Om mani padme hum

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Ballonaufstieg am 30. März 1912 während der Drift der »Deutschland« im Weddellmeer, Quelle: Filchner 1922, S. 303

Durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs scheiterte Filchners geplante Teilnahme an einer Arktisexpedition unter Amundsens Leitung. Filchner hatte bereits den Expeditionsvertrag unterschrieben und auf dem Flugplatz Johannistal bei Berlin einen Pilotenschein gemacht. Daneben erhielt er bei der Firma Pathé Frères und der Ufa eine Ausbildung zum Kameramann. Diese Ausbildung sollte sich für seine künftige Unternehmung als sehr nützlich erweisen. Ob die geplante gemeinsame Expedition glücklich verlaufen wäre, ist fraglich, denn wie es sich herausstellte, duldete Amundsen auf seinen mehrjährigen Expeditionen keine zweite Führungsfigur neben sich.

Während des Kriegs wurde Filchner erst bei Verdun und später mit besonderem Auftrag in Norwegen und Holland eingesetzt. Nach Kriegende gab er die bayerische Staatsbürgerschaft auf, übersiedelte ganz nach Berlin und wurde preußischer Staatsangehöriger. Nun widmete er sich meist unter Mitarbeit erfahrener Autoren recht erfolgreich der Schriftstellerei. Daneben setzte er seine Ausbildung in erdmagnetischen Vermessungen fort. Die guten Verkaufszahlen seiner Bücher aus den Jahren 1924 und 1925 erbrachten genügend Einnahmen, sodass er konkrete Pläne für eine neue Expedition nach Tibet machen konnte, bei der die erdmagnetische Vermessung Zentralasiens im Vordergrund stand. Zunächst aber ging er auf Vortragsreise nach Leningrad (heute: St. Petersburg), Moskau, durch das Baltikum, Finnland und Schweden. Bevor er jedoch erneut in die Ferne aufbrach, bereitete er noch den politischen Roman »Wetterleuchten im Osten. Erlebnisse eines diplomatischen Geheimagenten« vor, der erst 1927 unter Mithilfe des Schriftstellers Willy Rath erschien. Auch hier verwendete Filchner wieder Erlebnisse aus seiner ersten Tibetexpedition.

Schon Ende 1925 hatte sich Filchner ohne Begleitung über Moskau zu seinem Ausgangspunkt nach Taschkent begeben, wo seine Arbeiten beginnen sollten. Diesmal wollte er sich nur auf seine eigenen Spezialgebiete erdmagnetische Landesaufnahme und Routenkartographie beschränken. Sein Ziel war, ein riesiges erdmagnetisch noch völlig unbearbeitetes Gebiet Zentralasiens zu erschließen. Dafür wollte er alle 20 bis 50 km astronomisch-erdmagnetische Messungen durchführen, um in einer rund 6500 km langen Schleife über Kudscha – Lantschou das europäisch-westasiatische Messnetz mit dem chinesischen und anschließend über Koko-nor – Nga-tschu-ka – Leh mit dem indischen Messnetz in Kaschmir zu verbinden. Dazu kam selbstverständlich wieder die Kartierung seiner Reiseroute sowie die Höhenbestimmung markanter Punkte und seiner Lagerplätze.


Filchners Reiserouten zwischen Taschkent und Leh (1926–1928) sowie Lan-Tschou und Leh (1934–1938), Quelle: Filchner 1950a, S. 181

Gleich zu Beginn wurde er jedoch in Urumqi sechs Wochen lang wegen angeblicher Spionage für die Sowjetunion festgehalten. Einen weiteren längeren Zwangsaufenthalt hatte Filchner in Lussar, wo er den Winter 1926/27 unter ärmlichsten Bedingungen hungernd, frierend und von schweren Gallenkoliken geplagt ohne finanzielle Hilfe der deutschen Botschaft in Peking verbringen musste. Dennoch konnte er sich aufraffen, um das nahe gelegene Kloster Kumbum zu besuchen. In diesem weltabgeschiedenen und streng abgeschlossenen heiligen Ort lebten damals rund 7000 Mönche, die im Dezember zusammenkamen, um die Butterfestwoche zu feiern. Dort bekam Filchner die seltene Gelegenheit, die rituellen Tänze der Mönche zu filmen. Daraus entstand 1956 der 2500 m lange Kinofilm »Mönche, Tänzer und Soldaten«, für den Filchner während seiner Expedition mit der Handkurbel insgesamt rund 17 000 m Film gedreht hatte. Die einzigartige Aufnahme der »Teufelstänze« lässt heutzutage ideelles lamaistisches Kulturgut aus längst vergangenen Zeiten wieder auferstehen.

