Om mani padme hum

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7.
LUSSAR. TAGE DER KRANKHEIT UND NOT

In dem 2500 Meter hoch gelegenen Lussar fand ich Unterkunft im Haus einer Mohammedanerfamilie. Es bestand aus ganzen zwei winzigen Räumen. Die Papierfenster fehlten. Wind und Kälte hatten Tag und Nacht freien Zutritt. Als Schlafgelegenheit diente ein K’ang, das ist eine meterhohe hohle Liegestätte aus Lehm, die von der Außenseite des Hauses her mit Stroh angeheizt werden kann. In dem zweiten Raum befand sich ein alkovenartiges Loch mit einer Liegestatt aus Brettern, darunter ein kleiner Hohlraum. Vor den öden Fensterhöhlen lag ein enger gepflasterter Hof, auf dem ich meine astronomischen Beobachtungen und magnetischen Serienmessungen ausführte.

Die Mohammedanerfamilie bestand aus dem Hausherrn, zwei Frauen und einer Anzahl kleiner Kinder. Täglich kam viel Besuch, und oft genug wurde ich durch den ohrenbetäubenden Lärm, den die Familie und ihr Anhang fast ununterbrochen verursachten, bei meinen Arbeiten empfindlich gestört. Noch war kein Schnee gefallen. So war wenigstens das Wetter erträglich.

Mithilfe von Schwarzpapier stellte ich mir eine kleine provisorische Dunkelkammer her, in der ich täglich Aufnahmeproben entwickelte. Im Übrigen beschäftigten mich entweder magnetische Messungen, oder ich ging zum Kloster, um dort meine Studien zu machen.

Kumbum ist das größte Kloster Amdos. Vor dem Mohammedaneraufstand zählte es 7000 Mönche, heute nur noch 3600, also nur 300 Mönche mehr als das Kloster Labrang. Schon vor 23 Jahren hatte ich diese Stätte liebgewonnen. Auch jetzt fand ich im Kloster noch manchen Bekannten vor, der mich freundlich willkommen hieß. Die liebevolle Aufnahme, die mir dort wiederum zuteilwurde, verdanke ich nicht zuletzt der Vermittlung meines Freundes Lü sowie des Dao-tai von Sining-fu. Beider Fürsprache vermochte den Marschall Feng-Yu-Hsiang zu bestimmen, mir Sondervergünstigungen einzuräumen, die sonst wohl kaum einem Europäer zuteilwürden.

Eines Tages traf sogar der diplomatische Vertreter des Marschalls zum Besuch des Klosters ein. Bei dieser Gelegenheit ließ mir der Marschall durch den Mund seines Vertreters nochmals die ausdrückliche Versicherung geben, dass er alles tun werde, was in seiner Macht stehe, um meine Arbeit zu fördern.

Meine nächste Sorge galt der Heimsendung der von mir aufgenommenen Filme. Der einzige verfügbare Weg führte quer durch China zur Küste. Doch würden die Filme die kämpfenden Fronten glücklich passieren? Die Hoffnung war gering. Und jetzt war es wiederum Marschall Feng-Yu-Hsiang, der mir großmütig die Wege ebnete. Nach Rücksprache mit dem chinesischen Postmeister von Kansu, dem Italiener Guaita in Lantschou, erteilte er die Erlaubnis, meine Filme regelmäßig, hundertmeterweise in kleine Kistchen verpackt, mit der Post quer durch die Kampfzone nach Tientsin an das deutsche Konsulat zu senden. Von hier aus sollten die Päckchen dann auf dem Seeweg nach Deutschland weitergeleitet werden.

Ein Schreiner in Tankar stellte 200 kleine Kistchen her, die ich mit genauen Adressen in englischer und chinesischer Sprache versah und nach und nach mit belichtetem Film wohlverpackt nach Sining-fu bringen ließ, wo sie der Post übergeben wurden. Der Postmeister von Sining-fu wetteiferte mit dem Telegraphendirektor der gleichen Stadt, mir in jeder Weise entgegenzukommen. Nicht herzlich genug vermag ich für all die Freundschaft und Güte zu danken, die ich während meines Aufenthaltes in Kansu von den dortigen Behörden erfahren durfte. Besonders herzlichen Dank aber schulde ich meinem Lü, der sich vom ersten Tag an meiner wie ein wirklicher Freund angenommen hat. Er suchte gewiss keinen Vorteil, denn er wusste, dass ich fast mittellos war. Wie oft lud er mich in sein Haus ein, wo er mir, dem die chinesische Kost im Allgemeinen wenig bekömmlich ist, eine europäische Eierspeise bereiten ließ. Seine hübsche, kluge Frau, eine vorzügliche Wirtin, überwachte selbst die Zubereitung des Mahls, um meinen Geschmack zu befriedigen. So lebten wir harmonisch und ohne größere Sorgen, bis der erste Schnee fiel.

