Die Bärin Roman

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Die Tochter meint: „Der Vater hat recht, Mutter: Das Haus an sich ist niemals schrecklich gewesen, es war das Pack, das sich da eingenistet hatte.“

Mit brüchiger Stimme entgegnet die Mutter: „Ich weiß gar nichts mehr. Wie ein Zigeuner ziehe ich von einem Ende der Stadt zum anderen... Heute hier, morgen da! Ich möchte irgendwo in Frieden bleiben können.“

Der Vater ist noch ungeduldiger geworden. „Ich habe dir gesagt, Emma, dass es eine taugliche Wohnung ist: Dach und Wände sind dicht, bis auf einen Raum gibt es noch überall Fußböden... Was fehlt, das sind die Fensterscheiben. Aber die fehlen überall, und die lassen sich reparieren. Alle Wasseranschlüsse funktionieren, du hast Wasser in der Küche und im Bad! Ja, auch das gibt es noch. Kein Wasserschleppen mehr, keine Sitzungen auf dem Eimer, bis du einen Krampf im Hintern kriegst... Und dann – Mutter, es stehen sogar Möbel da, gute Möbel. Was willst du mehr? Du solltest einmal mitgehen und es dir ansehen!“

Nein, die Mutter will nicht. Beschwichtigend tätschelt die Tochter die Hände der alten Frau. „Der Wolfgang hat dem Vater Werkzeug beschafft. Er wird für dich die Wohnung so herrichten, dass du dich wie in einer Villa fühlen wirst... Lange können wir hier nicht bleiben. Es zieht und regnet durch, und wenn wir Frost haben, dann glitzert er auf den Steinen bis in den hintersten Winkel. Sieh nur die Kinder an: Seit langem haben sie laufende Nasen, sie sind käsig und husten immerzu, und es wird nicht lange dauern, und wir haben uns den Tod geholt! Nein, wir werden dieses Loch morgen verlassen! Und noch etwas, Mutter: Wer weiß, was außer dem Werkzeug noch alles ganz nahe bei uns unter den Trümmern liegt und die Ratten anzieht.“

„Du denkst doch nicht an Leichen?“

„Doch, Mutter.“

Die Mutter schlägt die Hände vor ihr Gesicht. Still, mit bebenden Schultern weint sie eine Weile vor sich hin. Als sie allein sind, sagt sie zur Tochter, es sähe in ihr aus wie ringsum in den Straßen: Nur Schutt und Asche trüge sie in sich, Finsternis und Trostlosigkeit. Dazu die Sorge um ihren Jüngsten. Einen Sohn habe sie geopfert, der liege in russischer Erde, aber der Bruno, ihr Jüngster. Wenn sie doch wüsste, was mit ihm ist! Nichts anderes wäre mehr in ihr. Nur Angst und Sorgen füllten ihren Kopf und ihr Herz! Die letzte Zeit zwischen dem kreischenden, dem zänkischen und missgünstigen Pack habe sie ausgehöhlt. Sogar ihre Körperkraft, auf die immer Verlass gewesen sei, habe sie unter jenen Menschen verloren. Sie sei wohl krank geworden, denn es falle ihr manchmal schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Leer sei sie und aufgebraucht und müde von den Jahren und Ereignissen, so dass der Wunsch, sterben zu können, an manchen Tagen überhand nehme. Und jetzt habe sie wohl einen solchen Tag erwischt, sagt sie.

„Mutter, lass deinen Kopf nicht hängen! Du hast deine Hölle hinter dir, jeder andere hat seine hinter sich! Auch wenn alles am Boden liegt, tiefer geht es nicht mehr – es kann nur aufwärts gehen! Ganz tief in mir ist der Glaube, dass Reinhold und Bruno eines Tages vor unserer Tür stehen, und dann wird wieder alles so sein, wie es einmal war...“

„Ach, Gott gebe es...“ seufzt die Mutter. „Hätte ich deine Gewissheit, Kind, und Vaters Stärke! Er ist stark geblieben und immer noch voller Unternehmungsgeist. Bei mir ist das anders geworden. Und das will er oft nicht einsehen. Der Vater meint, es müsste mir alles noch so von der Hand gehen wie vor zehn Jahren... Ich bin siebenundfünfzig, Urschel, aber ich fühle mich, als wäre ich achtzig! Warum bin ich zum Leben verurteilt, warum?“

Jetzt bekommt auch die Tochter feuchte Augen; mit gesenktem Kopf sitzt sie der Mutter gegenüber und weiß darauf nichts zu sagen.