Mit französischer und britischer Hilfe konnte Filchner schließlich durch das Gebiet des Koko-nor weiterreisen und seine erdmagnetischen Landesaufnahme fortsetzen. Die Messungen im Winter 1927/28 waren bei –40 °C noch beschwerlicher als je zuvor, denn das Schmieröl des Theodoliten fror ein und musste erst von der Sonnenwärme wieder aufgetaut werden, bevor Filchner mit den Untersuchungen beginnen konnte. Zudem hatte er sich eiternde Frostbeulen und starke Ischiasschmerzen zugezogen. Obwohl die Reise nicht nur abenteuerlich, sondern auch äußerst anstrengend und teilweise sehr entbehrungsreich verlief, konnte er insgesamt 160 Beobachtungsstationen anlegen und durch ergänzende Stationen in den Städten Sining-fu und Lussar die Lücke zu den Messungen der amerikanischen Carnegie Institution und zu seinen früheren Untersuchungen schließen.

Filchners Enttäuschung war groß, als er – daheim bereits tot geglaubt – am 24. Juni 1928 zukehrte. Trotz der überstandenen Strapazen und der erfolgreichen Tilgung des bis dahin bestehenden weißen Fleckens im zentralasiatischen Erdmagnetfeld durch die Verbindung dreier unabhängige Messnetze miteinander, wurde er in Berlin nicht mit großem Pomp empfangen. Die zeitgleiche Ankunft des afghanischen Königs hatte ihm buchstäblich die Schau gestohlen.

Nachdem er sich wieder in Berlin eingerichtet hatte, überließ er auch diesmal die Auswertung der Messdaten den Fachleuten. Er selbst begann mit der Abfassung seines Reiseberichts »Om mani padme hum« (deutsch: »O Kleinod im Lotus«), der mit Hilfe der bewährten Unterstützung durch die Schriftsteller Rath und Zeidler 1929 erschienen und sich schnell zu einem Bestseller entwickelte. Bis 1943 kamen 23 Auflagen heraus, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er zwischen 1950 und 1956 in gekürzter Form erneut fünf Mal aufgelegt. Filchners wichtigstes Werk sollte jedoch die Monographie »Kumbum Dschamba Ling, das Kloster der Hunderttausend Bilder Maitreyas« werden, in dem er aufgrund seiner Erlebnisse und Beobachtungen im Winter 1926/27 anhand von 208 Fotos und 412 Skizzen Leben und Lehre des Lamaismus ausführlich beschrieb. Der Fachmann für Lamaismus Wilhelm Alexander Unkrig hatte dafür über 1700 ausführliche Anmerkungen beigesteuert, sodass eine einzigartige Religionsbeschreibung Tibets entstand, die noch heute von Interesse ist.

Filchners dritte Tibetexpedition (1934–1938) wurde diesmal staatlicherseits unterstützt. Ziel war, die Fortsetzung der bisherigen Messungen zwischen Huang-ho und Indus, um die Bestimmung des Erdmagnetfeldes entlang der großen Schleife während der vorhergehenden Expedition durch weitere Stationen entlang einer die Schleife teilenden Route zwischen Lantschou – Tsaidam – Tschertschen – Chotan – Leh zu vervollständigen. Damit hätte er das innerasiatische Erdmagnetfeld flächenmäßig erfasst und in Chotan an die Messungen der russischen Tibetexpedition unter Mikhail Pevtsov in den Jahren 1889-1890 angeschlossen.

Gleich zu Beginn der Reise wurde Filchner wegen seiner Verdienste bei der Erschließung großer Gebiete im Nordwesten Chinas in die Academia Sinica (Chinesische Akademie der Wissenschaften) aufgenommen. Während dieser Expedition besuchte er das Kloster Kumbum ein weiteres Mal. Er stellte fest, dass die Anzahl der Mönche in der Zwischenzeit rapide abgenommen hatte und auf die Hälfte gesunken war. Wieder gab es einen längeren unfreiwilligen Aufenthalt, als Filchner in Chotan Ende Dezember 1936 für sieben Monate festgesetzt wurde, da er keinen gültigen Pass für die Weiterreise nach Leh vorweisen konnte. Schließlich gab es auch für dieses Problem eine Lösung, sodass er 1937 nach Abschluss einer Messkette von 3500 km an seinem Geburtstag sein Ziel in Kaschmir erreichte.