Mit dem Einbruch des Winters begann eine schwere Zeit für mich. Meine Kleider waren durch die bisherigen strapazenreichen Reisen stark abgenutzt und vielfach durchlöchert. Da meine Wohnung keine Heizvorrichtung hatte, musste ich erbärmlich frieren. Auch mit der Ernährung stand es schlecht. Hunger und Kälte sind böse Gäste!

Ansässige Tibeter brachten mir zwar jeden Morgen etwas Milch, zu der ich selbst einige mohammedanische Flachbrote erstand. Dann und wann gelang es wohl auch, einige Eier aufzutreiben.

Die Flachbrote scheinen nun meinem Magen nicht zuträglich gewesen zu sein; denn sehr bald funktionierte die Verdauung nicht mehr. Das war bedenklich, da der ganze Vorrat an Abführmitteln aufgebraucht war. Eine empfindliche Lücke in meiner Apotheke! So steigerten sich die Beschwerden; sie mögen den Boden für das spätere Unheil bereitet haben.

Die Kälte nahm zu, der strenge Winter brachte viele Härten. Aber meine Arbeit durfte deshalb nicht ruhen. Auf dem flachen Dach des den ganzen Ort überragenden Hauses hatte ich einen Barographen und einen Thermographen aufgestellt, um die Luftdruckänderungen und die Temperaturschwankungen automatisch zu registrieren. Allwöchentlich mussten die Apparate neu aufgezogen und die Registrierstreifen gewechselt werden. An einer sicheren Stelle, vor den Unbilden der Witterung einigermaßen geschützt, waren die Chronometer eingebaut, die ganz besondere Pflege und Sorgfalt forderten.

Zuweilen besuchten mich Einheimische, so der Polizeichef, dem in erster Linie die Bekämpfung des Grenzschmuggels oblag, einige chinesische und mohammedanische Kaufleute oder durchreisende Freunde des Dao-tai aus Sining-fu. Manchmal kamen auch Mönche aus dem nahen Kumbum, um medizinische Hilfe zu erbitten. Ich stand ohne mein Zutun im Ruf eines guten Arztes; so häuften sich bald die Besuche von Kranken und Hilfsbedürftigen. Ich wandte alle Beredsamkeit auf, um den Leuten klarzumachen, dass mein Titel mit der Heilkunst nicht das Mindeste zu tun habe. Sie schüttelten jedoch ungläubig den Kopf und sagten: »Du bist ein Doktor und wirst es schon recht machen!« So kommt man zu unerwarteten Ehren.

Meist erschienen Leute mit schweren ansteckenden Krankheiten, auch Frauen, die Opium genommen hatten, daneben Kranke mit Krätze oder Verwundungen. Ich verfügte über wenig Medikamente, nur Chinosol und Verbandzeug führte ich in größeren Mengen mit mir.

In meiner Zwangslage beschränkte ich mich auf Desinfektion und einfache Wundbehandlung. Leuten mit Durchfall oder Magenbeschwerden gab ich stark verdünntes Chinosol mit guter Wirkung.

Auch Augenkrankheiten grassierten in Lussar. Ein Mönch mit einer schweren Augenentzündung kam zu mir. Ich machte ihm Umschläge, die seine Schmerzen linderten. Am nächsten Tag erschien der Alte in meiner »Sprechstunde« (!) ohne Verband. Er sagte, seine Vorgesetzten hätten ihm mit Prügelstrafe gedroht, falls er noch einmal im Kloster oder gar zu den Kultübungen mit einem verbundenen Kopf erscheinen würde. Es ist eben doch schwer, im Herzen Asiens Kranke europäisch zu verarzten!

Große Sympathien gewann ich mir durch die Anwendung von Anti-Diphtherie-Serum und von Starrkrampfbekämpfern. Einmal wütete in Sining-fu eine schwere Diphtherieseuche unter den Kindern. Der Tod hielt reiche Ernte. Ich war gerade anwesend. Man bestürmte mich, ich solle helfen! Rasch ließ ich mein Serum aus Lussar holen und konnte einigen schwerkranken chinesischen Kindern das Leben retten. Solche Hilfe vergisst der Eingeborene nie.