Gegen Abend – der Großvater sitzt mit den Enkelsöhnen vor der Tür und erklärt ihnen, warum fremde Menschen Bomben auf das Land geworfen und Frauen und Kinder, Männer und Tiere getötet haben – packt Ursula Andreae alle Dinge, die sie in dieser Höhle zusammengetragen hat, in eine Decke und verknotet sie.

„Das brauchen wir morgen früh nicht zu tun“, sagt sie zu ihrer Mutter, die bei der Enkeltochter auf dem Lager liegt. „Gleich, wenn die Sperrstunde aufgehoben ist, werden wir umziehen, Mutter. Weg von der Schuttwüste hier. So sind wir noch nie umgezogen: Mein Buckel als Umzugswagen!“ Sie lacht. „Hätten wir mehr Krempel, der Umzug wäre nicht so einfach. Das ist, als würde man von einer Kaffeetafel aufstehen...“

Die Großmutter schweigt. Sie blickt auf die kleine Marlene und streichelt immerzu deren Haar. Und das Kind liegt still mit geschlossenen Augen, es genießt diese Liebkosungen der Großmutter.

„Das hast du dir auch gerne gefallen lassen, Urschel“, murmelt die Großmutter. „Dein Haar war wie lauter Gold...“

„Marlenchens Haar ist verstaubt, Mutter. Früher, wenn ich es mit Kamille gespült habe – dann war auch ihr Haar wie reines Gold!“ Sie stellt das Bündel mit den Sachen neben die Tür. „Wir haben alles verloren, sagen wir, und doch werden wir uns mit diesem Kram einen Ast abschleppen! Was wir in der kurzen Zeit nicht alles zusammengetragen haben!“

„Vaters Werkzeug ist schwer“, meint die Großmutter.

„Ja, es ist auch mehr wert als Lebensmittelmarken“, sagt er.

Für alle ist auf dem Matratzenlager kein Platz, so wird die Großmutter bei den Enkeln schlafen, der Vater und die Tochter wollen am Tisch sitzen bleiben. Das gehe schon für eine Nacht, meinte Urschel. Im Bunker hätten sie sich manche Nacht noch ganz anders behelfen müssen.

Und als es dunkel geworden ist, sitzen Vater und Tochter einander am wackeligen Tisch gegenüber, den Kopf auf den Armen und warten auf den Schlaf.

Vier Räume gehören zur Wohnung hinter der ehemaligen Parteizentrale‚ dazu eine Küche und ein schmales Bad. Auch ein Balkon klebt an der Außenwand, von dessen Gitter ein Teil weggeschossen worden ist. Wortlos ging Großmutter Emma, als sie die Wohnung betreten hatte, durch alle Zimmer. Vor einem Fenster ohne Scheiben blieb sie stehen, um über die Trümmer nach jenem Haus zu sehen, das sie aus tiefem Herzen verabscheute. Sie betrachtete die Gegend, als wollte sie sich einprägen, wo sie fortan zu Hause sein würde. Nachdem sie lange genug die Ruinen angestarrt hatte, ist sie noch einmal durch alle Zimmer gegangen, und dabei prüfte sie in der Küche und im Bad die Wasserhähne – ja, die Leitungen sind unbeschädigt geblieben, die Hähne funktionieren und sie hat Wasser in der Wohnung! Als ihr Mann den ersten Stuhl hereintrug, setzte sie sich darauf, zog die Enkeltochter auf den Schoß, wiegte sie und begann leise zu summen. Ihrer verwunderten Tochter rief sie zu: „Doch, doch, hier ist es gut, Urschel! Hier bleibe ich! Ich habe das Gefühl, dass es mit mir wieder bergauf gehen wird!“

Als Erstes hat der Großvater die Wohnungstür mit einem Riegel gesichert. Ursula Andreae machte sich über den Schmutz in der Wohnung und im Flur her, und auch die beiden Jungen mussten ihr dabei helfen, wobei der kleinere, der Achim, hinderlich war und nur Spielereien und Unfug im Kopf hatte, so dass sie ihn fortschickte. Notdürftig ist als nächstes eines der vielen Fenster abgedichtet worden, dass kein Wind hereinblasen kann. „In diesem Raum werden wir schlafen“, entschied Ursula Andreae. „Und morgen vernageln wir die anderen Fenster, dass sie alle dicht sind. Hier drinnen wird es nicht so hell sein wie draußen, aber wir haben es trocken und nicht so zugig wie drüben in der Räuberhöhle!“

Die Großmutter meinte staunend: „Man merkt, dass du lange Zeit ohne Mann bist, Urschel. Nein, wie entschieden du die Dinge angehst!“

Die Tochter lachte darüber, spuckte in die Hände und wuchtete den Eimer mit dem zusammengekehrten Schutt auf den Balkon und schüttete alles in die Tiefe.

