Tödliches Nickerchen am Mondsee

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Der Hauskauf

Es war kühl an diesem Morgen und sehr windig. Der See war aufgewühlt, als Waagner und Wullner ihre morgendliche Joggingrunde um den Mondsee machten. Sie sahen die Haubentaucher verschwinden und erst geraume Zeit später an einer weit entfernten Stelle wieder auftauchen. Soweit Waagner nicht gerade Seitenstechen wegen des für einen Anfänger wie ihn ständig zu hohen Tempos hatte, machte er Wullner mit neuen Ideen für seinen Krimi vertraut. Von Zeit zu Zeit machten sie am Seeufer eine Pause, um die Landschaft auf sich wirken und Waagner wieder zu Luft kommen zu lassen. Dies nutzte Waagner, dem an der sportlichen Ertüchtigung weit weniger lag als an der Möglichkeit, einen Zuhörer für seine Geschichte an der Hand zu haben, immer wieder dazu, Wullner mit Episoden aus dem langsam Gestalt annehmenden Krimi zu verwöhnen. Da die einzelnen Geschichten meist aus dem Zusammenhang gerissen waren, war es Wullner freilich kaum möglich, dem Geschehen wirklich zu folgen. Und auch wenn er gelegentlich Einwände gegen einzelne Handlungsstränge oder Einfälle seines Freundes hatte, Wullner war in die Rolle des passiven Zuhörers gedrängt, seine Fragen und Vorschläge verhallten im Wind, Waagner ließ sich in seinen Monologen nicht stören. Er würde auch berechtigte Kritik nicht beachtet haben, er würde sich über jeden konstruktiven Einwand hinweggesetzt haben, er erzählte, lief, bekam Seitenstechen, lief trotzdem weiter, erzählte, machte endlich eine Pause mit dem Laufen, nicht jedoch mit dem Erzählen und erzählte und erzählte.

Begonnen hatte alles, als wir bei Maiers eingeladen waren. Es war Carmens 35. Geburtstag, den sie in ihrem neuen Haus feierten. Meine Frau und ich waren sehr angetan von Maiers neuer Villa. Auch wenn sie nicht zur Gänze renoviert war – es fehlte noch der neue Außenputz –, war sie ein wahres Jugendstiljuwel, das uns als Liebhaber alter Häuser, Möbel und Musik sehr gut gefiel. Ich hätte es ja bei dieser neidlosen Anerkennung eines vortrefflich gelungenen Eigenheims bewenden lassen wollen. Meine Frau aber meinte, dass es sehr wünschenswert wäre, wenn wir ebenfalls ein Haus mit Garten hätten. Wir lebten nun schon seit bald zehn Jahren in einer gemütlichen Altbauwohnung in einem Innenstadthaus. Dass dieses Haus mir gehörte, galt in diesem Zusammenhang nichts, denn es ging meiner Frau in erster Linie um den Garten. Und unser Haus hatte lediglich einen sehr winzigen, von der Sonne selten beschienenen Innenhof, der außer für eine Biotonne zu nicht viel mehr taugte. Außerdem war er natürlich von allen Bewohnern der umliegenden Häuser einsehbar, was mir eine nähere Beschäftigung mit diesem Hof nicht sehr opportun erschienen ließ. Für meine Frau war die mangelnde Größe das Entscheidungskriterium, denn wo hätte man in diesem Hof einen Swimmingpool aufstellen sollen? Kurzum, wenige Tage später hatte sie bereits ein Haus in Erfahrung gebracht, das ob seines desolaten Bauzustandes geradezu nach einem neuen Eigentümer schrie. Es war nicht weit von Maiers Villa entfernt und schien geeignet, dass wir nach entsprechenden Renovierungsarbeiten zumindest knapp unter Maiers Augenhöhe sein konnten. Über Bekannte hatte meine Frau erfahren, dass dieses Haus dem Rechtsanwalt Oberfettinger gehörte, den sie bereits aus Studientagen kannte.

