Die Bärin Roman

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Kapitel 2

Es ist Sommer geworden, und die strenge Kälte des letzten Winters, die bis ins Frühjahr hinein dauerte, die ist nun vergessen. An die Schuttberge auf den Straßen und an die leeren, zerlöcherten Häuser haben sich die Menschen gewöhnt. Gottlob, wir haben überlebt und uns in dieser ungeordneten Welt und dem ungeordneten Leben eingerichtet, so gut es geht, trösten sie sich und sagen: Wir sind überzeugt, dass es einmal besser werden wird, denn so kann es nicht für alle Zeit bleiben. Wer kann ein ganzes Volk knechten und kurzhalten und als Fußabtreter unter sich dulden? Irgendwann hat alles einmal sein Ende gefunden. Das kannst du in der Bibel nachlesen: Ein Menschenleben lang zog Israel durch die Wüste, dann durfte es wieder in normalen und geordneten Verhältnissen leben, sagt Pastor Mildenberg.

Auf den Trümmerbergen versuchen Frauen, die Kriegsspuren zu beseitigen. Schmale Schienen sind gelegt worden, und in Loren wird der Schutt fortgeschafft. Andere hocken dazwischen und putzen Steine, das Klirren und Knirschen ihrer Beile und Hämmer geht von früh bis in den späten Abend und ist zur Melodie eines neuen Beginns geworden.

Auch Ursula Andreae reinigt Steine. Ihre Hände sind rau und rissig geworden, und wenn sie jemandem die Hand gibt, dann spürt er eine derbe Männerhand. Anfangs ging sie krumm, und sie musste sich aufstützen, wenn sie sich erhob. Jetzt ist sie flink und behände, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes gemacht als Steine geputzt. Ab und zu steht der Vater bei ihr und berichtet, was er auf seinen Touren gesehen oder erlebt hat. Ihn scheint der Schwarzmarkt zu locken, der im Stadtviertel einen Aufschwung erlebt, dass mancher an nichts anderes denkt als daran, wie er daraus Nutzen ziehen kann. An diesen Orten bekomme man beinahe alles, wonach einem der Sinn stehe, weiß er zu berichten, aber nur, wenn man etwas dagegen zu bieten habe, das einen entsprechenden, oft einen weitaus höheren Gegenwert habe.

„Willst du da mitmischen?“ fragte die Tochter ihn einmal.

„Ich bin doch nicht verrückt und lass mich auf meine alten Tage einsperren! Wen die schnappen, mit dem gehen sie ganz schön rüde um! Ne, Urschel, ich bleibe bei meinen Touren. Damit geht’s uns doch nicht schlecht, oder?“

Nein, schlecht geht’s ihnen nicht, aber gut... Sicher, mancher lebt elendiger als sie und weiß nicht, wie er den Tag überstehen soll oder ob er das nächste Wochenende noch erleben wird. Da sind sie besser dran! Sie haben nicht nur Kaninchen auf dem Balkon, sondern seit einem Monat auch fünf Legehennen. Der Vater hat mit dem Bruno den Balkon so verkleidet, dass die Verschläge für die Tiere von der Straße aus nicht zu sehen sind. Am Luisenpark haben sie einem alten Mann, der seine Hühner in der dritten Etage eines zerbombten Hauses versteckt hielt, alle Hennen gestohlen. Als er die Tiere füttern wollte, da lagen nur noch deren Köpfe im Stall. Vom Bulgaren Nikolai Wasow, der sich zwei Häuser weiter in einer Parterrewohnung eingerichtet hat, wird erzählt, dass der im Bad in der oberen Wohnung ein Schwein hält! Und Abend für Abend steigt er hinauf, um vor der Tür seines Schweinestalls zu schlafen, damit ihm niemand diese Kostbarkeit klauen kann. Es heißt auch, er habe immer ein langes Fleischermesser bei sich, und seine Frau Mascha schlafe, statt mit ihrem Nikolai, mit einem Beil im Bett.

