Ansichtskarten, Erzählungen

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Ansichtskarten
Rheinsberg

Es sind nicht wenige Leute in Rheinsberg, die die beiden Alten kennen. Seit vielen Jahren, vielleicht seit der Wiedervereinigung, sind sie alle Jahre einige Sommerwochen in der Stadt. Draußen in den Wäldern oder am See sind sie anzutreffen. Sie gehen immer Hand in Hand, sie wirken behutsam und liebenswürdig miteinander. Egal, wo sie auch auftauchen – der Mann geht nie ohne seinen Einkaufskorb, während sie einen handtaschenähnlichen Lederbeutel bei sich hat.

Bei heißem Wetter sind sie jenseits des Grienericksees zu sehen. Langsam, aufrecht, mit festem Schritt spazieren sie durch den kühlen Wald. Den Vormittag verbringen die beiden beinahe jeden Tag auf dem Markt vor dem Schloss. Hier werden neben Obst und Gemüse, Schleuderware, Billigkleidung und Ramsch, auch alte Bücher angeboten. Ihnen gilt ihr Interesse. Die Alten blättern darin, lesen und machen einander auf das eine oder andere aufmerksam. Und schließlich wandert es in seinen Korb.

Gerade hier, zwischen den von Sonnenschirmen überdachten Verkaufsständen, sind sie bekannt. Verkäufer und Herumbummelnde grüßen sie, rufen ihnen Freundlichkeiten zu.

Heute hat der Mann unter den Büchern eine Seltenheit entdeckt. Er winkt seiner Frau, die sich am anderen Ende des Standes über eine Kiste beugt.

„Sieh einmal: Die Undset!“, ruft er. „Olaf Audunsson!“

Die Frau ist begeistert.

„Eine Perle!“, ruft sie. „Wilhelm, das Buch gehört uns!“

„Das meine ich!“

Als sie bei ihm ist, sagt er: „Der Streit wird losgehen, wer es zuerst lesen darf.“

„Natürlich der Finder“, sagt sie großzügig.

Er legt einen Arm um ihre Schulter, küsst ihre Schläfe.

„Wilhelm, ich brauche noch einige Ansichtskarten.“

„Da, beim Ratskeller. Gehen wir.“

Vom Schlosshof dröhnt Musik herüber, dann bricht sie schlagartig ab. Heute Abend ist die Generalprobe zu Monteverdis „Il ritorno d’Ulisse in Patria“. Um Störungen zu vermeiden, ist heute der ganze Innenbereich des Städtchens abgesperrt, auch Wachen sind aufgestellt worden.

Manchmal ist das alte Paar in den Schlosshof gegangen, um den Proben zuzusehen. Andere kamen, saßen irgendwo, besprachen sich leise, wunderten sich, wie oft manche Szenen durchgespielt werden mussten. In der Oper agierten durchweg junge Sänger. Einige hatten quer durch den Schlosshof zu hetzen, andere rollten auf Rhönrädern herein. Ein Sänger sollte, so sah es aus, ins Wasser stürzen ...

Beim Kartenkauf weiß die Frau genau, was sie will: Zielsicher zieht sie drei, vier Ansichtskarten aus dem Ständer.

„Na, wie findest du die?“, fragt sie den Mann.

„Ansichtskarte ist Ansichtskarte.“

„Finde ich nicht, hier ...“ Die Frau fingert eine andere hervor. „Hier – nichts als abgelichtete Kulisse, Wilhelm. Wie eine Bühne ohne Schauspieler, ohne Sänger“, fügt sie hinzu. „Solche Karten sind fade, sind ohne Leben.“

Mit schiefem Kopf betrachtet der Mann die Karten, dann seine Frau. „Ja, so ..., so kann man es auch sehen ...“, sagt er noch nicht überzeugt. „Aber wichtig, sage ich dir, wichtig ist die Botschaft. Ist der Text. Nicht das Bild.“

Die Frau setzt noch eins drauf, sie muss ihn zu ihrer Ansicht bekehren. Sie beharrt: „Die meisten Maler, Wilhelm, haben in den Vordergrund ihrer Landschaften Leben hineingemalt. Feines Leben oder pralles Leben. Und manchmal auch derbes ... Wir kennen Bilder, Wilhelm, da konnten wir geradezu Acker- oder Kuhgeruch einatmen.“

Der Mann hebt zweifelnd die Schultern.