Der stets in einen feschen Steireranzug gewandete Rechtsanwalt – Zeichen seiner stolzen Herkunft oder seiner mangelnden Loyalität der neuen Heimat gegenüber? – machte uns bei der ersten Besichtigung mit seinem Wunschpreis und seiner Eigenart, beständig für Überraschungen zu sorgen, bekannt. Was den Kaufpreis betraf, eröffnete uns Oberfettinger, dass er selbst verwundert darüber war, dass die Leute so viel für dieses Haus zu zahlen bereit seien, eine Aussage, die er in den nächsten Monaten noch des Öfteren wiederholen sollte, insbesondere, als sich herausstellte, dass die Kaufinteressenten sogar willens waren, mehr zu zahlen, als er anfangs verlangt hatte. Für uns war bei dieser ersten – letztlich nur halben – Besichtigung etwas irritierend, dass er keinen Schlüssel für das Haus hatte und wir uns deshalb mit einer Betrachtung der Außenmauern und des davon abbröckelnden Verputzes begnügen mussten. Erst in einem zweiten Anlauf rund einen Monat später ließ uns Oberfettinger in das Innere der Ruine Einsicht nehmen. Bei diesen ersten beiden Kontakten mit Oberfettinger war mir nicht nur sein Steireranzug widerwärtig, sondern auch seine sehr herablassende Haltung. Die zweite Besichtigung ließ meine Frau und mich zwar nicht unbedingt in grenzenlose Schwärmerei für die kleine Villa oder, wie sie ein Baumeister später nennen sollte, für diese „Vorstadtkeuschen“ ausbrechen, sie führte allerdings zu der uns geradezu beglückenden Erkenntnis, dass die Raumaufteilung für unsere beabsichtigte Nutzung nicht völlig ungeeignet zu sein schien.

Wäre da nicht der aus unserer Perspektive sehr hohe Kaufpreis gewesen, hätten wir Oberfettinger wohl noch an Ort und Stelle ein Kaufanbot unterbreitet. So zog sich der Entscheidungsprozess, ob wir das Haus tatsächlich kaufen sollten, noch über einige Wochen, während der wir sogar eine Architektin mit der Kostenschätzung für die notwendige Renovierung beauftragten. Der Schock war groß, als sie Renovierungskosten in Höhe des Kaufpreises ermittelte. Da uns zum damals in Rede stehenden Kaufpreis noch rund ein Viertel fehlte, hieß dies, dass uns für das bezugsfertige Haus Barmittel von rund 5/8 fehlten. Dies hinderte uns aber nicht, frohgemut in die Kanzlei des Oberfettinger zu pilgern und ihn nach der Möglichkeit eines Kaufpreisnachlasses zu fragen. Dieser, nicht weniger gut gelaunt und wieder in seinen Steireranzug gewandet, erwiderte nur lapidar, dass der Kaufpreis nicht verhandelbar sei, da er auch andere Interessenten habe, die den Preis ohne Wenn und Aber zu zahlen bereit seien. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, waren die Gedanken, die in den nächsten vierundzwanzig Stunden mein Hirn durchkreuzten, nachträglich nicht schlüssig nachvollziehbar. Denn hatten meine Frau und ich beim Verlassen von Oberfettingers Kanzlei noch beschlossen gehabt, dass dieses Haus einerseits unerschwinglich und andererseits es nicht wert sei, sich seinetwegen in finanzielle Abenteuer zu stürzen, teilte ich schon am nächsten Tag meiner Frau mit, dass ich das Haus um den verlangten Preis kaufen wolle und sie dies ihrem Bekannten aus Studententagen mitteilen möge.

War die Entscheidung zum Hauskauf letzten Endes eine auch mich überraschende blitzschnelle Bauchentscheidung gewesen – die Ausläufer der Finanzkrise und der Gedanke an Lehman Brothers dürften dabei eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben –, war der sich daran anschließende Kaufprozess von nicht zu überbietender Langsamkeit geprägt. Statt mit Oberfettinger die Details des Kaufvertrages zu verhandeln, musste sich meine Frau von ihm sagen lassen, dass er die anderen Interessenten kontaktieren wolle und sich danach bei uns melden würde. Was wir damals noch nicht wussten, war, dass sich von nun an die Kaufpreisspirale nach oben zu drehen begann. Zunächst ließ uns Oberfettinger einige Tage zappeln, um uns schließlich mitzuteilen, dass ein Kaufinteressent naturgemäß bereit war, für das schmucke Häuschen zehntausend Euro mehr zu zahlen. Dies löste bei mir den durch jahrelanges Verkaufen von Autos geschulten Reflex aus, meine Kaufentscheidung wieder rückgängig zu machen. Meine in dieser Richtung nicht verbildete Frau hingegen war bereit, diesen Mehrpreis aus eigenen Ersparnissen, die bisher bei der Kaufpreisaufbringung noch nicht berücksichtigt worden waren, beizusteuern. Das Spiel konnte daher auf das Lebhafteste weitergespielt werden. Oberfettinger meinte abermals, er müsse mit dem zweiten Interessenten telefonieren und würde sich danach wieder bei uns melden. Tage und Wochen vergingen, aber wie zu erwarten war, kontaktierte Oberfettinger uns nicht.