„Ja, es geht aufwärts“, sagt jetzt auch die Großmutter, wenn jemand sie nach ihrem Ergehen fragt. „Du lieber Himmel, man mag gar nicht daran denken, wie es im Frühjahr noch gewesen ist, als wir im Irrenhaus und später im Keller gehaust haben! Da sieht es heute doch anders aus! Eine trockene und warme Stube, in der es schön ist zu sitzen, fließendes Wasser... Doch das Beste ist, dass es keine Sirenen mehr gibt, die uns in den Bunker scheuchen und auch keine Bomben über dem Kopf, stattdessen Nachtruhe und sicheres Schlafen... Was will man mehr! Ja, und der Sohn ist aus dem Krieg heimgekehrt und hat sich wieder eingelebt. Arbeit hat er noch keine, aber das wird sich auch bald ändern! Wenn man sich nur bescheiden kann und ein wenig Geduld aufbringt!“

In den letzten Tagen, seitdem es heiß geworden ist, ist die Großmutter Emma Straeten auch wieder öfter auf der Straße zu sehen. Sie steht bei der Tochter oder wandert zu den anderen Frauen, um mit ihnen zu plauschen und etwas zu erfahren. Sie fühle sich wohl in dieser Wohnung, und sie werde sie nicht mehr verlassen, sagt sie, obwohl sie sich anfangs mit Händen und Füßen gesträubt habe, in die Nähe dieses verfluchten braunen Hauses zu ziehen. Wenn es Zeit ist, eine Mahlzeit vorzubereiten, dann geht sie in ihr Reich zurück, wie sie zu der Wohnung sagt. Und bei diesem oder jenem fügt sie auch schon einmal hinzu: Ein Großreich haben sie uns genommen, aber ein kleines, friedliches, das haben wir gefunden. Und da bin ich gerne!

Sorgen macht sich die Mutter um Bruno. Der langweilt sich und weiß nichts anzufangen mit der vielen Zeit. Wenn man mich doch wieder arbeiten ließe, klagt er, dann wäre ich zu etwas nütze. Aber so! Der Vater schlug vor, er könne ihn auf seinen Touren begleiten oder das eine oder andere reparieren. Doch vor Arbeiten im Haus drückt er sich, und für Vaters Touren sei er auch nicht zu gebrauchen. Geht mir weg! Für so etwas bin ich nicht geschickt genug, redet er sich heraus. Ich brauche andere Arbeit, richtige Arbeit. Dann träumt er am offenen Fenster den Wolken nach und denkt wohl an die Jahre, die ihm genommen worden sind oder was er im Feld erlebt hat.

Die Ursula bemerkte einmal der Mutter gegenüber: „Was dem Bruno fehlt, ist nicht nur Arbeit, dem fehlt auch eine Frau.“

„Eine Frau? Du bist nicht gescheit! Was du so denkst! Der Junge ist immer noch vom Krieg gezeichnet, so etwas vergisst man nicht von heute auf morgen. Er ist schwach und immer noch so mager... Und da kommst du ihm mit einer Frau!“

„Ich komme nicht mit einer Frau, ich meine nur, dass ihm ein Mensch fehlt, der ihm hilft, die schlimmen Erlebnisse zu verarbeiten.“

„Er hat mich. Was braucht der Bruno eine Frau! Und was heißt schlimme Erlebnisse? Haben wir nicht auch Schlimmes erlebt?“

„Dir hat keiner ein Gewehr an den Kopf gehalten!“

„Haben sie das mit ihm gemacht?“

„Frage ihn. Ob es so war, das weiß ich nicht...“

Die Mutter schabt nachdenklich die Möhren. Ja, der Bruno ist anders geworden. Das ist nicht der Junge, der von ihr weg in den Krieg gezogen ist. Es ist möglich, dass er Schreckliches erlebt hat, über das er nicht reden will. Vielleicht klebt doch Blut an seinen Händen, obwohl er es bestritten hat und er ist deswegen so seltsam geworden und unzufrieden und stiert stundenlang in die Luft. Ein Gewehr trägt keiner wie einen Fingerring mit sich herum; Bruno hat es getragen, um damit auf Menschen zu schießen. War es nicht so, dass derjenige, der viele Feinde ins Jenseits beförderte, geehrt wurde und einen Orden nach Hause trug? Nun, wenn Bruno auf Menschen geschossen hat, dann war es Notwehr, weil der andere ihm das Gewehr an den Kopf gehalten hat. Was blieb ihm da übrig als abzudrücken? Nein, nein, Bruno ist ein grundanständiger Mensch, der handelt nicht leichtfertig und tötet, wer ihm über den Weg läuft! Ich bin seine Mutter, ich weiß es! Vielleicht mache ich mir auch unnütze Gedanken. Würde er nicht gleich aufbrausen, dann würde ich schon einmal danach fragen. Ach, es ist alles so gekommen, wie es kommen musste, und das andere wird auch kommen, wie es kommen muss! In den ersten Nächten konnte er nicht in einem warmen, weichen Bett schlafen, und jetzt ist er nicht herauszukriegen. Er wird auch mit dem fertigwerden, worüber er nicht sprechen mag.