An diesem ersten Tag in der neuen, in der richtigen Wohnung, wie die Kinder dazu sagen, ist es sehr spät geworden, bis sich auch die Erwachsenen hinlegen konnten. Jetzt hat jeder seine eigene Matratze und es braucht niemand mehr bei den unruhigen Kindern zu schlafen, weil der Vater in einer anderen Wohnung noch gute und feste Matratzen gefunden hat. Auch Decken hat er mitgebracht, dazu Kopfkissen und allerlei Küchengeräte und einen Waschkessel.

„Was sollen wir damit?“ hat Großmutter Emma gefragt. „Wir haben keinen Herd, um Wasser heiß zu machen.“

„Nein, heute haben wir noch keinen Herd, Mutter, aber morgen“, gab er zur Antwort. „Es wird alles so kommen, dass du nichts mehr vermisst!“

Anderntags haben er und Ursula aus einer zerstörten Wohnung in der Nachbarschaft einen Herd samt Ofenrohren, Töpfen und Pfannen geholt und ihn in die Küche gestellt. „Hier kannst du wieder nach Herzenslust kochen“, sagte der Großvater zu seiner Frau und ist, nachdem der Herd angeschlossen war und er ihn geprüft hatte, gegangen, um Bretter und Teerpappe zum Abdichten der Fenster zu besorgen.

Da noch alle Fensterrahmen vorhanden sind, ist es für Gottfried Straeten nicht schwierig, die zugesägten Bretter vor die Fenster zu nageln. Einen Teil im unteren Bereich lässt er frei, da will er eine Scheibe einsetzen, dass der Raum nicht ganz ohne Tageslicht ist. Und nach einer Woche hat er auch das bewerkstelligt. Zufrieden seine Pfeife rauchend sitzt er in der Stube und freut sich über den Sonnenschein, der durch das kleine Rechteck auf den Fußboden fällt.

„Woher hast du nur den Tabak“, wundert sich die Tochter. „Ist deine Tabaksdose so etwas wie das Töpfchen im Märchen, aus dem ohne Ende süßer Brei quillt?“

Der Vater zwinkert ihr listig zu. Dann, nachdem er ein paar tiefe Züge genommen hat, sagt er: „Schachern, Urschel! Tauschen!“

„Tauschen? Was haben wir denn, um es gegen Tabak einzutauschen?“

„Schau dich nur einmal in den Trümmern um! Da kannst du noch so manche Herrlichkeit finden! Und dann ab damit auf den Schwarzmarkt!“

 

„Vater! Gibt es hier wirklich einen Schwarzmarkt!“ Fast schreit es die Tochter, als hätte der Vater ihr gestanden, dass er Ungeziefer habe. Später fragt sie: „Und was tauschst du da?“ „Von der Christbaumkugel bis zur Kaffeemühle und der verbeulten Kaffeekanne – alles! Auch Bilderrahmen, Lampenschirme und Klamotten aus dem Lumpensack. Noch nehmen sie, was du bringst.“

„Und Lebensmittel?“

Nein, Lebensmittel habe er keine gesehen, sagt er. Tabak sei das höchste. Meistens werden andere Dinge getauscht, Werkzeuge, Küchengeräte, halbwegs tragbare Kleidung, auch Schmuck habe er schon gesehen. Er habe gehört, dass es anderswo Schwarzmärkte von ganz anderem Format gebe! Da würde mit Schokolade und Bohnenkaffee gehandelt und sogar mit Nylons!

„Wenn du einmal etwas Besonderes brauchst, Urschel, ich werde es dir besorgen. Fensterglas ist in der ganzen Stadt nicht zu kriegen, wahrscheinlich gibt es im ganzen Land kein Glas mehr. Unsere Fensterscheiben, die habe ich auch da aufgetrieben, Urschel!“