In vierzehntägigen Zwischenräumen musste ich von Lussar aus die katholische Missionsstation in Sining-fu besuchen, die meine Briefe in Empfang nahm und mir auch sonst in hochherziger Weise half. Manchmal lieh mir mein Freund Lü ein Pferd. Ich selbst besaß keines mehr; denn ich hatte noch vor Beginn des Winters meine zwei Leiterwagen samt Pferden verkauft. Mein Lieblingstier, das Stangenpferd meines Wagens, hatte ich dem Kloster Kumbum geschenkt. Dort sollte es das Gnadenbrot erhalten. Das treue Tier hatte Überpferdliches geleistet! Mit ihm verband mich innige Freundschaft. Als ich einige Tage später nach meinem vierfüßigen Freund fragte, musste ich zu meinem Schmerz erfahren, dass das Tier noch in der Nacht nach der Einlieferung eingegangen war. Das war der Lohn seiner Treue; es war am Ziel in den Sielen verendet. Auch Pferde haben ihre Schicksale!

Es wurde von Tag zu Tag kälter. Wenn ich nur wenigstens so viel Geld gehabt hätte, um Heizmaterial – den billigen Pferdemist – kaufen zu können! Doch meine paar Groschen reichten kaum aus, um so viel Nahrung zu kaufen, dass ich mich einmal am Tag hätte satt essen können. Solange das Wetter noch »wärmer« war, d. h. solange sich die Temperatur um null Grad herum bewegte, ging es noch, als aber dann die schweren Fröste einsetzten und das Arbeiten an den eisigen Apparaten fast zur Unmöglichkeit wurde, beschlich mich doch ein Gefühl der Verzweiflung, das ich nur dadurch niederkämpfen konnte, dass ich noch mehr und noch länger zu arbeiten versuchte als zuvor.

Dabei sah ich selbst ganz trostlos aus. Meine Zehen guckten aus den abgetretenen und zerfetzten Schuhen, sodass ich sie am Ende wegwerfen und die Füße mit Lumpen umhüllen musste. Mein Mantel war ein einziger großer Fetzen, die Hose wies handtellergroße Löcher auf, durch die der Wind pfiff, wie er wollte. Von Unterwäsche war gar nicht mehr zu reden.

Meist war ich gezwungen, auch im tiefsten Schnee den weiten Weg nach Sining-fu zu Fuß zurückzulegen. Die Entfernung beträgt ungefähr 32 Kilometer, und der Weg führt, besonders im Anfang, über hügeliges Gelände. Auch war ein vereister Fluss zu überqueren, und die letzten acht Kilometer musste man auf der gefrorenen, spiegelglatten Fläche des Bergflusses, der nahe bei der Stadt in den Sining-ho mündet, zurücklegen. Mit meiner mangelhaften Fußbekleidung wurde dieser Marsch oft genug zur Qual. Doch noch war ich gesund und überwand solche Unannehmlichkeiten spielend.

 

Eines Tages war ich wieder einmal bei beißender Kälte nach Sining-fu gewandert, um mich nach dem Befinden von Beick zu erkundigen, den ich, da ich mittellos war und ihn nicht mehr bezahlen konnte, nach den nordöstlichen Bergen beurlaubt hatte, damit er dort während des Winters seine ornithologischen Studien fortsetzen könne. Der Missionar bot mir sein gutes Reitpferd an, um noch vor Einbruch der Dämmerung heimzukommen.

Unterwegs blies mir ein eisiger Wind direkt ins Gesicht. Bald setzte Schneegestöber ein; ich fror erbärmlich.

Ich erinnere mich noch genau, dass mich in Lussar Schwindel erfasste und mir ein heftiger Schüttelfrost durch alle Glieder fuhr. Ich suchte schleppend meine luftige Wohnung auf.

Wenig später wurde ich in der rechten Bauchgegend von wahnsinnigen Schmerzen heimgesucht, sodass ich mich bald wie ein Wurm krümmte. Ich warf mich, wie ich war, mit den nassen Kleidern auf den Bretterbelag im Alkoven. Die Schmerzen nahmen zu. Ich fror; denn ich hatte weder eine Decke zum Einhüllen noch eine Unterlage für den fiebernden Kopf. Schließlich verließ mich die Besinnung. Am nächsten Morgen stand ein Chinese an meinem Bett, und die Mohammedanerfamilie äugte neugierig durch die Fensterhöhlen. Inzwischen hatte man auch meinen Freund Lü benachrichtigt. Er kam sofort und ließ glühende Holzkohlen unter dem Bretterbelag aufschichten. Die Gase, die nirgends entweichen konnten, füllten den ganzen Raum. Statt der so notwendigen Erwärmung wurde die Luft verpestet, sodass ich zu meinen Leibschmerzen noch eine Kohlenmonoxidvergiftung bekam. Lü ließ eine Decke aus seinem Haus holen und blieb besorgt an meinem Lager sitzen.