Kamelkarawane auf dem Marsch ins Tschungghu-Tal (1937), Quelle: Filchner 1938, S. 64 rechts

Filchners Rückkehr aus Tibet im Januar 1938 gestaltete sich diesmal zu einem Triumphzug, denn schon im Oktober 1937 wurde er auf dem Weg nach Srinagar von der Nachricht überrascht, dass ihm zusammen mit dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch der Deutsche Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft verliehen worden sei. Reichskanzler Adolf Hitler hatte diesen Preis eigens in diesem Jahr gestiftet, weil er die künftige Annahme des Nobelpreises verboten hatte. Mit dieser Ehrung wurde Filchner auch die Hälfte des Preisgeldes von 100 000 Mark zugesprochen, mit dem er umgehend an die Planung der nächsten Expedition ging. Zudem wurde er im selben Jahr in die renommierte Deutsche Akademie der Naturforscher (Leopoldina, seit 2008: Nationale Akademie der Wissenschaften) in Halle aufgenommen. Aber bevor er an die Vorbereitungen für seine nächste Expedition ging, veröffentlichte er noch seinen Reisebericht unter dem Titel »Bismillah!« (deutsch: »In Allahs Namen!«), bei dem ihn der Schriftsteller Dr. Erhard Rühle unterstützte.


Schwieriger Übergang über den Bain-ghol. Die Kamele mussten mit Seilen ans Ufer gezogen werden (1937), Quelle: Filchner 1938, S. 104 rechts

Die Zeiten hatten sich inzwischen sehr geändert. Filchner, der die politischen und sozialistischen Entwicklungen in Dritten Reich persönlich nicht miterlebt hatte, ließ sich wegen der nun endlich erfahrenen großen Wertschätzung seiner Arbeit leichtfertig einvernehmen, obwohl er gemeinhin als antinazistisch bezeichnet wurde. Im Vergleich mit der »Deutschen Tibet-Expedition Ernst Schäfer«, die der Zoologe und SS-Sturmbandführer Ernst Schäfer 1938–1939 leitete, gehörte Filchners nächste Expedition schon einer längst vergangenen Zeit an. Schäfer war eines der führenden Mitglieder der Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe, der in den bis dahin noch weitgehend unerforschten Osten Tibets auf die Suche nach einer arischen Urreligion und dem Ursprung der arischen Rasse ging.

 

Filchner hingegen wollte 1939 seine 1904 begonnenen erdmagnetischen Untersuchungen in Nepal abschließen, wo er das Angebot der dortigen Maharadschas angenommen hatte, die erste systematische Bodenvermessung des kleinen Königreichs am Fuße des Himalajas zu leiten. Aber anstatt seine geplanten Messungen fortsetzen zu können, wurde von ihm erwartet, Gold- und Erdölvorkommen zu finden. Zuvor schon an Malaria erkrankt musste Filchner schließlich 1940 wegen einer akuten Nierenerkrankung zur Operation in das britische Indien abreisen. Inzwischen hatte das Deutsche Reich einen Krieg mit Polen begonnen, das mit Großbritannien verbündet war. Obwohl Filchner die Ausreise nach Deutschland noch möglich war, blieb er lieber in Indien und begab sich in die britische Internierung, wohl auch deshalb, weil seine verheiratete Tochter Erika in einem benachbarten Camp ebenfalls interniert war. Bald schon durften sie in dem Camp von Satara zusammenziehen. Als das Camp 1946 aufgelöst wurde und seine Tochter nach Deutschland zurückkehrte, blieb Filchner auf eigenen Wunsch hin in Poona, wo er 1949 das Manuskript seiner Autobiographie beendete. Erst 1951 kehrte er aus gesundheitlichen Gründen nach Europa zurück, wo er sich mithilfe seiner Freunde in Zürich ansiedelte und dort bis zu seinem Tod am 7. Mai 1957 zurückgezogen lebte. Im selben Jahr erschien noch das Gemeinschaftswerk »Route-Mapping and Position Locating in Unexplored Regions«, das er 1906 aufgrund seiner Erfahrungen in Zentralasien begonnen hatte.