Ja, es ist ein Segen, dass die Eltern zu ihr gezogen sind! Wo wäre sie, wenn der Vater nicht gekommen wäre? Unter der tropfenden Decke, zwischen dem Schutt im Keller, wo der Wind ihr durch jeden Spalt Staub und Dreck ins Gesicht blies. Wo vielleicht nebenan noch Leichen unter dem Schutt liegen... An einem kalten, regnerischen Tag Ende April lugte ein heruntergekommener, fremder Mensch in ihre Behausung und fragte nach Leuten, deren Namen sie nie gehört hatte. Es gehe um seine Frau und die beiden Kinder, die haben hier oben im Haus gewohnt. Ob die fortgezogen seien? Sie wisse es nicht, hat sie dem Menschen gesagt. Sie kenne niemanden mit diesem Namen. Jetzt wohne sie hier mit ihren drei Kindern. Und alles, was sie in ihrem Raum stehen habe, das habe sie in diesem Haus gefunden. Der Mann hat sich angehört, was sie zu sagen hatte, und die ganze Zeit hat er sie angesehen, als verheimlichte sie ihm etwas. Dann ist er gegangen. Unten auf der Straße stand er längere Zeit und betrachtete den Schutthaufen, in dem er einmal mit seiner Familie zu Hause war. Vielleicht hätte er noch Steine weggeräumt und nach ihnen gesucht – aber sie und ihre drei Kinder waren ja da und wohnten in einem der Keller.

Am Abend, als sie im Dunkel zwischen den Kindern auf ihrem Matratzenlager auf den Schlaf wartete, da fiel ihr wieder die Familie jenes Mannes ein, die unter einem Schuttberg oder hinter einer der Mauern liegen könnte, vielleicht an der Stelle, wo sie mit ihren Kindern Nacht für Nacht geschlafen hat, und sie wusste nichts davon. Auf einen erholsamen und die Kräfte stärkenden Schlaf wartete von denen keiner mehr, weil der endlose Schlaf, der vollkommene, sie bereits vor langer Zeit eingeholt hatte. Und plötzlich begann sie zu frieren und sich zu fürchten, und ihre Zähne schlugen aufeinander, dass sie vom Fleck weg nach draußen hätte laufen können, wenn es möglich gewesen wäre.

Ja, der Vater ist ein Segen, denkt sie voller Inbrunst. Gott schütze ihn und die Mutter, und lass es so werden, dass wir alle wieder fröhlich sein können!

Anderntags ist es kalt, in der Nacht hat starker Regen eingesetzt. Der Vater hat sich davon nicht abhalten lassen, wieder auf Tour zu gehen, wie er zu seinen Erkundungsgängen sagt. Gestern hat er einen Beutel Kleie aufgetrieben, die die Großmutter mit braunem Zucker und Wasser verrührte. Aus diesem Kleister, Teig will sie dazu nicht sagen, werde sie für die Kinder etwas Ähnliches wie einen Kuchen backen. Die drei Enkel stehen bei ihr und sehen zu.

„Jetzt, da wir einen Backofen haben, kann ich auch wieder etwas für euch zaubern! Na, Köstlichkeiten sind das nicht – aber wir sind ja bescheiden geworden, nicht wahr?“ Zuerst legt sie reichlich Holz in die Glut, dann schiebt sie das Blech in den Ofen. Sie setzt sich daneben, auf den Stuhl mit den abgesägten Beinen, zieht das Marlenchen auf den Schoß und erzählt den Kindern, wie es bei ihren Eltern zuging, als sie selbst noch ein Kind war.

Im Flur hört sie den Großvater. Und noch bevor er in die Stube tritt, ruft er, dass er die Urschel brauche. Sie müsse sofort, ohne Aufschub, mit ihm gehen!

Die Großmutter findet, dass er stört. Die Jungen spielen zu ihren Füßen mit leeren Streichholz-und amerikanischen Zigarettenschachteln, die Enkeltochter schmiegt sich an sie und kann nicht genug von dem hören, was sie zu erzählen weiß. Es ist gemütlich und warm in der Küche, und sie ist voller Duft von dem gebackenen Kleiekuchen. „Was gibt’s denn jetzt schon wieder?“

„Ich habe Bettgestelle und Kissen! Die sind sogar noch bezogen. Im Kleiderschrank habe ich auch noch Laken und Bezüge gefunden! Dass sich dafür noch keiner interessiert hat! Die Urschel muss mir helfen. Wo steckt die denn?“

Die vernagelte Tür zum Balkon geht auf. „Hier bin ich.“

„Komm mit!“ sagt der Vater. „Wir können nicht warten, bis andere die Sachen wegschnappen.“

Durch den Regen schleppen Vater und Tochter die Bettgestelle in ihre Wohnung. Vier Betten haben sie, das reiche, meint die Tochter. Von den Eltern habe jeder sein eigenes Bett, für die beiden Jungen reiche das dritte, und sie werde Marlenchen zu sich nehmen oder es auf der Matratze auf dem Fußboden schlafen lassen. Dazu habe sie feines Bettzeug zum Wechseln, ja, allmählich werde es wie früher, bevor die Bombe ihr Haus getroffen habe. Wenn sie nun noch Strom und elektrisches Licht bekommen könnten... „Herz, was willst du mehr!“ ruft sie der Mutter zu.