„Ach, Lucie, Karte ist Karte“, sagt er noch einmal.

Die Frau schwenkt eine Karte. Hartnäckig fährt sie fort: „Hier, Rheinsberg! Das Schloss ..., aber davor der Markt. So wie wir Rheinsberg kennen. Und hier: die kleine hässliche Straße. Du kennst sie, Wilhelm. Die, die da drüben am See endet. Links und rechts die heruntergekommenen Häuser, schiefe Fensterläden, hängende Dachrinnen, aber da unten, Wilhelm: Leben! Menschen, die ein Boot ins Wasser schieben!“

Aus dem Schlosshof klingt Penelopes Klage. Auf dem Markt wird es still, die Leute horchen auf. Ein Pferd vor seinem Wagen, das bewegt werden möchte, wiehert dagegen an.

„Diese herrliche Musik“, sagt die Frau. „Wie freu’ ich mich auf die Oper.“

„Bis morgen Abend musst du noch warten, Lucie. Ist das nicht ein schöner Abschluss unserer Ferien?“

Die Frau nickt, dann wendet sie sich dem Kiosk zu, um die Ansichtskarten zu bezahlen.

Späte Rückkehr
Dresden

Nun, da bin ich“, flüstert Jakob Steinberger. Das sagt er immer wieder, wenn er in dieser Stadt an einem neuen Platz angelangt ist.

Vor drei Tagen ist Jakob Steinberger in seine ehemalige Heimat gekommen. „Meine gewesene Heimat“, wie er sagt. Er ist in Deutschland, um es genauer zu sagen: er steht auf der Brühlschen Terrasse in Dresden.

Jakob Steinberger ist ein alter Herr, im nächsten Jahr wird er achtzig.

„Nu, wenn du fahren willst, dann fahr“, hat seine Frau Rosel gesagt. „Der Allmächtige allein weiß, wie lange du noch dazwischen herumgehen kannst. Später ...“ Sie hat nicht ausgesprochen, was sie mit später meinte. Aber Jakob Steinberger wusste es.

So ist er gefahren.

Seit über fünfzig Jahren lebt Jakob Steinberger in Israel, seiner angestammten Heimat. Deutschland – das lag so weit weg. Die Erinnerungen glichen teils schönen, teils beklemmenden, Angst machenden Träumen. Diesen Träumen wollte er am Ende seines Lebens nachgehen.

Vieles hat Jakob Steinberger schon in Augenschein genommen: die Semperoper, den Zwinger, im Stallhof des Schlosses ist er gewesen, und an seiner Außenseite betrachtete er Ludwig Richters Fürstenzug. In der Hofkirche hat er dem übenden Organisten gelauscht. Gestern Abend wollte er an der Frauenkirche den Arbeitern zusehen. Er sah sie nicht, nur grelle Scheinwerfer, die den Handwerkern geleuchtet haben. Ihre Rufe konnte er hören, ihre Maschinen. Dann ist er auf Umwegen wieder zurückgeschlendert zur Brühlschen Terrasse.

Die Elbe strömt kraftvoll und ruhig nordwärts, immer mehr Lichter beginnen sich in ihr zu spiegeln. Es ist, als bekämen die Geräusche in diesem Licht einen anderen Klang. Ein Dampfer tuckert stromabwärts, voll von bunten Lampen und fröhlichen Menschen.

Vom anderen Ufer leuchtet Neustadt herüber –

Und jetzt erst fällt Jakob Steinberger der jüdische Friedhof da drüben an der Pulsnitzer Straße ein. Hin und wieder hat er in Israel an diesen Friedhof gedacht. An seine verschnörkelten hohen Grabmäler, manche über und über grün von Moos, und wie die Mutter ihm die Inschriften vorgelesen hat. Hier in Dresden ist ihm der Friedhof bislang nicht in den Sinn gekommen. Wenn es ihn noch gibt, dann wird auch er Wunden haben, sagt er sich, so wie wir, wie diese Stadt ihre unzähligen Wunden hat. Sie werden keinen Grabstein stehen gelassen, werden alles schon vor der Bombardierung im Februar fünfundvierzig beseitigt haben!