Bald schickten mir die Klostermönche in rührender Fürsorge ein Mitglied ihrer medizinischen Fakultät zu Hilfe.

Mein Zustand verschlimmerte sich dennoch zusehends. Heftiges Erbrechen setzte ein, dem große Mattigkeit folgte. Ich hatte keine Ahnung, was mir fehlte. Meine einzige Sorge galt den Chronometern, die ich trotz hohen Fiebers täglich an den Stichstunden pünktlich aufzog. Auch die magnetischen Serienmessungen habe ich, so gut es eben ging, in den Pausen zwischen den schweren Anfällen programmgemäß durchgeführt. Trotz größter Erschöpfung saß ich stundenlang am Apparat. Die Anfälle steigerten sich in so erschreckender Form, dass Lü den K’ang für mich herrichten ließ, der mit Stroh geheizt werden musste. Was geschah? Der ganze Raum füllte sich mit schwelendem, gelbem Rauch.

Erst nach einigen Tagen schwanden diese üblen Nebenerscheinungen. Auf den K’ang wurden Strohmatten und obenauf eine Pferdedecke gelegt, auf die man mich bettete. Es war aber auch diesmal nichts; denn jetzt spie der K’ang glühende Hitze. Mein Rücken war halb geröstet, die anderen Körperteile aber schüttelte der Frost.

Nun schickte mein Freund Lü einen Boten nach Sining-fu, um einen Blechofen zu erstehen, wie sie dort aus alten Petroleumkannen angefertigt werden und für wenig Geld zu haben sind. Jetzt hatte ich also sogar einen Ofen im Zimmer, der jedoch wieder nicht viel half.

Noch vor Winterbeginn hatte ich, der völlig Mittellose, in meiner Not einen Brief an den deutschen Gesandten in Peking geschrieben, in dem ich um Hilfe bat. Dieser Brief war mir nicht leicht gefallen. Ich wartete sehnsüchtig auf Antwort, die eigentlich nach einigen Wochen in meinen Händen sein musste, wenn ..., ja wenn ... Aber Rom war weit ... Antwort kam trotz der zur Verfügung stehenden Funkverbindung Peking—Tihwa erst nach mehreren Monaten in Gestalt eines Briefes mit dem Aufdruck »Deutsche Gesandtschaft in Peking«. Der Inhalt des Schreibens lautete ungefähr: »Der Gesandte hat Ihren Brief vom ... erhalten und ihn zur weiteren Erledigung an das Auswärtige Amt in Berlin geleitet. Ich verbleibe im Auftrage ... « Unterschrift unleserlich.

Nach dieser traurigen Episode zurück nach Lussar. Mein Zustand wurde bedenklicher. Lü rechnete mit meinem Ableben. Er hatte auch eine geheime Nachricht nach Sining-fu gesandt, die dort auf den Ernst meiner Lage aufmerksam machen sollte.

Manchmal glaubte ich wirklich selbst, dass mein letztes Stündlein schlagen werde. Oft setzten lange Ohnmachten ein. Mein Körper wurde immer schwächer. Es fehlte zu allem Unglück an guter Nahrung und an geeigneten Medikamenten. Ich hatte zwar in der Zwischenzeit wiederholt chinesische Arzneimittel genommen, aber deren Wirkung war so gewaltig, dass mein geschwächter Organismus solche Pferdekur gewiss nicht sehr lange ertragen haben würde.

Als ich mich an einem wärmeren Tag einmal zu Lüs Wohnung wagte, fand ich diese verschlossen. Erst am nächsten Tag hörte ich zu meinem Kummer, dass Lüs kleiner halbjähriger Junge an Diphtherie erkrankt und gestorben sei. Vielleicht war es gerade dieses traurige Ereignis, das mich mit Lü und seiner Frau noch näher verband; denn es war mir gelungen, die Tiefgebeugten aus ihrer Niedergeschlagenheit wieder aufzurichten und Lü zu bestimmen, sich nach einem weniger wilden und klimatisch angenehmeren Ort versetzen zu lassen.