„Mehr zu essen brauchen wir.“ Die Mutter zeigt auf die am Boden liegenden Jungen. „Die sind schwer satt zu kriegen. Und Feuerholz brauchen wir auch! Wenn es weiter so kalt bleibt, dann wird bald jeder Span aufgebraucht sein.“ Und mehr zu sich sagt sie: „Unten auf der Straße werden die Schwachen und Kranken umfallen wie die Fliegen. Und die kleinen Kinder auch! Das ist immer so gewesen.“ Als sie gestern die letzte Ration Mehl gekauft habe, da hätten die Leute vom Kohlenklauen gesprochen, erzählt sie. Aber hier gibt es keine Bahn, schon gar keine, die Kohlen durch die Weltgeschichte fährt. Es wäre doch schade, wenn sie von den Möbeln das eine oder andere in den Ofen stecken müssten! Der Tochter fällt auf, dass die Mutter, die mit den Enkeln zu tun hat, und die sich jetzt mit den Dingen umgeben kann, die sie einmal besaß, nicht mehr von ihren eigenen Sorgen und Ängsten spricht! Und den Bruno erwähnt sie auch nicht mehr. Ob sie nicht mehr an ihn denkt?

Dicht beim Fenster, dass er abkühlen kann, steht ihr Kleiekuchen, ein brauner, flacher Fladen, der so hart ist, dass nicht einmal die Tochter davon essen will, weil sie um ihre Zähne fürchtet. Die Großmutter weiß sich zu helfen: sie hat eine Blechtasse mit Malzkaffee vor sich auf dem Tisch und wird ihn Stück für Stück darin einstippen.

Plötzlich fahren sie zusammen: Unten im Flur ruft jemand. Sie sind darüber dermaßen erschrocken, dass sie die Kinder wie zum Schutz auf den Schoß nehmen und sich so still verhalten, als wäre im ganzen Haus nicht eine Menschenseele versteckt.

„Es ist eine Frau“, flüstert Ursula in Achims Haare. „Eine Frau ist keine Gefahr. Ich sehe nach!“

„Bist du verrückt? Du bleibst sitzen!“ Die Großmutter hat nach dem Feuerhaken gegriffen. „Ein Weib ruft, und ein Kerl mit einer Keule steht im Winkel und schlägt zu.“

Wieder wird gerufen, und diesmal ist es Ursula Andreaes Name. „Ich gehe!“ Ursula entriegelt die Tür und nimmt der Mutter den Feuerhaken weg und geht in den Flur. Gleich danach steht sie mit einer fremden Frau in der Stube. Es ist die Kriegswitwe mit den fünf Kindern. Obwohl es dunkel ist, ihre Blässe ist zu erkennen, sie leuchtet geradezu von innen heraus. Sie geht zu den beiden Frauen und gibt ihnen die Hand und stellt sich vor: „Mein Name ist Gresshage. Käthe Gresshage. Ihre Tochter wird mich noch kennen. Wir waren sozusagen Nachbarn, als sie noch drüben im Keller wohnte...“

Die Großmutter gießt Käthe Gresshage eine Tasse Kaffee ein und legt ihr ein Stück vom flachen, harten Kuchen neben die Tasse, den Frau Gresshage nicht isst, sondern für ihre Kinder einsteckt. Sie sei in Sorge, erzählt sie, ihr Zweitjüngstes, der Berni, sei vor einigen Tagen von einer Mauer gefallen, und jetzt liege er da und wimmere und weine Tag und Nacht.

„Ich weiß keinen Rat mehr! Was soll ich machen?“ klagt sie und wischt mit dem Ärmel über ihre Augen.

Die anderen wissen es auch nicht. Nach längerem Nachdenken rät der Großvater: „Gehen Sie zum Doktor Morgenthal. Der lässt wieder Patienten kommen. Was der als Bezahlung nimmt, das weiß ich nicht. Aber wenn ich kann, werde ich Ihnen dabei helfen...“

Frau Gresshage schluchzt auf und küsst dem Großvater die Hand. „Ich sag’s ja: Die braune Bande hat vieles, sie hat fast alles zugrunde gerichtet, beim Allmächtigen und den wirklich guten Menschen – da ist es ihnen nicht gelungen...“

Als Frau Gresshage gegangen ist, fragt die Tochter: „Wie willst du ihr helfen, Vater? Wir haben doch selbst nichts!“

„Nun, durch meine Touren, durch den Schwarzmarkt...“ Lächelnd hebt er eine Schulter. „Da werde ich auch für den Doktor etwas finden. Er muss ihr nur sagen, was er gebrauchen kann. Sie ist ein armes Mensch... Fünf Kinder! Da kann ich meine Ohren nicht auf Durchzug stellen.“

„Weil sie dir die Hand geküsst hat?“ neckt die Tochter ihn. Der Großvater bläst verächtlich die Luft aus. „Quatsch!“

Die Großmutter schlägt vor, auch unten an der Haustür einen Riegel anzubringen, dann würde sie sich in diesem Haus sicherer fühlen.