Wullner hatte zuvor schon mehrmals vergeblich versucht, Waagner in seinem Redefluss zu unterbrechen, was jedoch immer daran scheiterte, dass Waagner unentwegt erzählte. Dies rächte sich nun, Waagner war rot angelaufen und – diesmal ohne zu laufen – massiv in den anaeroben Bereich geraten und begann nach Luft zu schnappen. Diese Chance ließ sich Wullner nicht entgehen.

„Was hat das eigentlich alles mit einem Krimi zu tun? Wird diese Hauskaufgeschichte die Leser nicht unendlich langweilen? Also, wenn du mich fragst, ich glaube, da wird nie etwas Vernünftiges daraus.“

Waagner schaute seinen Freund entgeistert an, erbat sich noch eine kleine Selbst-Reanimationsphase, um ihm dann zu erklären, was es mit dem Hauskauf auf sich hatte. Gerade diese nicht gänzlich alltäglichen Ereignisse rund um den Hauskauf würden in letzter Konsequenz seinen Protagonisten vielleicht die Nerven wegwerfen lassen und zu einer nicht wiedergutzumachenden Tat anstiften. Wullner bemerkte nur lakonisch, dass eine kleine Preistreiberei auf Verkäuferseite wohl kaum als besonders außergewöhnliches Ereignis gewertet werden konnte, sah sich aber schon kurz darauf – die anaerobe Phase war wieder vorbei – mit der Fortsetzung der Erzählung konfrontiert.

Die Preistreiberei des Verkäufers hatte meine Liebe zu dem Objekt rasch erkalten lassen, nicht so meine Frau, das heißt, meine Liebe zu ihr war noch nicht erkaltet, sie selbst war auch noch nicht erkaltet, aber irgendein Virus hatte von ihr Besitz ergriffen. Diesem Virus wurde nicht nur durch ihre große Sehnsucht, ein Grundstück für einen Swimmingpool ihr eigen nennen und mit Maiers wieder auf Augenhöhe verkehren zu können, sondern auch dadurch zum Ausbruch verholfen, dass wir das bisher noch nicht offiziell auf dem Markt befindliche Haus plötzlich von einem Immobilienmakler in einer Tageszeitung beworben sahen. Der Preis lag nun bereits 100.000 Euro höher. Da sich der Zugang zu Oberfettinger als extrem schwierig herausstellte – er war stets bei einer Verhandlung oder einer Klientenbesprechung und ließ dem Versprechen, er werde zurückrufen, nie die Tat folgen –, machte sich meine Frau an eine gewisse Frau Xenavier heran, die laut Grundbuch ein Vorkaufsrecht besaß. Vielleicht ließe sich über diese Dame ein Weg zum Wunschhaus meiner Frau finden, für das nun offenbar immer mehr Interessenten auf den Plan traten. Wen konnte es verwundern? Das Inserat des Immobilienmaklers war immerhin in den Oberösterreichischen Nachrichten, in der Kronen Zeitung und sogar im Volksblatt geschaltet worden. Während sich jedoch der Umweg über die Vorkaufsberechtigte als wenig erfolgreich erwies, hatte ich, der ich zunehmend von der Besessenheit meiner Frau angesteckt zu werden schien, mich mit einem anderen Rechtsanwalt namens Dr. Finda in Verbindung gesetzt.

 