Sie sammelt die Möhrenabschnitte zusammen und trägt sie auf den Balkon zu den Kaninchen. Unten steht Bruno bei Rosi Vederle, dieser leichtsinnigen und liederlichen Person, die sich darauf versteht, den Männern den Kopf zu verdrehen und Geld oder anderes aus ihnen herauszupressen. Wenn er nach oben kommt, dann wird sie ihn vor diesem Weib warnen müssen, denn die Frauen auf den Trümmern erzählen sich unglaubliche Geschichten von der Vederle.

Zum Räumen der Schuttberge sind Besatzungssoldaten mit Bulldozern eingesetzt worden. Seit dem frühen Vormittag rattern und dröhnen sie durch die Straße, und mancher kommt vor die Tür gelaufen, um zu sehen, was sie anstellen. Da stehen sie Spalier und applaudieren: Jetzt wird es allmählich schöner werden in der Stadt und besser, mutmaßen sie, und das Normale und die Ordnung werden wieder die Oberhand gewinnen.

Mehr Aufmerksamkeit als die schweren Bulldozer haben zwei Schwarze, die unter der Aufräumkolonne sind: Wenn sie lachen, und sie lachen gerne, dann zeigen sie so leuchtende Zähne, als würde ein Licht sie anstrahlen! Beim ersten Sehen waren die Frauen ängstlich, jetzt sind sie begeistert, vor allem Rosi Vederle, die den Soldaten zuwinkt, die mit einem Schwarzen scherzt und ihm sogar eine Tasse Kaffee hinaufreicht. Nachdem er vorsichtig davon gekostet hat, hat er sich vor Ekel geschüttelt und ihn in weitem Bogen ausspuckt, und er wirft ihr die Tasse zu, dass sie von oben bis unten bekleckert ist. Solchen Kaffee tränken die Sieger nicht, wird die Rosi belehrt. Da musst du mit Bohnenkaffee kommen oder mit anderem guten Zeug! Doch die Rosi scheint sich über die Flecken zu freuen, zeigt sie jedem, der sie sehen will, als wären ihr Nettigkeiten auf Rock und Bluse geschrieben worden.

Alle Soldaten sind freundlich und höflich zu den Frauen, und nach wenigen Tagen haben die ihre Zurückhaltung den Soldaten gegenüber aufgegeben. Ursula fällt es schwer, in diesen Männern Feinde zu sehen. Endlich beginnen sie etwas Gescheites, nachdem sie vor Monaten noch Bomben herbeigeschafft haben. Solche Bulldozer, wie sie hier eingesetzt werden, die schaffen in einer Stunde mehr als hundert Arme in einer Woche, wundert sie sich. Ehe man sich’s versieht, sind etliche Meter Schutt beiseitegeräumt und die Straße ist sauber; da braucht nur mit dem Reisigbesen nachgegangen zu werden.

 

Eines Tages kommt Ursula aufgebracht nach oben, nachdem sie vor der eigenen Tür ein wenig Schutt beiseitegeschafft hat. „Geh einmal auf den Balkon, Mutter, und guck dir das an!“

„Na, was gibt’s denn, das ich mir ansehen soll?“

Die Tochter reißt die Balkontür auf und die Mutter lehnt sich vorsichtig über die Verkleidung. „Ich sehe nichts.“

„Nichts? Sieh dir den Bulldozer mit dem Schwarzen an. Da drüben! Der Schwarze hat Hilfe bekommen! Und was für welche!“

Die Großmutter sieht Rosi Vederle ausgelassen neben dem schwarzen Soldaten auf dem Bulldozer sitzen, mit wehenden Haaren und einer Zigarette im Mundwinkel, sie ist leuchtend geschminkt und sehr darauf bedacht, ringsum wahrgenommen zu werden. Und als sie Emma Straeten auf ihrem Balkon entdeckt, winkt sie ihr fröhlich zu. „Was hast du von der erwartet?“ fragt sie die Tochter. „Dass die wie eine läufige Hündin um die Soldaten scharwenzelt, das habe ich schon lange bemerkt. Ihr hustendes und verrotztes Blag lässt sie in einem Kellerloch zurück, dass es wie ein Nachtschattengewächs aussieht – aber sie macht Schönwetter bei den Soldaten! Raucht und lässt sich wohl Schokolade schenken... Was ich dir sage, Urschel: Sie werden ihr noch etwas anderes schenken! Etwas, für das sie Windeln waschen muss!“ Und damit wendet sie sich ab und kehrt in die Küche zurück. Beim Mittagessen sagt sie zum Vater, sie habe das Gefühl, durch den Krieg sei jegliche Ordnung zerstört worden. Die Häuser lassen sich wieder aufbauen, ob es aber möglich sei, die Ordnung in den Menschen, in ihren Herzen und Köpfen wiederherzustellen, daran habe sie große Zweifel. Es gebe keine Zucht, keine Regeln mehr. Jeder mache, was ihm gerade in den Sinn komme. Schamlosigkeit bleibe Schamlosigkeit, so wie Diebstahl und Mord das bleiben, was sie sind.