„Das ist kein Problem“, sagt Großvater Gottfried. „Es gibt aber andere Probleme: Was ist, wenn jemand zu uns will? Besuch wie eben? Oder wenn einer von uns nach draußen gegangen ist, und die Kinder versperren die Tür? Wir haben keine Klingel! Soll er rufen? Steine gegen die vernagelten Fenster schmeißen? Das geht nicht. Und wie ist es, wenn einer von unseren Jungen aus dem Feld heimkommt? Was hilft es, dass wir überall Nachrichten an die Wände geschrieben haben, wo sie nach uns suchen sollen, wenn wir sie aussperren?“

Die Großmutter hat sich wieder am Herd zu schaffen gemacht. Der große Topf ist mit Wasser gefüllt, und jetzt, da es kocht, rollt sie Mehlklöße zwischen ihren Handflächen und lässt sie ins kochende Wasser gleiten, das sich augenblicklich weiß färbt.

„Milch haben wir keine“, ruft sie über die Schulter. „Und doch gibt es heute Abend Milchsuppe. Wer kann das schon: Milchsuppe kochen ohne Milch? Das kann nur jemand, der so alt geworden ist wie ich“, sagt sie zu den Kindern. „Und der von klein auf Kriege und Hungerzeiten kennt!“

„Ja, Mutter, die Kinder sind ohne Schaden durch diesen Krieg gekommen“, sagt Ursula. „Einen neuen darf es nicht geben. Zwei Kriege, am Anfang des Lebens und gegen Ende des Lebens, wie ihr beide es erlebt habt, das ist zu viel! Das muss doch einmal durchbrochen werden! Ich hoffe, dass alle aus dem gelernt haben, worunter wir noch lange werden leiden müssen.“

Die Großmutter, die in ihrem Topf rührt, spricht gegen die Wand: „Ein zuchtloser König richtet Land und Leute zugrunde; wenn aber die Mächtigen klug sind, so gedeiht die Stadt.“ Und als sie das gesagt hat, hebt sie den Topf vom Herd und stellt ihn mitten auf den Tisch, wo sie eine wackelige, abgeplatzte Kachel liegen hat. Das verkürzte Tischbein ist vom Großvater repariert worden, so dass die Holzplatte, die darunter lag, weggenommen werden konnte. Die Großmutter blickt mit gefalteten Händen zu den Kindern hin, die immer noch nicht wissen, was sie von ihnen erwartet, doch dann falten sie ihre Hände und warten, dass das Tischgebet gesprochen wird.

Ursula Andreae lehnt am Türrahmen. Die Sonne steht so tief und wirft ihr Licht in die Stube, als stünde sie direkt hinter der kleinen Fensterscheibe. Wie muss es erst sein, wenn die Fenster von oben bis unten Scheiben haben und kein Licht mehr ausgesperrt wird! Drüben im Keller gab es nur Dämmer und Staub, der das wenige, durch die Ritzen einfallende Licht in einen Schleier packte. Heute, als sie an jenem zerschossenen Haus vorbeigekommen ist, hat sie gesehen, dass nach ihr andere Leute in dieses verlassene Loch gezogen sind. Aus den Spalten und Löchern rings um die Tür drang Qualm, und da, wo ihre Kinder spielten, saßen nun andere und klopften Steine. Wahrscheinlich sind es Flüchtlinge, die von einem Ende der Welt zum anderen gezogen sind, um im Keller eines zerbombten Hauses auszuschlafen oder zu sterben.

Schweigend und gedankenverloren sitzt die Großmutter auf ihrem niedrigen Stuhl neben dem Ofen und spaltet Feuerholz zu dünnen Spänen, mit denen der Großvater seine Pfeife anzündet. Unten auf der Straße, die nur noch ein schmaler Pfad zwischen mannshohen Schutthaufen ist, hört sie die Jungen schreien. Auf ihrem Bett liegt Marlenchen. Sie ist eingeschlafen. Wieder einmal ist sie eingeschlafen, denkt die Großmutter. Ein Kind in ihrem Alter dürfte lebhafter sein. Die Jungen waren lebhafter und verschliefen nicht den halben Tag. Aber Marlenchen... Sie wird das Kind besser im Auge behalten müssen!