Soll er hingehen? Es wird sich ergeben oder nicht ergeben, denkt Jakob Steinberger.

Ja, nach Neustadt will er gehen, sofort!

Jakob Steinberger überquert die Augustusbrücke, wenig später den Neustädter Markt mit dem goldenen Reiterstandbild Augusts des Starken. Als er ein Kind war, schien ihm der große König bis in den Himmel zu reichen. Ja, in seinem Gold war er bestimmt direkt vom Himmel auf den Platz geritten. Für den Jungen stand er in mehrfacher Hinsicht für Größe. Beachtlich ist er immer noch, aber ...

Jakob Steinberger fühlt eine Art von Trauer, die sich bei allem Verlorengeglaubten einstellt.

In der Hauptstraße ist noch Betrieb. Ein gemischtes Volk sitzt auf den Bänken unter den Platanen, die sich die Straße hinaufziehen. Dadurch, dass sich die Straße zum Albertplatz verjüngt, täuscht sie eine Länge vor, die sie nicht hat. Wie endlos ist ihm diese Straße in seiner Kindheit vorgekommen.

Er betritt ein Restaurant, das in einem überdachten Hof untergebracht ist. Hoch über dem äußersten Rand der Dächer spiegelt sich Glas und vermittelt den Eindruck, dass man unter freiem Himmel sitzt. Ein Restaurant von dezenter Eleganz, wie er es bisher in Dresden noch nicht gesehen hat.

Als ihm das Essen gebracht wird, tritt ein junges Paar an seinen Tisch, vielleicht Anfang, Mitte Zwanzig.

„Entschuldigen Sie bitte“, vor Aufregung flüstert der Mann. „Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?“

„Für alte Menschen ist es immer sehr erfreulich, wenn die Jugend sich zu ihnen gesellt“, lacht Jakob Steinberger. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

„Wir wünschen Ihnen einen guten Appetit“, haucht die junge Frau, und sie bekommt einen roten Hals und rote Ohren.

Sie bestellen Wein, und als sich die beiden zuprosten, sehen sie sich mit einem Blick an, der Jakob Steinberger veranlasst, sich über seinen Teller zu beugen. Es dauert eine Weile, ehe sie trinken.

Sie haben die Köpfe gesenkt und schweigen. Endlich sagt der junge Mann, und er hält seinen Blick fest auf die Tischplatte geheftet: „Sie werden sich fragen, warum wir an Ihren Tisch kommen, obwohl so viele andere noch frei sind ...“

Jakob Steinberger hebt die Brauen. Ohne aufzusehen fährt der junge Mann verlegen fort:

„Wir ... nein, meine Braut hat es sich in den Kopf gesetzt, heute Abend mit einem fremden, einem sympathischen Menschen zu feiern ... mit dem ersten, dem wir begegnen ...“

„So?“ Jakob Steinberger legt das Besteck ab. „Und da hat das Los mich getroffen?“

Die junge Frau nickt. „Dieser Abend ist ... Wissen Sie ... Wir haben uns heute Abend verlobt“, sagt sie und wird noch röter, „und haben gesagt, den wir im Lokal antreffen, den bitten wir ...“ Sie ist so rot geworden, dass sie ihr Gesicht bedeckt.

 

Jakob Steinberger erhebt sich, reicht beiden die Hand. „Da gratuliere ich. Glück wünsche ich Ihnen, viel Glück der Braut, dem Bräutigam ... Glück und Wohlergehen auch Ihren Eltern, den Geschwistern!“

„Wir haben beide keine Eltern mehr. Keine Geschwister“, sagt die junge Braut leise.

„Oh, da habe ich etwas Verkehrtes ...“

„Nein, nein!“ ruft sie schnell. „Es ist, wie es ist!“

Jetzt ist auch der alte Mann so verlegen wie die jungen Leute. Erinnerungen steigen auf, lange verschüttet. In seinem Hals wächst etwas, schnürt und presst, dass seine Augen flackern.