Vermessungsskizze der 3000 Jahre alten Besiedlung in der Dulan-Ebene (1937), Quelle: Filchner 1938, S. 103

In ihrer Fernsehdokumentation »Leidenschaft Tibet. Auf den Spuren des Forschers Wilhelm Filchners« aus dem Jahr 2002 beschreibt Jutta Neupert, wie das Kloster Kumbum nach seiner Schließung während der Kulturrevolution der Volksrepublik China verfiel und 90% der Gebäude zerstört wurden. Jahrzehnte später durfte sich dort wieder eine kleine Mönchsgemeinschaft ansiedeln, die im Jahr 2002 auf rund 450 Mitglieder angewachsen war. Als Neupert zu Beginn der Dreharbeiten in Kumbum den Mönchen eine Kopie von Filchners Dokumentation schenkte, kehrte ein historisch äußerst wertvolles Kulturgut wieder an seinen Ausgangspunkt zurück, das eine historische Lücke schloss, die einst durch die Kulturrevolution geschlagen worden war. Heute gehört das Kloster zu den herausragenden Kulturdenkmälern, die mit staatlichen Geldern aufwendig restauriert sind, um als neuer Tourismusmagnet möglichst viele zahlende Gäste anzulocken. Allerdings wurden Gebäude umgebaut und Straßen verbreitert, sodass der Charme des historischen Klosterensembles längst nicht mehr existiert. In diesem Zusammenhang haben Filchners Filmaufnahmen einen besonderen dokumentarischen Wert.

Für seine Verdienste in Tibet wurde Filchner 1911 die Ehrendoktorwürde der Königsberger Universität verliehen und 1937 der Titel Dr.-Ing. h. c. der Technischen Hochschule München. In der Antarktis tragen neben dem schon erwähnten Filchner Schelfeis das Filchner Kap nahe dem von Drygalski entdeckten Kaiser-Wilhelm-II-Land, die Filchner Berge in Neuschwabenland (Dronning Maud Land) und die Filchner Felsen östlich von Südgeorgien seinen Namen. Im Kurpark Bad Homburg erinnert ein Denkmal und in Gera die Wilhelm-Filchner-Straße an den Forschungsreisenden. Zum hundertjährigen Jubiläum seiner Antarktisexpedition entstand ein Open-Air-Theaterstück, das die Spannungen zwischen den Expeditionsmitgliedern analysierte und am 14. Juni 2012 an der Columbuskaje in Bremerhaven uraufgeführt wurde.

Filchners Nachlass befindet sich in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, wo seine Tagebücher, umfassende Korrespondenzen, Fotos, Filme, Bücher und Erinnerungsstücke aus seinen Expeditionen sowie auch Neuperts Fernsehdokumentation aufbewahrt werden. Die wissenschaftlichen Aufzeichnungen sind in Potsdam deponiert.

Cornelia Lüdecke

VORWORT ZUR 12. AUFLAGE

Möge diese meine Expedition nach Zentralasien den Beweis verstärken, dass im deutschen Volk trotz Unglück und Not noch der alte Idealismus lebt und der Glaube an die eigene Kraft.

Zu den erfreulichsten Erfahrungen auf meiner Forschungsfahrt gehört es, dass mir von den Angehörigen der verschiedensten Nationen allenthalben hilfreiche Hand geboten wurde, sodass sich die Überzeugung in mir festigte, dass auch heute noch Achtung und Liebe für Wissenschaft und tätiges Forscherstreben lebendig geblieben sind. Und das beweist wiederum, dass bei gemeinsamer Verfolgung ideeller Ziele trennende Gegensätze am besten überbrückt werden.

Berlin, im Herbst 1931

Wilhelm Filchner

»OM MANI PADME HUM«

»Om mani padme hum«, diese sechs Silben, die ich diesem Buch zum Namen gab, bedeuten eine Bannformel, eine der kürzesten wohl und sicher die meistgesprochene, -geschriebene und -vervielfältigte auf dieser Erde. Mit Inbrunst und erstaunlich seltsamen Mitteln wird die unablässige Wiederholung dieser einen Formel in dem fernen Hochgebirgsland Tibet betrieben.