Inzwischen hatten die Vorbereitungen für das große Fest im Kloster eingesetzt. Nun hielt es mich nicht länger auf meiner Lagerstätte. Von Lü geführt, schleppte ich mich, wie ein Lasttier mit Apparaten bepackt nach Kumbum, um die Herrlichkeiten dieser weltentlegenen lamaistischen Zentrale im Bild festzuhalten. Ich drehte sogar einige Filmaufnahmen, besonders Tänze, die inzwischen in meinem Film »Om mani padme hum« der Öffentlichkeit vorgeführt worden sind. Die Eingeborenen, die meinem Tun mit Misstrauen folgten, gewohnten sich langsam an mich. Sie hatten Mitleid mit mir; denn sie sahen, wie elend ich war. Mein bleiches Gesicht zeugte von vielen Leiden. Sie wussten bald alle, dass ich fast nichts zu essen hatte, und so oft ich, in Lumpen gehüllt, zähneklappernd den Hof betrat, auf dem sie gerade ihre Versammlungen abhielten, boten sie mir Tee und getrocknete Früchte an. Wie rührend hilfreich waren diese einfachen Naturmenschen!

Anfang Dezember bekam ich unerwarteten Besuch in meiner armseligen Behausung; es stellten sich ein: zwei lebhafte Franzosen mit Lederhut und schweren Reitpeitschen, ein Amerikaner mit breitrandigem Hut und hohen Ledergamaschen, Mr. Plymire, und endlich ein langer, hagerer Amerikaner, Mr. Hayward. –

Die Franzosen beabsichtigten eine Expedition nach Tibet. Die beiden anderen Herren waren Missionare. Mr. Plymire war in Tankar und Mr. Hayward in Sining-fu stationiert, wo er zusammen mit den Engländern Herrn und Frau Learner arbeitete, den Nachfolgern meines lieben Freundes Ridley.

Dieser Besuch wirkte Wunder. Wie heilkräftige Sonnenstrahlen wärmte er mein Gemüt und hat mich in der Tat gestärkt und gekräftigt. Jetzt wusste ich doch, dass ich nicht verlassen war, dass auch andere Menschen mein Leid kannten, Freunde, die mir helfen würden.

Als einige Tage später, es war Mitte Dezember, das große Butterfest einsetzte, kam eine neue beglückende Überraschung. Am Vorabend erhielt ich den Besuch von Mr. Hayward. Er war von einem ebenso langen, schmalen, blonden Engländer, Jack Mathewson, begleitet. Beide luden mich ein, mit ihnen nach ihrer Karawanserei zu kommen, wo zwei englische Missionarinnen und Mrs. Hayward abgestiegen waren.


Betender Lama; Kumbum (Foto:Wilhelm Filchner)


Ein Kebsweib; Tankar (Foto: Wilhelm Filchner)

Tibeter aus Amdo (Foto: Wilhelm Filchner)

Welch große Freude! Man beschenkte mich mit einer Menge Konserven und mit Kuchen, die Mrs. Hayward extra für mich, den Leidenden, gebacken und aufgetischt hatte. Dann erhielt ich noch Brot, Eier, etwas Schokolade, lauter Sachen, die ich seit Monaten nicht mehr gesehen hatte. Ich habe darüber hohe Freude empfunden und war außerdem von derartigem Heißhunger gequält, dass ich in der darauffolgenden Nacht alles aufaß.

Am nächsten Tag zogen alle gemeinsam nach meiner Höhle, um sie zu besichtigen. Man riet mir dringend, den nächsten Arzt zuzuziehen, den Missionschirurgen Dr. King des Krankenhauses der China-Inland-Mission in Lantschou. Schließlich luden mich Mr. und Mrs. Hayward zu sich nach Sining-fu ein, damit ich mich dort etwas erholen sollte. Sie umsorgten mich von jetzt ab mit rührender Teilnahme, und ihr Zuspruch hat mich aufgerüttelt und mir neuen Mut und neue Zuversicht gegeben.

Dankbar ergriff ich die dargebotene Hand und siedelte schon nach einigen Tagen zu den edlen Menschenfreunden Mr. und Mrs. Hayward nach Sining-fu über. Dort erhielt ich neue Unterwäsche, ein Bad wurde sogar für mich bereitet, ein warmer Raum stand zu meiner Verfügung, und täglich bekam ich herrliches Essen. Mr. und Mrs. Hayward stammen aus Seattle, Washington, USA. Gestärkt kehrte ich nach Lussar zurück, um dort meine Serienmessungen abzuschließen.