Später lässt er für sich eine Flasche Roten kommen und lädt die beiden zum Trinken ein, zum Mitfeiern, wie er sagt. Denn es gäbe für alle einen Grund zum Feiern:

„Ja, da betreten Sie beide, nein, wir alle drei, in gewisser Weise Neuland“, lacht er und hebt sein Glas. „Obwohl, so ganz stimmt das für mich nicht. Denn ich bin wohl mehr auf der Suche nach Vertrautem, nach Verlorenem ...“

Die beiden lächeln glücklich zurück, sie fragen aber nicht, was er mit dem Vertrauten und Verlorenen meint. Der junge Mann hat seine Hand auf den Arm seiner Braut gelegt, und hin und wieder blicken sie sich tief und lange an.

Einmal rutscht der Hemdsärmel bei dem jungen Mann hoch, und Jakob Steinberger sieht über der Handwurzel eine Tätowierung.

Jetzt kommen seine Augen nicht mehr von dem bläulichen Gebilde los. Er versucht nicht hinzusehen, es gelingt nicht. Schließlich fragt er: „Sie tragen eine Tätowierung?“

Der junge Mann schiebt den Ärmel hoch. „Ja, eine Spinne.“

„Eine Spinne? Wissen Sie, dass Spinnen sogar ihre Artgenossen töten“, fragt Jakob Steinberger. „Und es kann vorkommen, dass sie sie auffressen.“

Die beiden finden das komisch. Sie lachen wie über eine ulkige Geschichte. „Von uns beiden ist keiner so!“ Der junge Mann schüttelt, immer noch lachend, den Kopf. „Ich nicht und sie auch nicht ...“ Er legt seinen Arm um den Hals seiner Braut.

„Tätowierungen“, jetzt entblößt Jakob Steinberger seinen Arm, „Tätowierungen sind Narben“, sagt er ernst, „es sind tiefe, bleibende Wunden. Nicht nur im Fleisch. Sehen sie einmal ...“

Die junge Braut beugt sich zu ihm hin. „Eine Schlange?“, fragt sie. Der alte Mann schüttelt den Kopf.

„Eine Nummer? Du, guck mal, eine Nummer!“ flüstert sie zu ihrem Bräutigam hin.

„Jude?“, fragt der. „Sie sind Jude?“

Der alte Mann nickt. „Das hier ist lange her, sehr lange“, sagt er. „Das war in der Zeit, als wir keine Namen mehr hatten. Wir waren eine Nummer. Neunundzwanzigtausend-vierhundert-dreiundachtzig. Das war ich. Den Jakob Steinberger wollten sie damit auslöschen! Töten! Den gab es nicht mehr. Das hier“, er streicht mit dem Finger über die bläuliche Nummer, „das hat die Seele verwundet. Und solche Wunden heilen nicht. Niemals.“ Und, als vertraue er ihnen ein Geheimnis an, flüstert er: „Es ist noch schlimmer: das vererbt sich.“

Das Lebhafte, das Versonnene und auch ihr Glücklichsein sind verschwunden, als wäre es von den Brautleuten abgefallen. Der junge Mann sieht abwechselnd auf seine Spinne, dann auf die Nummer des alten Mannes.

„Ich sehe, ich habe Sie entsetzt. Das war nicht meine Absicht“, sagt der alte Mann und hebt sein Glas gegen sie. Und er versucht zu lächeln, als er sagt: „So tragen wir beide etwas Modisches. Sie und ich.“

Und langsam, als müsste er bei jedem Wort überlegen, spricht er über sein Leben, erzählt von damals, als man dem achtzehnjährigen Jakob Steinberger seinen Namen auslöschen wollte. Er erzählt von der Zeit in Buchenwald, im Arbeitslager, auch von seinem Leben in Israel.

Jakob Steinberger erzählt leise und mit größeren Pausen. Die jungen Leute sitzen vorgebeugt, lauschen und vergessen zu trinken und haben wohl auch einander vergessen. Noch während der alte Mann spricht, hat die junge Frau ein Zittern überfallen. Zusammengekauert sitzt sie, die Hände unter die Achseln gepresst, als fröre sie.