 

Die Ruhe in der Stube wird durch den Großvater gestört. Keuchend schleppt er eine Kiste herein und stellt sie vorsichtig auf den Boden. Die Großmutter sieht nicht auf. „Na, was schleppst du denn wieder an?“

„Komm her und sieh.“

Mühsam erhebt sie sich, und als der Großvater ein Brett anhebt und sie nicht gleich sehen kann, was es ist, sagt er zu ihr: „Ja, dann fass doch einmal hinein.“

Sie holt eines von den Pfeifenspänchen und leuchtet damit in die Kiste und fährt erschreckt zurück. „Was ist das?“

„Ein Festtagsbraten, Mutter, ein Kaninchen, das bald Junge haben wird.“

„Ein Kaninchen!“ Enttäuscht geht die Großmutter wieder an ihren Platz zurück. „Was du uns alles ins Haus bringst! Und wo willst du das Tier lassen?“

„In der Stube drüben, in der die Fußbodenbretter fehlen. Sie steht leer, niemand benutzt sie. Also machen wir einen Kaninchenstall daraus!“

„Ja, ja, heute sind’s Kaninchen, morgen ist es ein Schwein“, sagt sie und wippt auf ihrem niedrigen Stuhl vor und zurück. „Wir haben selbst nichts zu beißen. Womit willst du es füttern?“

„Mit Karnickelsalat!“ lacht der Großvater auf sie herunter. „Der wächst überall. Und Zeit, um welchen zu suchen, Mutter, die habe ich reichlich. Dabei können mir auch einmal die Jungen helfen!“

„Kommt das auch vom Schwarzmarkt?“, fragt die Tochter.

Der Vater, der sich auf die Kiste gesetzt hat, blickt eine Weile schweigend zu ihr auf. Dann nickt er unmerklich und sagt: „Natürlich. Woher soll es denn sonst kommen? Glaubst du, es wäre mir nachgelaufen? Oder dass ich bei meinen Touren klauen gehe?“

„Na, meinetwegen. Du machst sowieso, was du willst. Das Fenster drüben ist noch offen, der Wind bläst herein. Aber es ist ja nur ein Karnickel, das es in dem zugigen Zimmer aushalten soll. Mich fragst du ja nicht!“ Mit abwehrenden Armbewegungen gibt Ursula dem Großvater zu verstehen, dass das Gespräch für sie beendet ist.

Anderntags stehen in der leeren Stube mehrere Käfige für das Kaninchen und seine fünf Jungen. Und fortan ist der Großvater mit einem Sack zu sehen, in dem er Löwenzahn und Gras sammelt für seine stummen Kostgänger, wie er zu den Kaninchen sagt. In der ersten Zeit saßen Ursulas Kinder stundenlang in diesem kalten und zugigen Zimmer vor den Käfigen, bis sie hinausgejagt wurden, weil sie sich den Schnupfen holten.

Heute ist wieder Frau Gresshage gekommen. Sie ist mit ihrem Berni bei Doktor Morgenthal gewesen, erzählt sie, und er habe ihr gesagt, es sei für ihn selbstverständlich, dem Kind zu helfen, es wenigstens von seinen Schmerzen zu befreien. Der Doktor habe Bernis Schulter einrenken müssen, erzählt sie weiter, das habe dem Jungen sehr weh getan, und er habe gebrüllt, dass es ihr eiskalt den Rücken heruntergelaufen sei, aber ihm sei geholfen worden.

„Hat er dafür was haben wollen?“ fragt die Großmutter.

Frau Gresshage lächelt still vor sich hin, dann sagt sie: „In solchen Zeiten, sagte der Doktor, müssen wir zusammenstehen, weil wir einander brauchen. Und dann sagte der Doktor auch noch, wir sollen alle zum Gesundheitsamt gehen und uns gegen Krätze behandeln lassen. Nein, nicht auf dem Amt in der Stadt, das liegt ja in Trümmern! Wir aus diesem Viertel müssen in die ‚Kaffeemühle’, Sie wissen doch, in den kleinen kreisrunden Erdbunker draußen am Rand des Luisenparks. Alle müssen hin, Männer und Frauen und auch die Kinder. – Sagen Sie, Frau Andreae: Wie kommt der Mensch an Krätze?“ Sie schüttelt sich. „Die hat bestimmt das fremde Volk mitgebracht, das jetzt überall die Straßen verstopft und das in jeden Winkel kriecht.“

„Wer sich nicht richtig sauber hält, der kriegt Krätze!“ weiß die Großmutter. „Und wir Hiesigen können uns ebenso wenig sauber halten wie die, die mit ihren Handwagen unterwegs sind! Mit Läusen und Flöhen ist es nicht anders!“

„Hören Sie auf!“ ruft Frau Gresshage und schüttelt sich wieder. Sie legt beide Arme um den Körper, als wäre ihr kalt geworden. „Bei dem Wort Krätze juckt es mich gleich am ganzen Körper. Und dann kommen Sie auch noch mit solchem Zeug: Läuse und Flöhe!“

„Wann müssen wir dahin?“ fragt die Großmutter.