Dieser war Sachwalter des ursprünglichen Hauseigentümers, eines gewissen Bubat, von dem Oberfettinger das Haus zwei Jahre zuvor gekauft hatte. Wie sich indessen herausstellte, hatte Oberfettinger das Haus dem Bubat allerdings nur vermeintlich abgekauft. Bubat war im Zeitpunkt des Kaufvertragsabschlusses nämlich bereits entmündigt gewesen, was aufgrund eines Fehlers beim Grundbuchsgericht aber nicht rechtzeitig im Grundbuch angemerkt worden war. So wusste Oberfettinger beim Kauf des Hauses nicht, dass er für die Gültigkeit seines Kaufvertrages noch die Zustimmung des Pflegschaftsgerichtes benötigte. Und diese Genehmigung hatte er bisher nicht erhalten. Jetzt schien die Sache kompliziert zu werden. Ich erfuhr von Dr. Finda nicht nur, dass Oberfettinger die Republik Österreich wegen der verspäteten Grundbuchsanmerkung auf Schadenersatz klagte, sondern überdies, dass Finda nicht der erste, sondern bereits der zweite Sachwalter des Bubat war. Und der erste Sachwalter hatte zu allem Überdruss das Haus auch schon einmal verkauft. Dieser Käufer, ein Installationsunternehmer aus dem Innviertel namens Rundler, hatte für seinen Kaufvertrag bisher aber ebenfalls keine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung erhalten, weshalb er den ersten Sachwalter, einen Rechtsanwalt namens Dr. Luft, auf Erfüllung des Kaufvertrages klagte. Jeder normale Mensch hätte spätestens jetzt die Finger vom „Villa‘chen Gerti“, wie ich sie bereits nach meiner Frau benannt hatte, gelassen. Nicht aber ich und meine Frau, die wir vom Hauskaufvirus inzwischen schon massiv gezeichnet waren. War es die Herausforderung? Die Langeweile? Oder gar die mich jeden Tag von Neuem niederschmetternde Erkenntnis, dass ich meinen Beruf abscheulich und abstoßend fand? Lassen wir dies unbeantwortet. Gesichert mag sein, dass ich ein Haus zu erwerben beabsichtigte, das in einem erbärmlichen Zustand war, für unsere Verhältnisse extrem teuer und ohne freundliche Unterstützung der oberösterreichischen Kreditwirtschaft unerschwinglich schien und außerdem einen besachwalteten Eigentümer, einen sich als Eigentümer aufspielenden Rechtsanwalt und einen den ersten Sachwalter klagenden dritten potentiellen Eigentümer hatte, der mir später bei einem Treffen nahelegen sollte, das Haus am besten abzureißen.

Die Einzelheiten der nächsten Wochen und Monate würden auch den geduldigsten Leser irgendwann ins Reich der Träume versetzt haben, so will ich mich nur mehr auf zwei kleine Höhepunkte beschränken. Zum einen setzte mir Dr. Finda auseinander, dass er angesichts der etwas verworrenen Umstände als einzigen Lösungsweg eine Versteigerung „à la Finda“ sehe. Er wollte alle Interessenten, einschließlich der beiden vermeintlichen Eigentümer Oberfettinger und Rundler, auffordern, ein neues Kaufanbot zu legen. Diese Anbote würde er an einem Stichtag in Anwesenheit der Interessenten öffnen und da er, wie er sich ausdrückte, ein lustiges Kerlchen sei, würde er alle Angebote auf seinem großen Kanzleitisch ausbreiten und nach dem höchsten Ausschau halten. Zu dieser Auktion kam es schließlich in etwas abgeänderter Form tatsächlich und wenige Tage danach zu dem für mich sehr überraschenden Anruf, dass ich das höchste Anbot gelegt hatte. Die Freude war bei meiner Frau naturgemäß sehr groß, was niemanden verwunderte, schließlich blieb es mir überlassen, den inzwischen gegenüber dem ursprünglich von Oberfettinger genannten Kaufpreis um rund 60.000 Euro angestiegenen Betrag aufzutreiben. Da die Auktion entgegen der ursprünglichen Ankündigung jedoch nicht öffentlich und für einen Anwalt vom Kaliber eines Dr. Finda auch nicht überraschend ohne Beiziehung eines Notars stattfand, war ich mir nicht wirklich sicher, ob ich deshalb Sieger im Bieterwettkampf geblieben war, weil ich ein glückliches Händchen bei der Auswahl des gebotenen Kaufpreises hatte, oder ob ich letzten Endes ohnehin der einzige Bieter gewesen war. In der Anfangseuphorie war dies aber Nebensache, der Kaufvertrag wurde unterschrieben, ein Monat später war mein Kaufvertrag vom Pflegschaftsgericht genehmigt und weitere vier Monate später lag auch die Zustimmungserklärung der Vorkaufsberechtigten, Frau Xenavier, vor. Rund vierzehn Monate nach der ersten Besichtigung mit Oberfettinger bekam ich unversehens die Schlüssel für unser neues Heim von Dr. Oberfettinger in der Kanzlei des Dr. Finda in die Hand gedrückt. Dabei wurde mir noch als Einstandsgeschenk mitgeteilt, dass es über den Winter einen kleinen Wasserrohrbruch gegeben hatte, der inzwischen jedoch wieder behoben worden sei. Die erste Besichtigung des „Villa‘chen Gerti“ als Eigentümer war allerdings sehr ernüchternd. Denn der kleine Wasserrohrbruch stellte sich als mehr oder weniger vollständige Überflutung des gesamten Hauses dar, da an fünf Stellen im Haus entweder Wasserleitungen oder Heizungsrohre gebrochen und Tausende Liter Wasser über Stiegen und Decken vom ersten Stock ins Parterre und von dort in den Keller geflossen waren.