Schweigend hat der Vater sie reden lassen. Er sitzt über seinem Teller und blickt nicht auf. Und als sie mit ihren Belehrungen zu Ende ist, starrt er auf seinen Löffel und sagt: „Du hast ja recht, Mutter: Totschlag und Mord, das sind große Sünden. Einem anderen etwas aus den Händen zu reißen und damit wegzulaufen, ist auch eine Sünde für den, der nicht um sein Überleben kämpft. Wer bestraft werden muss, der soll seine Strafe bekommen. Weißt du, Mutter, dann habe ich auch Sünden auf mich geladen und habe Bestrafung verdient: Ich habe, damit wir leben können, Möbel und vieles andere aus fremden Wohnungen weggetragen. Ist das kein Diebstahl?“

Die Großmutter ist verdutzt. Ihr fällt nichts ein, sie weiß nicht, was sie ihm darauf entgegnen soll und legt den Löffel hin. Ja, sie schiebt sogar ihren Teller in die Tischmitte, wie ein Kind, das satt oder trotzig ist. Ein wenig triumphierend verzieht der Vater die Mundwinkel zu einem Lächeln. Er sagt: „Beruhige dich, Mutter. Zu dem, was heute üblich ist, hat ein katholischer Bischof Verständnis gezeigt und es zugelassen...“

„Ich bin nicht katholisch“, sagt die Mutter.

Der Vater lacht. „Nein, das bist du nicht. Aber wenn die Kirche ein weites Herz zeigt, dann sollten wir auch ein...“

„Für Schamlosigkeit, für Laster wird sie kein weites Herz haben“, unterbricht die Großmutter ihn. „Vater, wenn ein Weibsbild einem Neger auf den Schoß kriecht, und die Kinder stehen dabei und gucken zu – für so etwas kann niemand Verständnis haben, auch kein noch so weitherziger Bischof! Woher sollen die Kinder lernen, was man tut oder lässt, was man sagt oder wann man den Mund hält, wenn nicht von den Eltern! Was sind das für Vorbilder? Geh nur auf den Balkon und sieh es dir an...“

„Lass sie. Sie muss das mit sich selbst abmachen.“

Stumm beenden sie die Mahlzeit. Und als sich einmal die Blicke von Mutter und Tochter treffen, zwinkert die Tochter ihr zu: Da hast du recht, das geht zu weit!

Der Vater ist wieder gegangen, die Frauen stehen beim Abwasch. Die Mutter fragt: „Weißt du, wo die Vederle ihr Kind versteckt?“

„Wo? Ich denke, in ihrer Wohnung.“

„Da hockt das arme Wurm tagelang in diesem Loch, während die Mutter sich vergnügt...“

„Vielleicht ist sie deshalb bei den Amerikanern, weil die ihr Brot zustecken oder Fleisch und Süßigkeiten für ihr Kind.“

Das mag die Mutter nicht glauben. „Die verschenken doch nichts“, weiß sie.

„Dem Wolfgang und dem Achim haben sie auch Schokolade gegeben.“

„Was haben die? Und du hast das zugelassen?“

„Ich war nicht dabei. Die Jungen sagen, die Soldaten haben sie herangewinkt, haben ihnen befohlen, sich in einer Reihe aufzustellen, den rechten Arm zu heben und ‚Heil Hitler’ zu rufen. Und darüber, sagen sie, hätten die Soldaten sich totgelacht. Und zur Belohnung für diesen Spaß bekam jeder ein Stück Schokolade und Kaugummi.“

Über diese Geschichte vergisst die Großmutter, die Teller abzuwaschen. Beide Hände hat sie im Spülwasser, und den Kopf zur Seite geneigt, betrachtet sie ungläubig die Tochter: „Ach, das sagen die Jungen... Heil Hitler – ich glaube das nicht!“

„Sie waren nicht allein, Mutter. Eine ganze Horde hat antreten müssen.“

„Ob unsere Soldaten das in Russland auch getan haben? Der Bruno?“

„Damals war Krieg, Mutter. Und wie hätten die den Kindern Schokolade geben sollen? Die hatten nicht einmal Brot.“

Den Besatzungssoldaten auf ihren Bulldozern traut die Großmutter so etwas nicht zu, aber sie findet Gefallen an dem Gedanken, dass der Bruno, dass deutsche Soldaten an russische Kinder Lebensmittel verteilt haben. Nach einer geraumen Weile meint sie: „Der Bruno, Urschel, der Bruno hat so etwas ganz bestimmt getan...“ Und es sieht so aus, als wollte ihr Kinn wieder zu zittern anfangen.