„Heute, morgen... Wann sie wollen oder können.“

„Gut, dann lassen wir uns mal behandeln.“ Sie schiebt den Ärmel hoch und betrachtet ihren Arm. „Noch habe ich keine Krätze, aber Vorsorge ist besser als heilen. Sagt man nicht so bei den Ärzten?“

Noch am selben Tag ist Ursula Andreae zur „Kaffeemühle“ gelaufen und hat sich erkundigt, was zu tun sei. Nichts sei zu tun, sie müsse nur kommen. Am Nachmittag sei der Andrang groß, da wäre es besser, wenn sie als Mutter von drei Kindern mit ihrem Nachwuchs am Vormittag käme, sagte man ihr.

Sie ist am nächsten Vormittag gegangen. Es regnete, ein kalter Ostwind blies. Vor dem Erdbunker drängten sich die Menschen, vorwiegend Mütter mit ihren Kindern. Auch ein paar Männer waren darunter und Alte. Sie standen im Windschatten und warteten darauf, in den Bunker gerufen zu werden. Wer behandelt aus der Tür kam und nach Hause durfte, der lachte nur und winkte ab und floh gleichsam aus der „Kaffeemühle“.

Nachdem Ursula Andreae sich und die Kinder angemeldet hat, müssen sie warten. Weil es kalt ist, dürfen sie drinnen bleiben. Und es dauert nicht lange, bis sie aufgerufen werden. „Die Frauen und Mädchen nach links! Die Jungen gehen nach rechts!“, kommandiert eine abgemagerte bebrillte Frau, die immer, wenn sie jemanden aufruft, ihre Hände in die Kitteltaschen steckt. Auch der Raum ist kalt und rings an den Wänden stehen Menschen mit gesenkten Köpfen. Alle sind nackt, und viele glänzen vor Nässe und versuchen, ihre Blöße zu bedecken. Sie sind darauf bedacht, in den Bereich eines der wenigen Heizöfchen zu gelangen, um so schnell wie möglich trocken zu werden und nach draußen an die frische Luft zu kommen.

Mitten im Raum steht eine unförmige Zinkwanne, die fast bis an den Rand mit einer trüben, milchigen Brühe gefüllt ist. Dahinein muss der zu Behandelnde steigen. Der Arzt hinter der Wanne taucht seinen dicken Quast in die Brühe und pinselt die Menschen vom Kopf bis an die Beine mit der Brühe ab, wobei die Magere ihm behilflich ist, indem sie den zu Behandelnden dreht, seine Arme weit in die Höhe zieht, damit seine Achseln bepinselt werden können, oder sie zieht zu diesem Zweck auch einmal die Gesäßbacken eines Dicken auseinander. Aber Dicke sind so gut wie nicht zu sehen.

„Fertig! Nicht abtrocknen, sondern antrocknen lassen!“ kommandiert sie und winkt den nächsten in die Wanne. Die Jungen ließen diese Prozedur still an sich geschehen, aber das Marlenchen brüllte, dass die Ärztin, die die Frauen behandelte, ungehalten den Quast eintauchte und dem Kind damit einen Schwall Brühe über den Kopf goss. „Was brüllst du?“ giftete sie. „Dir passiert nichts. Schrei, wenn du draußen bist! Unsere Nerven werden hier schon genug strapaziert!“

Die Magere gibt den Jungen zu verstehen, dass sie sich wieder anziehen dürfen. Draußen fragt Achim, dem vor Kälte die Zähne klappern: „Warum haben die uns angestrichen?“

„Weil jetzt alles schöner wird in Deutschland“, sagt die Mutter. „Und da müssen auch wir schöner werden!“

„Du, da stand ein Mann... So groß!“ Achim zeigt mit beiden Händen, wie groß das gewesen ist, was er gesehen und ihn beeindruckt hat. Die Mutter tut so, als hätte sie nichts gehört und auch nicht hingesehen, sie wuschelt nur seinen Kopf, dann drückt sie den Jungen an ihre Hüfte.