Waagner und Wullner waren inzwischen von ihrer Joggingrunde zurückgekehrt. Wullner war von Waagners Redeschwall mehr ermüdet als von dem durch unzählige Pausen unterbrochenen Morgenlauf. Waagner hingegen war froh, ein weiteres Kapitel seines Krimis in all seinen Details vor seinem Freund ausgewälzt zu haben. Wieder machte er seine Selbst-Reanimationsversuche, indem er die Arme weit über seinen Kopf zog und an seinen Seiten in jähem Tempo herabfallen ließ, gleichzeitig tief Luft holte und sie mit Thomas-Muster-artigen Lauten wieder ausstieß. Dies wiederholte er innerhalb kürzester Zeit mehr als dreißig Mal und so heftig, dass sich Wullner dachte, dass wohl auch er, Waagner, nicht weit entfernt von einer Entmündigung oder, wie es im Juristendeutsch so schön hieß, „Besachwalterung“ sei. Abschließend klärte Waagner seinen Freund noch darüber auf, dass diesem Oberfettinger deshalb eine sehr wesentliche Rolle in seinem Krimi zukommen werde, weil er Wolfgang W., den Krimihelden, bei dessen Hauskauf so oft wie einen Schulbuben zu behandeln wusste, dass sich dieser geschworen hatte, dem Oberfettinger eine über die Rübe zu geben, wenn sich ihm nur einmal die Gelegenheit hierzu bieten würde.

Der Kampf mit der Krimi-Materie

Nicht nur beim morgendlichen Laufen suchte Waagner krampfhaft nach Ideen für seinen Krimi. Auch beim Faulenzen am See marterte er sein Hirn, das wie ausgetrocknet schien. Ausgetrocknet wie ein im Regen vergessenes Taschenbuch, das von seinem Besitzer später in die Mikrowelle zur Wiedergutmachung des Versäumten gesteckt wurde. Waagner saß in seinem Liegestuhl, hatte seine Jack-Nicholson-Sonnenbrille auf und starrte auf die vor ihm liegende Wasserfläche. Aus dem Ort hörte man den Big-Band-Sound, der offenbar am Sonntag das Mondseer Seefest abschloss. Die Segelschiffe glitten bei wenig Wind gemächlich über den See. Der Himmel war wolkenlos blau und die Sonne spiegelte sich vieltausendfach im Wasser, das wie von einer Silberschicht – oder man könnte auch sagen – von Quecksilberperlen überzogen aussah. Das mit der Wolkenlosigkeit stimmte nicht unbedingt, denn hinter der Drachenwand, dem Schafberg und dem Gaisberg mit seiner weithin sichtbaren Fernsehantenne stiegen kleine Wolkenhäufchen auf. Am Horizont sah Waagner das von einem Motorboot aufspritzende Wasser, in dessen Spur ein Wasserskifahrer seinem Hobby frönte. Waagner hasste die Motorboote, zum einen, weil sie so viel Lärm machten, und zum anderen, weil er beim Weit-in-den-See-Hinausschwimmen immer wieder das unangenehme Gefühl hatte, er könnte von einem Motorboot geköpft werden.