»Om mani padme hum« heißt zu Deutsch: »O Kleinod im Lotos!« Dieser Ausspruch ist das tägliche, stündliche, immerwährende Gebet eines Volkes und zugleich eines Glaubens. Der deutsche Tibetforscher Professor A. H. Francke hat den ursprünglichen Sinn dieses Gebetes ermittelt. Für die Bekenner des Lamaismus, nämlich die Tibeter und Mongolen, kommt nur die einheimische Erklärung der heiligen sechs Silben infrage, die jeder Silbe eine besondere magische Kraft beilegt. Die Treffsicherheit dieser Silben wird mit folgenden Worten gepriesen:

»Der (Welt-) Berg Ssumeru ließe sich wohl noch in der Waagschale abwägen.« –

»Das große Weltmeer ließe sich wohl tropfenweise erschöpfen.« –

»Die finsteren unermesslichen Wälder und Gebüsche des Schneereiches (Tibet, d. Verf.), in Asche verwandelt, ließen sich wohl stäubchenweise zählen.« –

»Eine Einfassung von hundert Meilen im Umfang, mit den feinsten Samenkörnern gefüllt, von denen täglich nur eines herausgenommen würde, könnte am Ende wohl leer werden.« –

»Ein zwölf Monate lang anhaltender, Tag und Nacht sich unaufhörlich ergießender Regen könnte wohl tropfenweise gezählt werden.« –

»Die Tugenden aber, die ein einmaliges Aussprechen der sechs Silben bewirkt, sind unberechenbar.«

1.
VON MOSKAU BIS CHORGOS

Eine höchst unerwartete Wirkung hatte meine Unternehmung, noch ehe sie wirklich begonnen. In Moskau hielt man mich für einen Sowjetkommissar! Diese Ehre verdankte ich meiner Reisetracht, die ich auf früheren Expeditionen erprobt hatte und im moskowitischen Winter auch bewährt fand: dunkelbrauner Lederanzug, Gamaschen, Pelzmütze. Nichts lag mir, weiß Gott, ferner, als den russischen Machthabern ins Handwerk zu pfuschen. Aber überall – nicht nur auf den Straßen, auch in den amtlichen Departements – wurde ich wieder und wieder als Kommissar der Sowjets angesprochen.

Manche wollten es mir gar nicht glauben, dass ich Deutscher sei; sie schienen diese meine Versicherung eher für irgendeine List zu halten und lächelten vielsagend. Ich sähe gar zu waschecht aus »wie ein Volkskommissar von 1917«.

Im Übrigen hat man mich in Moskau, sobald meine Person und meine Ziele bekannt wurden, viel zu häufig – entschieden über meinen Bedarf hinaus – photographiert, namentlich für Arbeiterzeitungen; auch an Interviewern fehlte es nicht.

Schließlich hatte ich nicht übel Lust, mich selbst einmal zu fragen, wer und was ich eigentlich sei? Wie ich hierher in diese russische Welt kam? Und was ich denn noch weiter, viel weiter draußen im Herzen Asiens suchte?

Meine wissenschaftlichen Aufgaben standen mir freilich klar genug vor Augen. Und im Besonderen lockte und lockt mich zeitlebens die Sphinx, als die das innere Asien noch immer anzusehen ist, trotz allem, was von Forschern verschiedenster Nationalität bereits zur Ergründung dieser Länderstrecken und ihres bunten Völkergemischs geleistet worden ist.

In unseren Tagen kommt wohl für jeden reiferen Deutschen, der aufs Ganze blickt, noch etwas anderes hinzu: der Wunsch, seinem schwer heimgesuchten Land zu nützen, soweit ein Einzelner es irgend vermag. Ein Gedanke, der in dem deutschen Forschungsreisenden den Drang nach Wirken in der Ferne – und hoffentlich auch ein wenig in die Ferne – jedenfalls höchst lebendig erhalten muss.

In mehr als einem Sinn kann es für das heutige Deutschland nur dienlich sein, außer seinen Kaufleuten, Technikern, Diplomaten, Künstlern usw. auch ganz unabhängige, besonnene, weltkundige und wissenschaftlich gut gerüstete Männer »draußen« zu haben, deren einzige Aufgabe das Suchen und Sehen, das Forschen ist.

Einmal darf im edlen Wettbewerb der Völker um den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis der Deutsche vielleicht am wenigsten fehlen. Dann aber ist der zivilisatorische, kulturelle und weltpolitische Zusammenhang der Nationen auf der Erde so eng, dass kaum noch etwas von dem, was auf diesem Planeten von einem Volk irgendwie Bemerkenswertes gewollt oder unternommen wird, für ein anderes Volk ganz gleichgültig sein könnte.

