Weck den Buddha in dir

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Sich auf das Gute ausrichten

Wir alle neigen dazu, den Schwierigkeiten in unserem Leben zu viel Gewicht beizumessen und uns von ihnen besetzen zu lassen. Schwierigkeiten messen wir oft zu viel Gewicht bei und übersehen dabei das Gute.Das Gute übersehen wir dabei oft. In einem Lied der Band Element of Crime heißt es: »Liebling, sag mir morgen früh noch mal, dass wir glücklich sind. Wer zu lange in die Sonne sieht, wird blind.« Statt das Glück zu würdigen, das uns bereits zuteil wird, denken wir ständig darüber nach, was uns noch fehlt, was uns stört und wie sich unser Leben verbessern ließe. Würden wir doch nur ein bisschen mehr Geld verdienen, dann wäre der Alltag so viel leichter! Hätten wir doch nur ein Haus am Stadtrand statt der Wohnung mit den lauten Nachbarn, dann könnten wir endlich in Ruhe meditieren! Und wäre doch unser Partner ein wenig spiritueller, dann könnten wir mit ihm praktizieren und wären der Erleuchtung schon einen großen Schritt näher. Hätten wir doch nur … Setz ein, was du möchtest.

Auch bei der Arbeit drehen sich Besprechungen und Flurfunk sehr häufig um Schwierigkeiten, nur selten um die angenehmen Erfahrungen, die genauso zum Arbeitstag gehören. Wenn wir am Abend nach Hause kommen, erzählen wir von Komplikationen bei einem schwierigen Projekt und von Reibereien mit dem Chef oder Kollegen, nicht von dem verlässlichen Menschen, mit dem wir ein Büro teilen, oder der freundlichen Kundin vom Vormittag. Und danach schauen wir uns die Probleme der Welt in den Nachrichten an.

Während wir unseren Mangel kultivieren, übersehen wir, was wir schon alles haben: Etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf, Kleidung und Medizin – mehr materielle Dinge benötigt der Mensch nicht, hat der Buddha gelehrt. Wir haben also bereits mehr, als wir brauchen.

Wechseln wir einmal die Perspektive, sehen wir vieles, wofür wir dankbar sein können. Wir sehen die Möglichkeiten, die unser Körper uns bietet, auch wenn er vielleicht nicht frei von Unpässlichkeiten oder Krankheiten ist. Wir sehen die Menschen, die uns nah sind und auf die wir uns verlassen können. Wir sehen, dass wir die Chance haben, das Dhamma zu praktizieren. Wie viele Menschen auf der Erde haben diese Möglichkeit nicht, weil sie täglich ums Überleben kämpfen müssen! Du tust dir selbst einen großen Gefallen, wenn du für all das Gute in deinem Leben mehr Wertschätzung entwickelst.

Ich selbst war einmal aufgrund einer schweren Krankheit für kurze Zeit völlig auf fremde Hilfe angewiesen. Geblieben ist ein Grundgefühl der Wertschätzung für alle jetzt wieder intakten Funktionen meines Körpers. Ich erlebe sie seit jener Zeit bewusster und nehme sie nicht mehr als Selbstverständlichkeit wahr, sondern als ein großes Geschenk.

Die erste Ebene der Freude: Sinnesfreuden

Deine Lieblingsmusik, ein Ausflug mit deiner Familie oder Freunden, ein Stück Kuchen: Die sinnlichen Freuden des Alltags werden deine Probleme zwar nicht lösen, aber Freuden sind sie dennoch. Auch sinnliche Freuden sind Freuden.Sie können dir durchaus helfen, mehr Leichtigkeit in dein Leben und deine spirituelle Praxis zu bringen, dich aus dem Diktat der Gedanken zu lösen und dich angesichts der alltäglichen Herausforderungen auszubalancieren. Dies wird umso nachhaltiger möglich sein, je feiner die Sinnesfreuden sind: Blumen und Kerzen in der dunklen Jahreszeit, Spaziergänge in der Natur und klassische Musik können zum Beispiel sehr wohltuend sein.

Sinnesfreuden sind allerdings immer abhängig von äußeren Umständen und körperlichen Bedingungen. Sie sind außerdem meist rasch vergänglich und können deinen Geist fesseln: Du möchtest dann nicht mehr von ihnen lassen und richtest dich ganz auf die Sinnesfreuden aus. So bindest du dich an vergängliche Formen und schaffst damit Dukkha.

Die zweite Ebene: Gebefreude, Mitfreude, Tugendfreude

Sofern sie dich beruhigen und dich für andere Dimensionen des Erlebens öffnen, können Sinnesfreuden dir den Zugang zu feineren Ebenen der Freude erleichtern. Das gilt insbesondere, wenn du sie mit anderen teilst.

Gebefreude, Mitfreude, Freude an der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und an tugendhaftem Verhalten – alle diese Formen der Freude beruhen auf Interesse für andere und verbinden dich mit ihnen. Gebefreude und Mitfreude verbinden dich mit anderen.Gebefreude löst aus dem Kreisen um sich selbst und führt gleichzeitig zu mehr Einklang auf tieferen Ebenen. Mitfreude wurzelt in Wertschätzung und Anerkennung und führt zu Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Zudem inspiriert sie alle Beteiligten dazu, weiter Gutes zu tun.