8.
UNPROGRAMMGEMÄSSER ABSTECHER NACH LANTSCHOU

Nach Beendigung der Serienmessungen gab ich meinen Aufenthalt in Lussar auf und verlegte meinen Wohnsitz nach Sining-fu. Es mussten also unter anderem auch alle magnetischen und astronomischen Instrumente nach Sining-fu überführt werden. Zu diesem Zweck mietete ich einige zuverlässige Träger. Diese Leute pflegen schnell zu gehen, dafür aber rasten sie regelmäßig nach einigen Hundert Metern. Bei dieser Gelegenheit schieben sie unter die Rückenlast einen Stock. Ich selbst ging zu Fuß. In Sining-fu fand ich einen Brief aus Tientsin vor, der mir zu meiner Freude bestätigte, dass die ersten 13 Kistchen Film Ende Dezember dort angelangt waren. Hoffentlich folgen die anderen heil nach! Auch waren inzwischen mit einem Transport der katholischen Mission von der Küste her fünf Kisten mit weiteren 10 000 Meter Film für mich eingetroffen.

Am 6. März 1927 trifft auf einen von Mr. und Mrs. Hayward an den Chirurgen Dr. King in Lantschou gerichteten Brief die Antwort ein. Dieser Arzt hält meine Krankheit für Gallensteine. Er empfiehlt mir gute Kost und ein warmes Zimmer. Das wird sich in Tibet schwer beschaffen lassen.

Am Abend bin ich mit Lü zusammen Gast beim Dojung, dem Dao-tai von Sining-fu. In rührender Fürsorge lässt er für mich gefüllte Eierkuchen bereiten und mir Portwein kredenzen.

Nach dem Abendessen muss ich meine Instrumente erklären und vor geladenen Gästen astronomischen Unterricht erteilen. Meine Zuhörer sind etwas enttäuscht. Sie hatten gehofft, mit meinem Fernglas die Sterne in riesenhafter Vergrößerung zu sehen! So war ich denn froh, als beim Dao-tai ein großes Schreiben des Dalai-Lama eintraf, das die Aufmerksamkeit von mir ablenkte. Der Umschlag des Briefes aus braunem Papier war 60 Zentimeter lang und zehn Zentimeter breit. Der Briefbogen selbst war weiß und hatte das Format 60:6o Zentimeter. Er war mit tibetischer Schrift bedeckt und vom Dalai-Lama persönlich unterzeichnet. Der Inhalt enthielt unter anderem den Absatz:

»Ich bin glücklich, mit China wieder in Verbindung zu treten, bin ich doch stets ein Freund der gelben Rasse gewesen!«

Dieses Schreiben war unter Umgehung der britischen Zensur durch einen Geheimkurier hierhergelangt.

Am nächsten Tag musste ich in der Hochschule, die der Dao-tai in Sining-fu eingerichtet hatte, einen Vortrag halten.

Dieses Bildungsinstitut ist zweckmäßigerweise in die Höfe eines alten Tempels eingebaut. Die Hörsäle, mit Fenstern versehen, sind luftig und freundlich. Die Zuhörer sitzen in Schulbänken. Das Lehrpersonal besteht aus 14 Personen. Die Schule hatte mir zu Ehren geflaggt; ich wurde feierlich empfangen. Im Freien stand ein mit Decken geschmücktes Rednerpult. Davor saßen in zwei Gruppen, durch eine Mittelreihe getrennt, 300 Studenten in blauer Uniform mit weißen Metallknöpfen und Tellermützen.

Zunächst hielt der Direktor der Hochschule eine Ansprache und forderte die Studenten auf, mich zu begrüßen. Auf ein Kommando erhoben sie sich, machten einen Kotau vor mir und setzten sich wieder. Diesem Beispiel folgte der Direktor im Namen des Lehrkörpers. Jetzt ergriff der Hauptlehrer das Wort; er hielt einen langen Vortrag über mich und die Ziele meiner Expedition. Als er geendet hatte, kam mein Freund Lü an die Reihe, um mich zu feiern. Er wies auf meine abgetragenen Kleider hin, das sichtbare Zeichen meines Fleißes, wie er sagte.

 

Es fielen große Worte, die mich fast in Verlegenheit brachten. Dann kam auch ich zu Wort. Am Schluss meiner Ausführungen brachte ich den Wunsch zum Ausdruck, Jung-China und Jung-Deutschland möchten künftig Hand in Hand gehen und noch bessere Freunde werden als bisher. China solle nur recht viele chinesische Studenten nach Berlin schicken, die dort ihre Ausbildung vervollständigen könnten. Die Studenten würden mit reichem Wissen und neuen Erfahrungen heimkehren in ihre von der Natur so reich gesegnete chinesische Heimat und diese aus eigener Kraft zu noch höherer Entwicklung bringen können.