Nach alledem hat der deutsche Forschungsreisende in den exotischen Gebieten mindestens eine dreifache Aufgabe: Er ist wissenschaftlicher Arbeiter, Repräsentant seiner Heimat und friedlich schaffender Beobachter fremdvölkischen Lebens und Trachtens. Diese drei Ziele sind so innig miteinander verknüpft, dass sie sich praktisch gar nicht trennen lassen.

Während der kaum zwei Wochen meines Aufenthalts im großen osteuropäischen Reich hatte sich mein Verlangen nach dem asiatischen Osten zu drängender Ungeduld gesteigert. Ich atmete auf, als ich endlich, am 15. Januar 1926, Moskau verlassen konnte, um mit der Bahn über Orenburg nach Taschkent zu fahren.

Aber auch ein angeborener Trieb stieß mich wieder hinaus in die Fremde, eine schicksalsmäßige, also nicht weiter zu erklärende Bestimmung, die den einen zum Forscher werden lässt wie etwa den anderen zum Maler oder Musiker. Die Suche nach dem Unbekannten lastet als eine innere Verpflichtung auf jedem zur Forschung Berufenen.

Am 19. Januar abends erreichte ich Taschkent, die Hauptstadt des asiatisch-russischen Syr-Darja-Gebiets.

Ich begab mich nach dem Hotel Regina. Die Herren vom »Mittelasiatischen Meteorologischen Institut« waren liebenswürdigerweise wiederholt nach dem Bahnhof gegangen, um mich zu empfangen. Durch die erhebliche Zugverspätung hatten wir uns verfehlt. So machte ich erst am nächsten Tag die Bekanntschaft dieser ausgezeichneten Männer, die mir meine Arbeiten in Taschkent auf jede Weise erleichterten.

Der Vertreter des Auswärtigen Amts der Sowjetunion, Herr Snamenski, war mir bei der Regelung der Zoll- und Passangelegenheiten behilflich. Auch schoss er mir einige Mittel zur Weiterreise vor. Denn bereits hier, am Anfang der Reise, war mir der Nervus Rerum knapp geworden. Ich hatte mein ganzes Geld der Firma Fausts & Cie. in Tientsin übermitteln lassen, die mich in China akkreditierte, und durch die ich also auch in der chinesischen Provinz Sinkiang, und zwar in der Hauptstadt Tihwa (Urumtschi), sofort Geldmittel erhalten konnte. Herr Snamenski ließ daher nach Sinkiang Weisung gelangen, dass die Firma Faust & Cie. mir weitere Mittel entgegensende.

Nach dem turkestanischen Gebiet der Sowjetunion aber hatte ich nur das Allernötigste an Geld mitgenommen, da mir in Leningrad gesagt worden war, die Grenzgebiete seien ganz unsicher und dauernd von Räuberbanden heimgesucht, die namentlich auf Bargeld Jagd machten. Allein die Kosten für den Transport meines Instrumentariums waren viel größer, als ich ursprünglich gedacht hatte.

Am 21. Januar vormittags stellte ich bei meinen Messungen fest, dass das Schleifengalvanometer, ein sehr empfindliches Instrument zur Bestimmung der Inklination1 nicht funktionierte. Ich erbat sofort telegraphisch aus Berlin von der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft ein Ersatzinstrument, das mir auch nachgesandt werden sollte. Es hat mich nie erreicht, und ich habe es schmerzlich vermisst.

 

Dankbar nahm ich die zahlreichen Anregungen des Professors Gultjajew an, eines alten Forschers mit jungem Herzen, der früher viel in Turkestan und im Pamir magnetisch vermessen hatte.

Allmählich musste ich mich nun wieder zum Asiaten umstellen und meine ganze Denkart danach einrichten. Wer in diesem Erdteil vorwärtskommen will, muss sich zu ganz anderen Ansichten bequemen, als sie dem Europäer geläufig sind. In Asien heißt die Parole sonderbar genug: »Schnell, aber langsam!«

Am 23. Januar händigte mir das »Mittelasiatische Meteorologische Institut« ein Schreiben aus, das von Professor J. Gultjajew unterzeichnet war und in dem auf die ungeheuren Schwierigkeiten und die jammervollen Wegeverhältnisse hingewiesen wurde, die ich auf der begonnenen Expedition zu überwinden haben würde.