Das wäre es doch! Endlich eine naheliegende Möglichkeit, jemanden Unliebsamen aus dem Weg zu räumen. Warten, bis er im See schwimmt, dann kurz ein Motorboot von der Wasserskischule ausborgen und über den Kopf des Schwimmenden hinwegbrausen, sodass sich die hinter dem Boot aufbäumenden Wellen rot färben. Nicht gerade dezent, aber sicherlich zielführend. Wenn da nur nicht die schwer verwischbaren Spuren wären! Waagner schob den Einfall wieder beiseite, denn er schien ihm doch nicht geeignet zu sein, um als Basis für einen subtilen und schwer entschlüsselbaren Krimi zu dienen. Vielleicht würde es den Metzgern (oder wie man in Österreich sagt, den Fleischhauern), falls es solche noch in großer Zahl gab, und den Chirurgen ein gewisses Kribbeln vermitteln, wenn die Schiffsschraube des Motorbootes den Kopf in einem glatten Schnitt vom Körper trennt. Aber sonst schien ihm diese Tötungsmethode eher unpassend. Oder ließe sich mit dem ferngesteuerten Modellschiffchen des Nachbarn etwas machen? Dieses sauste mit dem Summen eines Bienenschwarmes über die Wellen, zog seine Runden und schien bereits nach wenigen Minuten seinen Akku aufgebraucht zu haben. Damit ließe sich wohl einem verkommenen und primitiv niederträchtigen Feind ein blaues Auge oder eine kleine Platzwunde an der Stirn verpassen. Aber ob man es auch als Mordwerkzeug verwenden konnte? Das bezweifelte Waagner. Und letzten Endes fuhr noch in regelmäßigen Abständen der Mondseer Ausflugsdampfer an Waagners müder werdenden Augen vorbei. In Wahrheit waren es zwei Ausflugsdampfer, die sich abwechselten, aber beide der Firma Hemetsberger gehörten, die heuer ihr siebzigjähriges Firmenjubiläum gefeiert hatte. War das die richtige Umgebung für die entscheidende Eingebung? Jedenfalls könnte der Hinweis auf einige Mondseer Spezifika Waagner den Zugang zu öffentlichen Druckkostenbeiträgen öffnen.

Immer wieder kreisten seine Gedanken um die drei wesentlichen Fragen: Wer könnte Opfer, wer Täter sein? Und welche Motive kämen in Frage?

Waagners Frau fragte ihn von ihrem Liegestuhl aus, ob er nicht eine kleine Jause für sie und die Kinder holen wollte. Vielleicht ein paar Pfirsiche, Kekse und – ja sie sagte es tatsächlich – ein Päckchen Manner Schnitten. Manner Schnitten! Den ganzen Tag nichts anderes als Manner Schnitten, dachte sich Waagner und glaubte, damit vielleicht das Motiv für seinen Krimi gefunden zu haben. Seine Frau hatte zu jeder Stunde auf nichts anderes Lust als auf Manner Schnitten. Es verwunderte Waagner, dass sie trotz dieser Vorliebe für das neben dem Riesenrad zweitwichtigste Wiener Wahrzeichen noch immer so schlank war wie vor zehn Jahren, als er sie geheiratet hatte. Manner Schnitten, das schien ihm ein plausibles Motiv für einen Mord zu sein. Waagner dachte sich, dass Manner Schnitten aber ebenso gut als Mordwaffe dienen konnten.

Auf dem Weg ins Haus, wo er einige Pfirsiche und vier Päckchen Manner Schnitten aus der Speis holte, in der in mehreren Kisten gut und gerne 200 Stangen Manner-Schnitten-Päckchen lagerten, verwarf er den Gedanken des süßen Mordmotives. Als Tatwaffe taugten sie wohl auch nur, wenn man mit Hilfe eines Krans eine Palette voll Manner Schnitten auf das Mordopfer fallen ließ. Aber dies hätte wieder umfangreiche Recherchen im Nahebereich des Manner-Konzerns nötig gemacht, wozu er letztlich auch keine Lust hatte. Er brachte seiner Frau und den Kindern die gesunde Jause, ließ sich in seinen Liegestuhl fallen und schloss die Augen.