Der Hauptlehrer dankte. Allseitiges Händeklatschen und zahllose Kotaus. Jetzt folgte die Besichtigung der Hochschule. Als ich diese verließ, trugen die Schüler meine Instrumente. Wir begegneten dem General Ma, der von einer starken berittenen Soldateneskorte begleitet war.

Der nächste Tag brachte mir so starke Schmerzen, dass ich mich entschloss, den Chirurgen in Lantschou aufzusuchen. Haywards rüsteten mich hilfsbereit für die Reise aus. Ich schrieb zuvor noch einige Briefe und traf für den Fall meines Todes die letzten Verfügungen. Es ist immerhin eine heikle Sache, sich mitten in Zentralasien von einem Missionar den Leib aufschneiden zu lassen.

Während der vergangenen Tage hatten in Sining-fu große Umzüge mit Musikkapellen stattgefunden. Auch Soldaten waren daran beteiligt. Alle trugen kleine Papierfähnchen an Stäbchen mit verschiedenfarbigen Inschriften provokatorischen Inhalts. Schmährufe gegen katholische und protestantische Missionare wurden laut. Die Behörden bestritten zwar, dass diese Umzüge fremdenfeindlichen Charakter trügen; ich kann jedoch nicht behaupten, dass sie fremdenfreundlich waren. Es bedeutet immer ein gefährliches Spiel, die dumpfen, trägen chinesischen Massen in irgendeiner Form gegen Ausländer scharfzumachen. Man weiß nie, welche Folgen solche aufklärenden Kundgebungen nach ziehen.

Am 13. März, einem Sonntag, nahm ich bei Oststurm Abschied von meinen lieben englischen und amerikanischen Freunden, Abschied auch von Lü, und begab mich auf den Weg nach dem von Sining-fu in Luftlinie 200 Kilometer entfernten Lantschou.

Der Weg führte den Sining-ho abwärts bis Lau-ya-i. Dort gabelt die Hauptstraße nördlich ab, da die Gebirgszüge hier so dicht an den Fluss herantreten, dass nur gerade noch Platz für einen Maultierpfad bleibt. Erst bei der Einmündung des Ping-fan-ho in den Huang-ho vereinigen sich Maultierpfad und Hauptstraße wieder und führen gemeinsam nach Lantschou weiter.

Am 18. März aber hatte ich absichtlich die große Straße nach Lantschou verlassen, da uns bekannt war, dass auf dieser scharfe Passkontrolle stattfindet, während der schmale, nicht ungefährliche Schmugglerweg längs der klippenreichen Ufer des Huang-ho nicht unter Kontrolle stand. Gegen Mittag konnten wir bereits die eiserne Brücke mit ihren typischen vier Pfeilern, die den Huang-ho überquert, unbehelligt überschreiten. Hätte ich die große Straße benutzt, so wären mir wegen meines Passes und meines Gepäcks sicherlich Schwierigkeiten erwachsen. So aber kam ich glücklich an mein Ziel, das Burtonhospital.

Der Engländer Dr. King, seine Frau und Kinder, die sämtlich fließend Chinesisch sprechen, nahmen mich wie alte Freunde auf. Ich erhielt ein hübsches kleines Zimmer. Die abendliche Untersuchung ergab, dass ich nicht an Blinddarmentzündung, sondern an Gallensteinen litt. Nun wusste ich wenigstens, wo die wahnsinnigen Schmerzen ihren Herd hatten. Dr. King eröffnete mir, dass er bei dem nächsten Anfall eine Operation vornehmen werde. Diese Aussichten waren wahrlich nicht verlockend!

Am nächsten Tag musterte ich mit gemischten Gefühlen Dr. Kings Instrumentarium und lernte bei dieser Gelegenheit die chinesische Assistentin kennen, die mich narkotisieren sollte. Ich wünschte nun heimlich, dass der kritische Anfall möglichst lange auf warten lassen möchte. Der Arzt forderte eine Beobachtungszeit von 14 Tagen. Falls sich bis dahin der Anfall nicht wiederholen sollte, würden wir weiter sprechen, tröstete er mich.

Nachmittags besuchte ich den chinesischen Postkommissar von Kansu, den Italiener Guaita, den ich bereits aus unserem beiderseitigen Briefwechsel kannte und der mich bei der Beförderung meiner Filmpakete nach der Küste in jeder Weise unterstützt hatte.