In der folgenden Zeit sieht man immer mehr Frauen bei den Besatzungssoldaten auf den Bulldozern, und es ist bald niemand mehr da, der sich noch lauthals darüber empört.

„Mutter, ich glaube, ich habe einen wichtigen Menschen kennengelernt“, verkündet der Vater. Er reibt seine rauen Hände, dass es klingt, als reibe er Schmirgelpapier aneinander. Selbst jetzt trägt er seinen steifen Hut. Was ihn gegen Kälte schütze, hat er der Mutter geantwortet, die ihm riet, diese Angströhre in den Schrank zu legen, das schütze ihn auch gegen Hitze, vor allem gegen eine gnadenlose Sonne, wie sie zur Zeit am Himmel stehe. Und etwas anderes habe er nicht zum Schutz für seinen Kopf.

„So? Und wer ist dieser wichtige Mensch?“

„Alois Grabenthin, ein Werkskalfaktor.“

Die Mutter kichert: „Werkskalfaktor... In welchem Werk ist der Grabenthin Kalfaktor?“

„In der Eisengießerei.

„Kalfaktor? Was hat der denn zu tun? Die arbeiten doch gar nicht mehr, heißt es. Haben die Alliierten nicht alles abgebaut und fortgeschleppt?“

„Für einen Menschen wie Grabenthin gibt es immer was zu tun, und wenn er Tag für Tag irgendeine Halle auskehrt! Ganz still, Mutter, steht der Betrieb nicht, und das wenige, was sie herstellen, das holen sich die Engländer oder Franzosen. Aber Grabenthin sagt, so kann es nicht lange bleiben. Deutschland muss wieder auf die Füße kommen. Das wollen auch die Alliierten. Die Produktion wird wieder angekurbelt, sagt er. Ich glaube, er hat recht, Mutter: Millionen Menschen lassen sich nicht in einen Hungerkäfig sperren! Es wird sich ändern, es muss sich ändern! Sollen sie nur nehmen, sagt Grabenthin, um so gründlicher werden wir nachher aufbauen! Alles besser, alles moderner!“

„Ein Schlaumeier ist er, dein Grabenthin, der Herr Kalfaktor. Hatte wohl früher einen wichtigen Posten, bei dem er viel gelernt hat, was? Wie soll es besser und moderner werden? Geht dein Grabenthin zum Wahrsager und lässt sich aus dem Kaffeesatz lesen...“

„Ja, spotte nur! Ich glaube ihm. Mir leuchtet ein, was er sagt“, meint der Vater und langt nach seinem Hut, um zu gehen. „Wenn es über dich kommt, Mutter, dann gefällt es dir zu zweifeln, zu widersprechen und schwarz zu sehen!“

„So, das bin ich! So siehst du mich! Wäre ich so gutgläubig wie du, dann, dann...“ Sie weiß nicht, was dann wäre und lenkt augenblicklich ein: „Sag einmal, könnte der Grabenthin unserem Bruno nicht Arbeit verschaffen? Du siehst, wie der Junge sich vor Langeweile selbst nicht leiden kann. Ich finde, wenn der etwas zu tun kriegt, dann wird er umgänglicher.“ So ganz nebenbei sagt sie: „Die Urschel meint, ihm fehle eine Frau.“

„Was fehlt dem?“ Der Großvater lacht laut, dann meint er: „Ich werde den Grabenthin fragen. Vielleicht eine Arbeit im Pferdestall... Er erzählte mir, dass er eine Hilfe bei den Pferden gebrauchen könne.“

„Pferde? In der Eisengießerei haben sie Pferde?“

„Mutter, Pferde werden überall gebraucht. Sogar unten in den Kohlegruben.“

Die Großmutter murmelt vor sich hin: „Der Bruno als Pferdeknecht…“ Dann lauter: „Glaubst du, dass das eine Arbeit für den Bruno ist?“ Sie hat Zweifel. „Der Junge hat einmal Tischler gelernt. Aber Stallarbeit...“

„Wenn Grabenthin ihn nehmen will, dann kann man das dem Bruno anbieten. Er selbst mag entscheiden. Ich gehe jetzt.“