„Warum sind Sie hergekommen?“, fragt sie endlich. „Warum quälen Sie sich?“

„Quälen? Junge Frau ... Ich sage es einmal so: es ist, als würde ich eine alte Wunde aufstechen und den Eiter herausdrücken. Oder: man entschließt sich, einen peinigenden Körperteil zu amputieren.“

Der junge Mann hat seinen Kopf aufgestützt, die Tätowierung hält er verdeckt. Er blickt an dem alten Mann vorbei ins Leere, als dächte er nach. Die junge Frau öffnet den Mund, will etwas fragen, aber sie fragt nicht.

Jakob Steinberger hält die Augen geschlossen. Es ist das erste Mal, dass er fremden Menschen in diesem Land seine Geschichte erzählt hat, Menschen, die nach denen gekommen sind, die ihn gequält, die getötet haben. Ihm ist, als hätte er sich vor den beiden jungen Menschen, die so glücklich an seinen Tisch gekommen sind, entblößt.

„Verzeihen Sie mir.“ Seine Stimme klingt müde, gebrochen. „Ihr fröhlicher Tag hat durch mein Erzählen keinen fröhlichen Ausklang. Es tut mir leid. Es ist doch Ihr Verlobungstag. Vielleicht bereuen Sie, dass Sie an diesem Tag zu mir an den Tisch gekommen sind.“

Die jungen Leute schweigen, dann schüttelt einer nach dem anderen den Kopf, aber keiner wagt es, den alten Mann anzublicken, keiner weiß etwas zu sagen.

So zahlt er denn. Und als er gehen will, bitten die beiden, ihn ein Stück begleiten zu dürfen. Auf dem Weg bleiben sie stumm. Den alten Mann haben sie in ihre Mitte genommen. Am Neustädter Markt müssen sie sich trennen.

„Werden Sie glücklich“, sagt Jakob Steinberger, ihnen beide Hände hinstreckend. „Ich wünsche es Ihnen. Und ein langes Leben! Das auch!“

„Danke.“ Der junge Mann drückt ihm vorsichtig die Hand, als könnte er etwas an dem Alten zerbrechen. „Danke für alles. Und: Leben Sie besser, wenn Sie nach Israel zurückkommen.“

Abwartend, befangen steht das Mädchen daneben. Da nimmt sie Jakob Steinberger unversehens in die Arme und küsst ihn und läuft fort.

Der junge Mann verneigt sich kurz wie zur Bekräftigung, dann folgt er gemächlich seiner Braut.

Jakob Steinberger sieht den beiden nach, und bald schon kann er sie nicht mehr erkennen. Nur die Schuhe der jungen Frau hört er noch einen Moment auf dem Pflaster. Dann sind sie irgendwo in der Dunkelheit, hinter dem Reiterstandbild des starken August, verschwunden.

Frauengespräch
Im Münsterland

Hier auf der Höhe wird das Land weit. Beiderseits der Straße Felder, dazwischen dunkle Büsche. Und rechts auf dem Hügel, unerschütterlich und dominant, die Benediktinerabtei. Wie eine abweisende Burg, denkt die Frau. Uneinnehmbar, als hätte Gott sich darin verschanzt. Das werde ich mir ansehen!

Sie ist nicht mehr jung. Nicht einmal ihr ungefähres Alter ist zu erraten. Das Haar trägt sie offen, es fällt ihr auf die Schulter, ein merkwürdiges Gemisch aus blond und grau.

Sie fährt ein Wohnmobil. Gemächlich steuert sie die Abtei an. Jetzt muss sie abbiegen.

Nach ein paar Metern zwingt eine Schafherde sie anzuhalten. Als graue, sich drängende Lawine überquert die Herde die Straße. An beiden Seiten patrouillieren Hunde, wachsam und flink, wissend, worauf es ankommt. Ganz am Ende stapft ein Mensch, versteckt unter einem breitkrempigen Hut, im knielangen Lodencape, mit Umhängetasche und Stab.