Die nächsten Tage vergingen mit unterhaltsamen Beschäftigungen, Abstempelung meines Passes und Verhandlungen auf dem »Hauptzollamt für Außenhandel in Mittelasien«; mein Gepäck wurde plombiert, sodass ich von Zollschwierigkeiten an der Grenze verschont blieb. Man kam mir auf jede Weise und höflich entgegen.

Nach einem Abkommen mit dem »Zentralobservatorium« in Leningrad gingen alle meine wissenschaftlichen Beobachtungen in zwei Exemplaren nach Leningrad zurück. Von dort sollte das Original nach Potsdam an das »Meteorologisch-Magnetische Observatorium« weitergeschickt werden, während die Kopie beim »Zentralobservatorium« in Leningrad bleiben sollte. Am 27. Januar, abends um acht Uhr, verabschiedete ich mich von meinen Taschkenter Freunden und trat die Reise in der Richtung auf Westchina an.

Ich verließ die Hauptbahnlinie und fuhr auf einer Zweigbahn nordwärts über Tschak-pak, Aulie-ata, Merke nach Pischpek, wo mich früh am 29. Januar Dr. Woßkressenski empfing und gastfreundlich aufnahm.

Die Arbeiten in Pischpek waren nicht vom Glück begünstigt, da schlechtes Wetter einsetzte. Meine Pischpeker Freunde halfen mir bei den Vorbereitungen für meinen Gepäcktransport und bei der Platzbelegung auf dem Autobus, der mich von hier aus nach Wjernyi bringen sollte.

Für den Lasttransport kamen 30 Pud – ein Pud gleich 32 deutsche Pfund – infrage, wofür 50 Rubel verlangt wurden. Ich hatte Glück. Es ging gerade ein Transport ab nach Dscharkent, an die russisch-chinesische Grenze, der mein Gepäck aufnehmen konnte.

Es gelang mir auch, einen Platz im Autobus und ferner die Erlaubnis zu erhalten, die nötigsten wissenschaftlichen Instrumente mitzuführen, da man bei dem schlechten Wetter statt der üblichen zehn nur fünf Fahrgäste zuließ.

Am 2. Februar in der Frühe waren die Reisenden versammelt: zwei Kirgisen in guten Kleidern und dicken Pelzen, ein kräftiger Hebräer aus Kasalinsk mit großem Schnauzbart, zusammengewachsenen, buschigen Augenbrauen und ein Mechaniker der Autostation, ehemaliger Deutscher. Besonders der Hebräer nahm sich meines empfindlichen magnetischen Instruments freundlich an, das, um Erschütterungen zu vermeiden, während der ganzen Fahrt im federnden Wagen auf einem Bündel aus Pelzmänteln in der Schwebe gehalten werden musste.

Am Pass Kurdai überschreitet wir die Wasserscheide zwischen den Flussgebieten des Tschu und des Ili, und nach 50 Stunden rattern wir bei herrlichem Sonnenschein in Wjernyi ein, wo die schöne Spazierfahrt ihr Ende findet.

Ich begebe mich zum »Meteorologischen Observatorium«, das im äußersten Süden der Stadt am Fuß des Sailjiski-Ala-tau erbaut ist. Bei der Transportgesellschaft miete ich einen Pferdewagen zur Reise nach Dscharkent. Kostenpunkt: 65 Rubel.

Bei Dr. Nikolai Wassiljewitsch Bespaltschew und seiner Frau, einer Polin, fand ich gastfreundlichste Aufnahme und jede nur denkbare Unterstützung. Man hatte sich hier schon um mich gesorgt. Mit gemischten Gefühlen erfuhr ich, dass ein Student verschwunden war, der wahrscheinlich auf dem Marsch von Pischpek hierher von Räubern überfallen, beraubt und erschlagen wurde.

Wjernyi heißt kirgisisch recht klangvoll Alma-ata, auf Deutsch: »Apfel-Vater«. Dieser Name ist jetzt gebräuchlicher als der russische. Alma-ata hat ungefähr sechs Werst im Durchmesser und liegt an der blauen Alma-tinka.

Meine Gastfreunde wurden mir außerordentlich nützlich beim Einkauf von Ausrüstungsgegenständen für die Weiterfahrt nach der chinesischen Grenze. Auch bei der Beladung meines Reisewagens, der eine Plane aus Matten und starken Holzreifen aufgesetzt hatte, half mir das Ehepaar.