Ehe er die Küche verlässt, sagt er: „Wenn du Eier übrig hast, dann könnte ich damit auf den Markt gehen. Eier werden gerne genommen. Der Achim hat bald Geburtstag, sagt die Urschel. Er wünscht sich Obst, Apfelsinen, sagt er.“

„Woher kennt der Junge Apfelsinen?“

„Ich weiß es nicht, aber er würde gerne welche haben. Mutter, denk einmal darüber nach, ob du Eier zum Tauschen übrig hast, ein paar. Eier sind gefragt.“

Als der Achim Ende Juli seinen Geburtstag feiert, liegen zwei Apfelsinen auf dem Frühstückstisch, so groß wie seine Faust, und die Großmutter kann es gerade noch verhindern, dass er hineinbeißt. „Achim, die müssen geschält werden, nicht wie Kartoffeln, sondern so...“ Sie ritzt die Schale ein, löst sie von der Frucht und legt ihm die blutroten Spalten auf einen Teller. „So, nun kannst du sie essen!“

Aus Angst, dass der Wolfgang, der dabeisteht, auch zulangen könnte, zieht Achim sich mit dem Teller in eine Ecke zurück, und als er auf die erste Spalte beißt, brüllt er los und spuckt alles auf den Boden. „Sind die sauer!“, schreit er. „Das sind gar keine Apfelsinen. Die Soldaten, die haben richtige Apfelsinen, die schmecken! Das sind keine!“

„Nun mal sachte!“ Die Großmutter nimmt den Teller und streut ihm Zucker darauf. „Das hier sind auch Apfelsinen. Blutapfelsinen, weil die so rot sind. Die isst man mit Zucker. Sag einmal: Lässt du dir von den Soldaten Apfelsinen schenken? Haben die denn welche?“

„Bessere als deine.“

„So, so. Was musst du denn tun, dass sie dir so etwas schenken?“

„Die wollen meine Lieder hören.“

„Was sind das für Lieder?“

„Lieder vom Krieg. ‚Die Fahne hoch’ und ‚Bomben auf Engelland’, das hören sie am liebsten.“

„Das wollen die hören?“, wundert sie sich. „Solche Lieder darf man nicht mehr singen, Achim.“

„Doch, die Soldaten wollen sie hören, darum bekomme ich Apfelsinen, Schokolade, Bonbons und Kaugummi.“

Vorsichtig und zögernd drückt der Achim die Apfelsinenspalten in den Zucker und leckt ihn ab. Zum nächsten Geburtstag wolle er keine Apfelsinen mehr, sagt er. Da werde er sich etwas anderes ausdenken.

Ursula Andreae geht kaum noch zum Steineputzen auf die Straße, weil sie genug hat vom lasterhaften Gerede einiger Frauenspersonen, und weil sie im Winken, ja schon im Zulächeln der Soldaten auf ihren Bulldozern eine Aufforderung wittert, es wie andere Weiber zu machen und zu ihnen auf den Sitz zu klettern. Seit kurzem sitzt sie wieder öfter bei ihren Kindern, vor allem beim Marlenchen, das von früh bis spät am Schürzenzipfel der Großmutter hängt und ihr schon lange lästig ist. „Das Kind ist mir ständig um die Beine“, klagte sie. „Urschel, das Mädel ist wie ein junger Hund. Die bringt es noch dahin, dass ich stürze.“

Ursula hat sich mit dem Marlenchen vor die offen stehende Balkontür gesetzt und rupft Lappen, aus denen sie für das Kind eine Puppe fertigen will. Müde geworden, stumm und gelangweilt, sieht das Mädchen zu, wie die Mutter Lappen für Lappen auseinanderrupft. „Bist du wieder müde?“, fragt die Mutter, doch das Kind antwortet nicht, es hat die Frage nicht gehört, so dass die Mutter noch einmal nachfragt, worauf das Marlenchen sich nur noch fester an die Mutter schmiegt. Mit dem Mädel stimme etwas nicht, hat die Großmutter gemeint, Ursula solle mit ihr zum Arzt gehen. Urschel, wie kann ein so junger Mensch nur immerzu abgeschlafft und müde sein! Das Kind ist nicht gesund! Ursula brauste auf und meinte, ihre Tochter sei so normal wie die beiden Jungen auch. Was die Großmutter als Krankheit ansehe, das sei nichts weiter als eine Sache des Temperaments.

