter dem Gelächter einiger Schüler und trat Wolfgang so heftig in den Hintern, dass er weit durch den Mittelgang bis an die rückwärtige Wand stolperte. Seitdem hatte der Junge für die nächste Zeit seinen Spitznamen: „Turnstangenesel“ riefen sie, wenn er auf dem Schulhof auftauchte.