Das wird dauern, denkt die ältliche Fahrerin. Sie kennt solche Herden. Sie kennt Schaf- und Ziegenherden, größer als diese. Auch Scharen von Eseln und Kamelen hat sie gesehen, und einmal querte sogar eine Schweineherde vor ihr die Straße. Das war im Hessischen.

Als der nachstapfende Mensch die Straße überquert hat, zieht er als Dank vor der Autofahrerin seinen Hut und gibt sich als Frau zu erkennen. Die Fahrerin kurbelt die Scheibe ganz herunter. „Das ist ja eine Überraschung! Ich habe sie für einen Mann gehalten!“

Lachend schüttelt die Hirtin ihr blondes Haar, dass es nur so um ihr Gesicht fliegt.

„Für mich ist es Zeit, einen Tee zu trinken“, ruft die Fahrerin. „Darf ich Sie dazu einladen?“

Die Hirtin klemmt ihren Hut vor der Brust auf das Cape. „Gerne.“

„Ich muss aber die Straße frei machen“, ruft die Autofahrerin. „Ich parke hier drüben am Feldweg.“

„Gut! Ich komme.“

Die Fahrerin ist eine alte Frau, schlank, fast mager. Unter dem wehenden, langen Kleid sind ihre Knochen zu erkennen. Im Nu hat sie einen Campingtisch und zwei Klappstühle vor das Auto gestellt. Sie rupft Kamille und Wegwarte und stellt sie in einem Wasserglas auf das Tischchen. Erklärend ruft sie der Jüngeren entgegen: „Ein bisschen gemütlich soll’s schon sein. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ich in Gesellschaft meinen Tee trinke.“

Die Jüngere wirft ihr Cape ins Gras. In Hosen und dem karierten Männerhemd sieht sie wie jemand aus, der Landmaschinen vorführen soll. Sie ist schlank und wirkt viel größer als unter dem Umhang. Plötzlich bleibt sie stehen, ruft: „Darf ich überhaupt näher kommen?“

„Ach so! Kommen sie nur. Bei Ihnen ist der harmlos!“ lacht die alte Frau.

In der Tür des Wohnwagens ist ein riesenhafter zottiger Hund aufgetaucht. Hechelnd, mit dem ganzen Körper bebend, beobachtet der die fremde Frau.

„Mein Reisekumpan. Ein Irischer Wolfshund! Kommen Sie nur. Er kennt das, dass ich hin und wieder jemanden zu mir einlade. Außerdem spürt er sogleich, wer willkommen ist und wer nicht. Bitte!“ Die alte Frau deutet auf einen Klappstuhl, die Jüngere setzt sich. Den Riesenhund behält sie vorsichtshalber im Auge.

„Vor normalen Hunden habe ich keine Scheu“, sagt sie. „Aber dieser ist doch gar zu groß. Furcht einflößend!“

„Das ist der Ergo, der Strolch. Würde er Gefahr wittern, dann hätte er sie gar nicht bis ans Auto gelassen. Der Tee ist gleich fertig.“ Sie verschwindet im Innern des Wohnwagens.

„Können Sie die Herde sich selbst überlassen?“, ruft sie nach draußen.

„Ich habe sie im Blick!“, ruft die Junge zurück. „Und außerdem sind die Hunde da. Auf die ist Verlass.“

Die alte Frau stellt Geschirr auf das Tischchen, dann holt sie den Tee und einen Teller mit Keksen.

„Sie haben einen interessanten Beruf“, sagt sie. „Schäfer – das ist doch ein Beruf?“

„Ja.“ – Dann: „Tierzüchter, so nennen wir uns heute.“

„Tierzüchter! Mit Ausbildung und allem, was so dazu gehört?“

„Ja.“

„Sie machen mich neugierig“, sagt die alte Frau und gießt Tee ein. „Eine junge Frau wie Sie ... Mit diesem Aussehen ... In dieser Einöde ... Und immer allein unterwegs, nur mit ein paar Hunden und einer Herde Schafe!“

„Vielen geht es wie Ihnen – sie halten mich für einen Mann.“ Vorsichtig, als könnte sie sie zerbrechen, hebt sie die Tasse an den Mund. „Allein, sagen Sie ... Meine Hunde, das glaube ich, verstehen, was ich ihnen sage. Nicht nur meine Kommandos, wenn es um die Schafe geht. Die fühlen sich auch für mich verantwortlich.“