 

Sie betrachtet ihr müdes, stilles Kind und will es ein wenig aufmuntern. „Das kommt alles hier herein“, erklärt sie und hebt einen von Stopfflecken übersäten Damenstrumpf hoch. „Siehst du: Das wird der Bauch und das der Kopf.“ Nein, das Marlenchen zeigt kein Interesse, es vergräbt sein Gesicht in der Bluse der Mutter. „Und Arme und Beine, die machen wir auch aus diesem Stoff, Marlenchen.“ Die Mutter wedelt mit dem Stofffetzen. Das Kind schweigt. Müde reibt es seinen Kopf an der Mutter und wartet ab, was das werden wird. Später holt die Mutter eine Zigarrenkiste, in der sie Garn und Nadeln, Knöpfe und Sicherheitsnadeln aufbewahrt. Sie schneidet Balg und Kopf zurecht und vernäht beides, um es mit den gerupften Fäden zu stopfen, als die Großmutter in die Küche kommt und meldet: „Urschel, geh einmal nach draußen, da sitzt ein Soldat, der dich sprechen will!“

Ursula erstarrt. Sie wird abwechselnd bleich und rot und meint, das Herz würde ihr zum Hals herausspringen. Sie ist kaum zu hören, als sie fragt, und der Name will ihr nicht über die Lippen: „Reinhold?“

Die Mutter schüttelt den Kopf. „Geh, Urschel, geh. Er sitzt wohl schon lange vor der Tür.“

Der fremde Soldat sitzt auf dem großen Mauerbrocken, auf den sie sich auch manchmal setzt, und sieht den Bulldozern zu. Erst als ihr Schatten über ihn fällt, bemerkt er sie und steht auf. „Frau Andreae? Ursula Andreae?“ fragt er.

Ursula nickt. „Ja, die bin ich.“

Der Soldat kann seine Augen nicht von dem reißen, was er in der Straße sieht: die lachenden und rufenden Frauen bei den Besatzungssoldaten; einige winken ihm zu, sind übermütig und kreischen. Der Mann ist verdreckt und unrasiert, und das linke Glas seiner Brille ist zersplittert. Er trägt noch immer seinen Militärmantel und Stiefel. Trotz der Hitze ist sein Mantel zugeknöpft. Plötzlich, als würde er aufwachen, lacht er, um Nachsicht bittend, und sagt: „Entschuldigen Sie, Frau Andreae. Sie wissen ja meinen Namen noch nicht: Johann Lewandowski.“ Er reicht ihr die Hand.

Ursula ist so verwirrt, dass sie seine Hand nicht loslässt. Die Hand ist kalt und hart und liegt schlaff zwischen ihren Fingern. Dann fragt sie so leise, dass der Soldat sich zu ihr hinneigen muss: „Sie kommen aus dem Osten?“

„Ja, aus Sachsen, Frau Andreae...“

Ursula kaut auf ihrer Lippe, und wieder verstreicht Zeit, bis sie fragt: „Haben Sie Nachricht von meinem Mann? Reinhold Andreae?“

Der Soldat wendet sich ab und betrachtet wieder die dröhnenden Bulldozer. Und in die Richtung, wo die Fahrzeuge dröhnen, spricht er: „Ja, ich habe Nachricht, Frau Andreae. Keine gute...“

„Reden Sie. Erzählen Sie, was mit meinem Mann ist.“

„Ihr Mann lebt nicht mehr, Frau Andreae...“

„Aber, ich habe doch...“

„Er ist gestorben. In Tschechien war es, Frau Andreae...“

Ursula steht erstarrt und nachdem sie begriffen, was er gesagt hat, beginnt sie ihren Kopf zu schütteln, immerzu, weil es das nicht geben kann, und wieder und wieder murmelt sie: „Aber, ich habe doch...“ Endlich lässt sie seine Hand los und fasst sich ans Herz. „Wie ist es passiert, Herr Lewandowski?“ fragt sie schließlich. Der Soldat mag sie nicht ansehen, sein Blick verfolgt die lauten, fidelen Frauen bei den Besatzungssoldaten. Und als spräche er zu ihnen, sagt er: „Erschossen. Tschechische Partisanen haben ihn erschossen. Ich denke, es ging schnell, Frau Andreae.“

Ursula ist derart erstarrt, dass sie nicht weinen, sich nicht bewegen, nicht einmal ein Wort aussprechen kann, obwohl hundert Wörter in ihr schreien und nach draußen drängen. Dass der Vater dazugekommen ist, das bemerkt sie erst, als er fragt: „Urschel, du hast Besuch bekommen?“

„Ja, Besuch“, antwortet der Soldat. „Ich bin aber kein guter Besucher für die Frau Andreae.“