Da sah er plötzlich vor seinem inneren Auge ganz klar die handelnden Personen seines noch zu schreibenden Buches. Im Mittelpunkt würde ein gewisser Blassnig stehen, ein dickes fettes mit Kurzhaar versehenes Schwein. Diese Beleidigung einer ganzen Tiergattung würde er in seinem Buch naturgemäß näher erläutern müssen. Dieser Blassnig könnte zwar allenfalls eine bemitleidenswerte Vergangenheit haben, er dürfte aber letztlich nicht so geschildert werden, dass beim Leser auch nur ein Funken von Sympathie aufkommen könnte. Waagner schwebte vor, Blassnig als lediges Kind darzustellen, der in seinem späteren Leben immer wieder behaupten würde, sein Vater sei ein hochdekorierter Flieger der englischen Royal Air Force gewesen. Von der Mutter schon bald als das erkannt, was er später werden würde, gab sie ihn in die Obhut der Großeltern. Die würden sich um den kleinen Blassnig zwar sehr bemüht haben, da Blassnigs Vater tatsächlich aber kein englischer Flieger, sondern ein bis in den Mai 1945 hinein unbändig an den Endsieg glaubender SS-Obersturmbannführer gewesen war, konnten die Erziehungsversuche nichts gegen die von Grund aus verdorbenen väterlichen Gene ausrichten. Die Schule würde er zwar aufgrund ausreichend großer finanzieller Zuwendungen an die Lehrerschaft bis in die siebente Klasse Gymnasium durchkämpft haben, aber statt zu seinem achtzehnten Geburtstag seinen Großeltern mit der Matura eine Freude bereitet zu haben, würde ihm sein Großvater zu eben diesem Geburtstag einen Jaguar zum Geschenk gemacht haben. Dies wäre ein Zeichen seiner Vorliebe für Autos und auch ein gewisser Anreiz für den Einstieg in das großelterliche Transportunternehmen gewesen. Letzten Endes würde beides aber nur zu zahlreichen Fahrten in den mittleren Osten mit großen Sattelschleppern geführt haben, ohne dabei die Fähigkeiten entwickelt zu haben, das großelterliche Unternehmen auch wirtschaftlich führen zu können. Dies würde, so dachte sich Waagner die weitere Lebensgeschichte des Blassnig aus, zur unvermeidlichen Insolvenz des Transportunternehmens nach dem Tod des Großvaters geführt haben. Ohne erlernten Beruf, ohne finanzielle Unterstützung und ohne unmittelbare Bezugspersonen wäre Blassnigs Weg in Waagners Fantasie vorgezeichnet gewesen, wie einer der in den nicht ausgesucht originellen Heftchenromanen beschriebenen. Zu würzen wäre all dies noch mit Frauengeschichten sonder Zahl, mit dem für Blassnig unerfreulichen Ergebnis, dass die von ihm beglückten Frauen zwar nie übermäßig reich und damit für ihn keine entsprechende Zukunftssicherung gewesen sein würden, stattdessen ihn in immer kürzer werdenden Abständen mit Söhnen und Töchtern in nicht mehr überblickbarer Anzahl beschenken würden.

 

Waagner war sich noch nicht im Klaren, welche Rolle Blassnig spielen sollte. Würde er zum Mörder aus Verzweiflung werden oder Opfer eines von Rachegelüsten Getriebenen sein? Wer würden seine Gegenspieler sein? Würde die zweite Hauptfigur, die Waagner bereits in mehr oder weniger scharfen Konturen vor sich sah, sein Komplize oder sein Widersacher sein? Dieser würde der in den USA bereits sehr verachteten, in Österreich aber noch immer mit einem nicht zu unterschätzenden Prestige versehenen Berufsgruppe der Rechtsanwälte angehören. Ein giftiges kleines Männchen würde es sein, kein Anwalt, sondern ein mit einer feinen Frauenstimme ausgestattetes Anwältchen, das beständig vom Glauben getrieben sein würde, durch seine ausgefallene und ausgewählte Höflichkeit seine Bösartigkeit vertuschen zu können. Waagner wollte diesen Anwalt als ein Hauspantoffeln tragendes Ungeheuer zeichnen, als eine Mischung aus Danny de Vito und dem Rumpelstilzchen aus der letzten Shrek-Verfilmung.