„Und Ihre Eltern?“, fragt die alte Frau. „Waren die mit dieser Berufswahl einverstanden? Oder gehört denen die Herde?“

Die Junge lacht und lehnt sich zurück. „Tiere? Bei uns gab es außer einem Kanarienvogel und ein paar Fischen keine Tiere. Allerdings: mein Vater hat auch Schafe zu weiden – seine Gemeinde. Er ist Pastor. Also auch ein Hirte ...“ Sie lacht darüber.

Ergo kommt zu ihr, beschnuppert ihren Arm, ihren Nacken, dann lässt er sich neben der alten Frau ins Gras fallen.

Die Jüngere beginnt zu erzählen: „Meine Eltern hätten es gerne gesehen, wenn ich den Fußstapfen meines Vaters gefolgt wäre. – Aber nein!“ Sie erhebt sich, um einen Blick auf ihre Tiere zu werfen. „Ich wollte frei, ohne Zwänge leben. Auch ohne Menschen leben und ohne die feste Ordnung, die zu einem bürgerlichen Alltag gehört. Und erst recht nicht in den Zwängen einer Gemeinde. Die macht krank, glauben Sie mir.“ Sie nickt wissend. „Nach dem Abitur habe ich mich nach einer solchen Möglichkeit umgesehen, und ich habe sie gefunden. Ja, ich wollte weiden – aber keine Menschen, sondern Schafe. Alle hielten mich für verrückt, als ich mit meinem Plan herausrückte. Und sie waren überzeugt, dass ich nach wenigen Monaten die Flinte ins Korn werfen würde. Und jetzt“, sie streichelt im Schoß ihre sonnenverbrannten Hände, „jetzt ziehe ich mit meiner Herde schon über drei Jahre durch die wunderbare Natur. Hier lebe ich ... hier bin ich zufrieden, ja, glücklich. Ich habe die richtige Wahl getroffen.“

„Und später einmal?“, fragt die alte Frau. „Vielleicht heiraten ... Und, sehen Sie mich an: man wird älter!“

Die Jüngere lacht. „Alles findet sich, wenn es so weit ist. Und dann, das glaube ich, dann werde ich auch wieder die richtige Entscheidung treffen.“

 

Die alte Frau sieht sie fest an, als suche sie etwas in ihrem Gesicht, als müsste sie ein Geheimnis herausfinden. Ihr Zeigefinger umkreist den Tassenrand. Nach längerer Pause sagt sie: „Sie gefallen mir. Ich finde, Sie und ich, wir sind aus sehr ähnlichem Holz geschnitzt.“

Die Jüngere lächelt dünn. „Aus demselben Holz?“ fragt sie. Wie soll sie das verstehen. Sie möchte fragen, weiß aber nicht so recht, was. Schließlich erklärt die alte Frau:

„In meinem Leben gibt es Parallelen zu Ihrem Leben. Ich erkläre es Ihnen: um zu begreifen, wie ich zu leben habe – dazu habe ich beinahe siebzig Jahre gebraucht. Denn es ist so: wie ein Leben eingerichtet werden soll – das bestimmen andere. Die Eltern, Geschwister, die Großeltern, die Lehrer, die Gesellschaft und viele mehr. Kurz: die Gemeinschaft, in die wir hineingeboren werden, die macht aus einem jungen Menschen, was er zu werden und zu sein hat. Es hat so zu sein, weil es immer so war. Darum ist es auch für dich richtig. Basta! – Mögen Sie noch Tee?“

Die Jüngere hält ihre Tasse über den Tisch.

„Und wir spielen mit, weil wir nicht ausbrechen können. Nein, weil wir zu feige sind. Früh schon werden wir auf eine berufliche, auch auf eine gesellschaftliche Richtung und Rolle festgelegt. ‚Du hast eine gute Art, mit Kindern umzugehen. Bestimmt wirst du einmal Erzieherin. Oder Lehrerin. Vielleicht sogar Kinderärztin. Und wenn du einmal eigene Kinder hast ... Nein, was wirst du für eine Mutter sein!’