Der Vater, der bislang nicht zugehört hat, stellt sich vor: „Gottfried Straeten. Ich bin ihr Vater.“ Er reicht dem Soldaten die Hand. Dass die Tochter wie erstarrt, wie tot ist, scheint der alte Mann nicht zu bemerken. Er sagt: „Willst du mit deinem Besuch hier draußen stehen bleiben? Kommen Sie ins Haus, junger Mann. Ein Butterbrot und eine Tasse Kaffee, das können wir Ihnen noch anbieten...“

Als der Soldat in die Küche tritt und die Großmutter erkennt, wen der Vater mitgebracht hat, beginnt wieder ihr Kinn zu zittern und sie schlägt die Hände zusammen, denn sie ahnt, was dieser herabgekommene Mensch zu melden hat. Ursula hat sich in das Zimmer zurückgezogen, wo sie mit ihren Kindern schläft. Nachdem die Großmutter die Botschaft des Fremden gehört hat, nimmt sie die Kinder und geht mit ihnen aus dem Haus, so dass der Vater mit dem Soldaten ungestört reden kann.

Zusammen mit Reinhold Andreae und anderen Kameraden hätte er, nachdem ihre Einheit aufgerieben war, Reißaus in Richtung Heimat genommen, erzählt Lewandowski dem alten Mann. Sie hätten sich ohne Probleme bis nach Schlesien durchgeschlagen. Die Heimat war erreicht, und sie fühlten sich sicher. In den entlegenen westlichen Dörfern habe es ausgesehen, als hätten die den Krieg verschlafen: Alles sei intakt geblieben, so gut wie nichts beschädigt gewesen. Ja, die Heimat hatten sie erreicht, aber sie waren nicht zu Hause. Reinhold Andreae, die Kameraden und er seien weiter ins Gebirge gezogen, ins Grenzgebiet zu Tschechien. Und da seien sie in eine Falle gelaufen, erzählt Lewandowski. Sie wussten, in russische Hände zu geraten, das wäre schlimmer als der Tod. Lieber eine Kugel in den Kopf, als in russische Gefangenschaft. Gegen sowjetische Lager, so sagte man, wäre die ewige Verdammnis das Paradies. Sowjetisches Militär war es nicht, dem sie in die Arme gelaufen sind, wahrscheinlich tschechische oder polnische Partisanen, das haben sie nicht herausfinden können. Deren Hass jedoch auf alles Deutsche, der sei unbeschreiblich gewesen. Sie wurden in einen leeren Kuhstall gesperrt. An Flucht sei nicht zu denken gewesen, denn der Stall wurde streng bewacht. In der Nacht sei ein LKW gekommen und habe sie, angetrieben von schwer bewaffneten Ganoven, in eine größere tschechische Stadt gebracht. Bitterkalt sei es gewesen, dass ihnen der Atem in den Bärten gefror. Während der Fahrt habe starker Schneefall eingesetzt. Auf einem Marktplatz wurden sie zusammengetrieben, da hatten sie viele Stunden in Kälte und Schnee zu stehen und auf das Ergebnis der Beratung ihrer Bewacher zu warten. Nach und nach hätten sich neugierige Bürger an sie herangetraut, die hätten geschimpft, sie bespuckt und mit Steinen nach ihnen geworfen. Einer der Gaffer sei auf den Gedanken gekommen, die Gefangenen mit einem Knüppel zu schlagen, und weil die Wachen ihn nicht hinderten, kamen immer neue Peiniger hinzu, bewaffnet mit allem, was ihnen in die Hände gefallen ist: Harken, Spaten und Mistgabeln, einer brachte sogar eine langstielige Axt mit und habe begonnen, wie ein Irrer um sich zu schlagen. „Es lagen Verletzte da, sogar Tote – doch die Wachen hinderten niemanden und ließen die Misshandlungen zu“, berichtete Lewandowski. „Ja, schließlich kamen die Weiber! Fluchend und kreischend stürmten sie auf uns los und begossen uns mit kochendem Wasser, sie schleppten sogar siedendes Öl heran und schütteten es über uns. Andere versuchten, uns die Kleidung vom Leibe zu reißen...

Ich sah, dass sie sich Reinhold Andreae vorgenommen hatten. Er versuchte nicht sich zu wehren oder sie zu hindern, Reinhold schien vor Angst gelähmt, schien willenlos geworden zu sein, schon halbtot. Ihn zogen sie aus bis auf die Haut, schlugen ihm in die Kniekehlen, dass er zu Boden ging, brachten kaltes Wasser und gossen es, Eimer für Eimer, über ihn... Und der Reinhold saß da, die Arme um die Knie geschlungen und rührte sich nicht. Und als sie von ihm abließen, saß er immer noch da, wie er die ganze Zeit gesessen hatte – Reinhold Andreae war erfroren, er war zu Eis geworden...“