Mit offenen Armen empfing mich Pater Ledermann, ein Österreicher von der Steyler Mission, dem ich zu ganz besonderem Dank verpflichtet bin. Dort war als Zahnarzt noch der Bruder Philoteus tätig, den ich schon in Liang-tschou getroffen hatte, wo er meinem Kameraden Beick sieben Zähne zog. Pater Philoteus hatte den Weltkrieg mitgemacht. Sein Name war in der Verlustliste aufgeführt. Er war also in der Tat Philoteus redivivus!

Von meinen lieben Bekannten darf ich noch nennen den Engländer Mr. Fraser in der China-Inland-Mission, Mrs. Bentall und Mrs. Bourton, die Leiterin der chinesischen Mädchenschule.

In der Stadt herrschen Gärung und Unzufriedenheit. Man rechnet mit Unruhen, falls in drei Monaten keine militärische Entscheidung fallen sollte. Die Einwohner lehnen sich gegen die hohen Steuerlasten auf.

Am 22. März erhalte ich die Nachricht, dass der verloren geglaubte Apparat, der über Taschkent leider allzu spät nachgesandt worden war, endlich in Tihwa eingetroffen ist. Er wurde nach Sining-fu weitergesandt. So hoffe ich, ihn vor meiner Weiterreise doch noch zu erhalten.

Eine andere Sorge lastet auf mir. Bis zur Stunde erhielt ich keine Nachricht, ob das nach Berlin abgesandte wissenschaftliche Material sein Ziel erreicht hat.

Am Vormittag sprach ich die amerikanischen Missionare, die aus Tau-tschou gekommen waren. Sie hatten diesen Ort auf Weisung des amerikanischen Konsuls verlassen müssen, um nach der Küste zurückzureisen. Einer dieser Herren erzählte mir, dass die Ngolok-Stämme am Ma-tschu (Huang-ho) dauernd miteinander in Fehde lägen. Es interessierte mich besonders zu hören, dass der Amerikaner Dr. Rock oberhalb Radja-gomba im schluchtartigen Tal des Ma-tschu sehr starke Stromschnellen festgestellt habe. Weiter aufwärts dagegen sei das Gefälle des Ma-tschu normal. Unterhalb des Ma-tschu-Knies leben nach Angabe des amerikanischen Missionars Königswald die Ngura, gute Leute, Feinde der Ngoloken. Auch Dr. Rock hatte diesen Teil des Ma-tschu besucht, ebenso der Missionar Mr. Simpson, und zwar in den Jahren 1925 und 1926. Dr. Rock und Mr. Simpson überquerten damals den Ma-tschu und nahmen den höchsten Gipfel des Amne-maltschin auf. Der englische Oberst Pereira, der in Tibet den Tod gefunden hat, glaubte, dass dieser Eisriese so hoch wie der Mount Everest sei. Auch Dr. Rock hält diese Schätzung für annähernd richtig. Wie herrlich muss es für einen Mann wie Dr. Rock sein, seinen Forschungen nachzugehen, reiste er doch unter ganz anderen Bedingungen als ich, da er pro Tag über 200 amerikanische Dollar verfügen konnte. Und ich?

Am 24. März 1927 verließ eine große Karawane, bestehend aus den amerikanischen Missionaren Tau-tschous mit ihren Frauen und einigen britischen Damen, Lantschou, um über Tai-yuan die Küste zu erreichen. Ob sie durchkommen würden?

Mein befürchteter Gallensteinanfall lässt – Gott sei Dank! – auf sich warten.

Am 26. März traf Bischof Buddenbrock wieder in Lantschou ein. Ich machte ihm meine Aufwartung und dankte ihm herzlich für alle Hilfe, die er mir bisher in so großzügiger Weise hatte angedeihen lassen.

Dr. King untersucht mich. Seit Lussar kein Anfall mehr! Mit der Operation scheint es nichts zu werden. Wie ich mich freue! Der Arzt meint: »Vielleicht haben Sie Glück gehabt, und der Stein ist abgegangen. Das kommt zuweilen vor.«

Am 2. April erreichte mich die Hiobspost, dass ein Pater der Steyler Mission, der von Lantschou aus bereitwillig einen Teil meiner wissenschaftlichen Beobachtungen zur Küste mitgenommen hatte, bei Si-an-fu von Räubern überfallen und vollständig ausgeraubt worden sei. Meine ganze Arbeit sei den Räubern in die Hände gefallen. Mein wertvolles Material schien unwiederbringlich verloren!

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