Fällt die Entscheidung anders aus, dann stürzt der Himmel ein. Damals jedenfalls, als meine Generation vor solchen Entscheidungen stand. Man lässt sich darauf ein. Warum auch nicht? Die Alten haben Erfahrung. Haben Weitblick. Sie kennen dich durch und durch. Wird schon richtig sein, was die sagen. Kann man denn Bewährtes einfach beiseite schieben? Soll man es?

Ich habe gehorcht. Wie viele. Wie die meisten. Ich habe studiert und bis zu meiner Pensionierung unterrichtet. Deutsch, Latein und Geschichte ...“

Sie lehnt sich zurück, verschränkt ihre Arme hinter dem Kopf und blickt in den Himmel.

„Geheiratet habe ich auch, bin dreimal Mutter geworden. Die Verantwortlichen für mein Leben hätten zufrieden sein können, wenn sie es bis zu meiner Verabschiedung aus dem Beruf miterlebt hätten.“

Die Jüngere reckt sich hin und wieder in die Höhe. Jetzt geht sie einige Schritte auf die Herde zu, pfeift den Hunden, wartet kurz und kehrt dann an ihren Platz zurück.

„Tja, aber was dann gekommen ist!“ Die alte Frau lacht und schlägt mit der Hand auf das Tischchen, dass die Tassen klirren.

„Mein Mann ist schon seit Jahren tot. Die Kinder erwachsen, haben sich über die Welt verstreut ... Denen allen habe ich ein Schnippchen geschlagen: den Kindern, den Freunden, den wenigen Kollegen, mit denen ich in Kontakt geblieben bin. Gute zwei Jahre habe ich als Pensionärin gelebt, dann fühlte ich mich plötzlich wie im lauen, ermüdenden und faden Badewasser. Um es kurz zu machen: ich habe mir dieses Wohnmobil und den Ergo angeschafft, habe mein Haus samt Einrichtung verkauft, habe sogar verschenkt, was mir ans Herz gewachsen war. – Das gab einen Skandal! Aber: Augen zu und durch! Das verständnislose Gerede meiner Kinder habe ich über mich ergehen lassen, habe geregelt, was geregelt werden muss und bin in die Welt hinausgezogen. Frei und ohne Bindung an Menschen oder irgendwelche Dinge.“ Sie schließt die Augen, schweigt. Dann: „Über den Balkan bin ich gefahren, in die Türkei ... Was gab es da nicht alles zu erleben! – Zuletzt war ich bei den Kasachen. Bis nach Alma Ata bin ich gefahren. Denken Sie nur. Steppen und Wüsten, unvorstellbare Flüsse, groß wie Seen. Großer Gott! Manchmal ist mir, als träume ich das alles. Und das mit zweiundsiebzig Jahren! Stellen Sie sich das vor! Ein altes Weib lässt sich auf solche abenteuerliche Verrücktheiten ein.“

Die Jüngere beugt sich vor, legt ihre Hand auf den Arm der alten Frau. „Ja, aber sie hocken nicht mehr in lauem Badewasser. Sie schwimmen jetzt ... Sie schwimmen in einem klaren, in einem frischen, einem reißenden Fluss.“

„Ja, ja, genau so ist es. Wie Recht Sie haben!“ Dann mit leuchtenden Augen: „Sehen Sie, dass wir einander ähnlich sind? Sie gehen Ihren Weg direkt, Sie haben ihn sehr früh in Ihrem Leben gefunden. Ich habe Umwege machen müssen. Aber wir haben es gewagt! Man muss nur in sich hineinhorchen, sich selbst erkunden und ein wenig Mut aufbringen.“

Sie beugt sich über ihren riesenhaften Hund. „Und dass es da draußen bis heute gut gegangen ist – das liegt auch an dir, Ergo.“

Der Hund wedelt mit dem Schwanz, richtet sich halb auf, schnauft und lässt seinen Körper klatschend ins Gras zurückfallen.

„Nachher gehen wir zum Kloster. Mal sehen, Ergo, was es da zu entdecken gibt.“

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