Und inmitten dieser Typen, im Spannungsfeld, das nur Personen aufzubauen in der Lage waren, die so irreal erschienen, dass sie letztlich nur dem wahren Leben entnommen worden sein konnten, würde Waagner einen naiven, unschuldigen, im Leben passiv dahintreibenden Durchschnittsmenschen auftreten lassen, der so wie er Autoverkäufer sein würde. Es sollte ein ziemlich frustrierter Autoverkäufer sein, der zwar im Verkauf von japanischen Sportwagen sehr erfolgreich sein könnte, darin aber nicht die wahre Genugtuung finden würde. Da er vielleicht sogar ein Studium hinter sich haben könnte, mit größter Wahrscheinlichkeit jenes der Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing, würde ihm seine Tätigkeit im Verkauf immer zu minder erscheinen. Ein Minderwertigkeitsgefühl könnte sich in ihm daher aufbauen, das in immer wilder werdenden verbalen Ausbrüchen seinen Arbeitskollegen gegenüber ausarten würde, den Höhepunkt schließlich darin finden würde, dass er in einem sich ständig wiederholenden Zeremoniell viermal täglich sein Wasserglas an die Wand seines Büros schleudern würde. Dem Umstand, dass er Akademiker sein würde, könnte es Waagners Protagonist verdanken, dass ihn der niederträchtige Rechtsanwalt stets mit „Herr Magister“ ansprechen würde. Waagner hielt es sogar für vorstellbar, dass das Anwaltsmännchen den Autoverkäufer gerade zu jenem Zeitpunkt traf, wo das Frustrationsniveau bei jenem so hoch gestiegen war, dass nicht nur Wassergläser an der Wand ihr frühzeitiges Ende gefunden haben würden, sondern dass auch sein Laptop mit einem ohrenbetäubenden Krach zu Boden geworfen worden sein würde, worauf das Anwältchen aus nicht nachvollziehbaren Gründen zum Autoverkäufer „Herr Magister, Sie sind ja so ein netter Kerl“ sagen würde und damit bei diesem das Fass zum Überlaufen bringen könnte. Ein perfektes Motiv für einen Mord im Affekt, dachte sich Waagner, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass Affektmorde meist ohne Motiv abliefen.

Waagner biss in das saftige Fleisch eines Pfirsichs, der Fruchtsaft rann ihm über die Finger. Obwohl ein paar Tropfen auf sein Notizbuch fielen, in dem er die sporadischen Gedanken zu seinem Krimi festhielt, lag ein gelassenes Lächeln auf seinem Gesicht, ungewöhnlich für ihn, der bei jeder Verschmutzung welchen Gegenstandes auch immer leicht in Rage geriet. Diesmal warf ihn dieses kleine Versehen nicht aus dem Gleichgewicht. Er war mit sich zufrieden, denn auf unerklärliche Weise hatte er das Gefühl, mit diesen drei Hauptpersonen bereits den Schlüssel zu seinem Roman gefunden zu haben.

Dass er mit Dr. Fabregas noch eine weitere Person in den noch zu konstruierenden Plot einzuführen beabsichtigte, die ebenfalls einer von Klischees umwehten Berufsgruppe angehörte, ließ sich am ehesten damit rechtfertigen, dass seine Frau eine beinahe an ihre Manner-Schnitten-Liebe heranreichende Verehrung für und Hinwendung zu Ärzteserien hatte. Es klang zwar vorzüglich, wenn sie dies mit der Möglichkeit, ihre Englischkenntnisse aufzufrischen, zu tarnen versuchte, wenn sie Emergency Room, Grey’s Anatomy, Private Practice etc. im englischen Original verschlang – mit einer Stange Manner Schnitten neben sich – aber es war nur die halbe Wahrheit, denn soweit Waagner informiert war, wurden Klinik unter Palmen, der Bergdoktor, der Walddoktor, der Flussdoktor und die Wiederholungen der Schwarzwaldklinik nicht in englischen Versionen dem österreichischen Publikum dargeboten. Dennoch ließ die massive Präsenz von Ärzten auf den zur damaligen Zeit immer größer werdenden Flachbildschirmen den Schluss zu, dass das Publikum auch abseits seiner Manner Schnitten verzehrenden Gattin ein gewisses Faible für Ärzte hatte. Ein Krimi ohne Arzt würde daher in Waagners Augen von vornherein zum erfolglosen Ladenhüter oder wohl eher zum nie eine Druckerpresse sehenden Manuskript verkommen. Sein Dr. Fabregas würde ein in seinem Oberarztdasein steckengebliebener medizinischer Penetrant sein, der seine fachlichen Unzulänglichkeiten den omnipräsenten IT-Problemen in die Schuhe schieben wollen würde. Waagner würde ihn zwar als verheirateten Vater zweier Kinder in die Geschichte einführen, der neben seiner Arbeit im Krankenhaus der Elisabethinen auch im Kardiologie-Ambulatorium „Zur fröhlichen Forelle“ tätig sein würde, wegen gewisser Vorlieben später aber in Schwierigkeiten kommen könnte, die zumindest eine Beteiligung an einem Verbrechen nicht zur Gänze ausgeschlossen aussehen lassen würden.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?