An Seilen und Netzen, die von der Decke des gewölbehaften Gerippes herabhingen, wurden im Hohlraum die empfindlichen wissenschaftlichen Instrumente aufgehängt, sodass sie vor Erschütterungen bewahrt blieben.

So sehr mir Regierung und Bevölkerung in der Sowjetunion meine Tätigkeit erleichterten, so schwierig gestaltete sie sich in der Zone um Pischpek und Wjernyi. Ich kam dort in das berüchtigte Erdbebengebiet, das bis zum Issyk-kul hinüberreicht, einer mächtigen Wasseransammlung zwischen dem Tarimbecken und der Balkaschniederung. Noch kurz vor meinem Eintreffen, in der Nacht vom 12. zum 13. Januar, waren die Einwohner durch einen gewaltigen Erdstoß, den ein ungeheures Getöse begleitete, in Angst und Schrecken geraten. Nahezu alle Fensterscheiben waren zersprungen.

Was werden die nächsten Stunden bringen? Diese bange Frage las ich auf allen Mienen. Auch die liebe junge Frau Bespaltschew – sie war trotz zarter Gesundheit als Lehrerin tätig – lebte in ständiger Furcht vor neuen Erdstößen.


Der Reisewagen, in dem das empfindliche magnetische Instrument K, an der Wagendecke aufgehängt, frei schwebend transportiert wurde.

Seit dem schweren Erdbeben von 1887, bei dem viele Häuser samt der Kathedrale zerstört wurden und mehr als vierhundert Menschen den Tod fanden, pflegen die Einwohner von Wjernyi beim geringsten Anzeichen von Erdbewegungen ihre Häuser zu verlassen und im Freien zu kampieren.

Während meiner Anwesenheit in dieser Stadt, in einer sogenannten »ruhigen Zwischenpause«, konnte ich meine astronomisch-erdmagnetischen Beobachtungen mit den sehr empfindlichen Instrumenten ausführen, die noch immer leichte Erschütterungen anzeigten.

Die Erdbeben setzen so plötzlich ein, dass die Einwohner oft nicht Zeit finden, sich ins Freie zu retten. Chinesen, mit denen ich später jenseits der Grenze zusammentraf, alte, erfahrene Söhne des Reichs der Mitte, wunderten sich nicht wenig über den »Leichtsinn« der Russen, an dieser berüchtigten Stelle eine Stadt zu bauen.

Im Altertum stand hier eine blühende Chinesenstadt. Bei einem gewaltigen Erdbeben verschwand sie von der Bildfläche. Die ganze Erdbebenzone, in alten Zeiten rein chinesisches Gebiet, wird seitdem von den Chinesen gemieden.

Nahe dem Ostende des Issyk-kul, wo man das Epizentrum des ganzen Erdbebengebiets vermutet, und zwar westlich der Stadt Prschewalsk – nach dem unsterblichen Asienforscher Prschewalski benannt – ist übrigens noch eine andere alte Chinesenstadt versunken.

Die Erinnerung an diese Katastrophe lebt eigenartigerweise fast ausschließlich bei den Mohammedanern fort. Heute noch bringen kirgisische Taucher oder schwere Stürme allerlei Gegenstände ans Licht, wie chinesische Siegel, Mühlsteine, Silbergerät in vielfarbiger feiner Emaillearbeit byzantinischer Richtung.

Am 9. Februar verlasse ich Wjernyi und erreiche über Saizewka (Tschilik) und nach Überquerung des Ili bei Golubewskaja die Hauptstraße nach Dscharkent, das ich am 14. Februar betrete. In der Meteorologischen Station finde ich bei der Leiterin, Elisaweta Iwanowna Propalowa, gastliche Aufnahme.

Ich besitze noch 17 Rubel ...

Die nächsten Tage vergehen mit der Durchführung umfangreicher magnetischer Messungen. Höhenlage 540 Meter.2

Die russische Transportgesellschaft »Dobroflot«, die den Wagenverkehr mit China besorgt, ist glücklicherweise erbötig, meinen Gepäcktransport, sobald er hier eintrifft, nach Kuldscha in der westlichen chinesischen Provinz Sinkiang weiterzuleiten. Für mich die Rettung, da ich erst in Kuldscha zu bezahlen brauche. Ich kann also wider Erwarten mit dem schäbigen Rest meines Reisegeldes auskommen.