Tugendhaftes Verhalten führt zu Freude, unter anderem weil du dich mit anderen verbindest, ohne dich dabei zu verwickeln.

Auch die Entdeckung eines für dich gangbaren spirituellen Weges kann Freude hervorrufen. In unserem Meditationszentrum sehe ich viele Menschen, die ernsthaft und inspiriert das Dhamma praktizieren. Ich sehe, wie sich solche Menschen entwickeln und wie sie wachsen, und empfinde Freude darüber. Ich erlebe Mitfreude mit denen, die sich nun leichter ausbalancieren können, Mitfreude mit denen, die eine Zuflucht gefunden haben, und Mitfreude mit mir selbst, weil ich erleben darf, dass der Same meines Wirkens langsam aufgeht.

Die dritte Ebene: Freude in der Meditation

Ein offenes, freudiges Herz ist bereit für die Meditation. Jetzt ist es dem Geist möglich, sich zu sammeln. Ein gesammelter Geist hat die Kraft, in eine völlig neue Dimension der Wahrnehmung einzutreten. Möglicherweise erlebst du schrittweise die meditativen Vertiefungen (Pali: jhana): Entzücken, Freude, Zufriedenheit und Erfülltheit. So erkennst du, welche Freude in dir liegt. Um sie zu empfinden musst du nichts weiter tun, als deinen Geist zu sammeln und dich dem Atem hinzugeben. Dein Erleben der Freude ist nun weniger von äußeren Faktoren abhängig. Dieses Erleben wird dich inspirieren und große Kräfte in dir freisetzen.

Die vierte Ebene: Freude der Einsicht

Ein Geist, der durch Meditation gestärkt und stabilisiert wurde, kann Erfahrungen in ihrer ganzen Tiefe erfassen und bis in die feinsten Feinheiten durchschauen. Auf dieser Ebene beobachtest du körperliche und geistige Prozesse, siehst, wie sie entstehen und vergehen. Du erlebst Begrenztes und Vergängliches und erahnst Größeres. Vergängliches zu durchschauen ermöglicht, Unvergängliches zu erkennen. Unvergängliches zu erkennen bedeutet höchste Freude.

Fassen wir zusammen: Am Anfang, wenn du dich für Freude zu interessieren beginnst, suchst du nach etwas, das dir Freude bereiten kann. Mehr und mehr vermagst du Freude zu erleben, die unabhängig ist von den Bedingungen der Außenwelt. Zu erkennen, wer du wirklich bist, ist die höchste Freude.Du lernst, die Identifikation mit dem Körper und mit geistigen Erscheinungen zu durchschauen und aufzugeben. Jedes Auflösen von Identifikation ist verbunden mit einem Zuwachs an Weite, Erfüllung und Freude. Du verstehst immer besser, wer du wirklich bist.

Mitgefühl mit sich selbst entwickeln

Dich auf Freude auszurichten bedeutet nicht, Schwierigkeiten aus dem Blick zu verlieren. Ganz im Gegenteil: Die Freude wird Kräfte in dir freisetzen. Auf diese Weise gestärkt, kannst du dich deinen Verletzungen und deiner Verletzlichkeit liebevoll zuwenden.

Damit eröffnest du dir einen Zugang zu einer weiteren unerschöpflichen Kraftquelle: dem Mitgefühl mit dir selbst. Manchen Menschen fällt es relativ leicht, sich auf andere einzulassen und fürsorglich mit ihnen umzugehen. Mütter sorgen für ihre Kinder, Partner kümmern sich umeinander, Kollegen unterstützen sich gegenseitig am Arbeitsplatz. Wenn dir eine Freundin am Telefon von ihren Problemen in ihrer Beziehung, mit ihren Kindern oder bei der Arbeit berichtet, fällt es dir nicht schwer, ihr eine Stunde lang aufmerksam zuzuhören und ganz für sie da zu sein. Aber kannst du dir selbst genauso liebevoll zuhören?

Sich berühren lassen

Für viele Menschen ist es schwer, sich selbst nahe zu sein. Geduldig mit sich umzugehen, das eigene Weinen und die eigenen Unzulänglichkeiten auszuhalten. Sich keine Vorwürfe zu machen und sich von ganzem Herzen Gutes zu Mitleid ist eine Haltung der Schwäche, Mitgefühl ist eine Haltung der Stärke.wünschen und einen guten Rat zu geben. Manche buddhistischen Schriften bezeichnen Mitgefühl als »Zärtlichkeit des Herzens im Angesicht des Leidens«. Dabei darf Mitgefühl nicht mit Mitleid verwechselt werden. In dem Wort Mitleid verbirgt sich das Wort Leiden: Wir leiden mit, das heißt am Ende leiden zwei Menschen. Niemandem ist damit gedient, wenn zum Schluss am Telefon beide weinen. Das mag zwischendurch Vorkommen, aber es ist wichtig, nicht dabei stehen zu bleiben. Mitgefühl ist etwas völlig anderes als Mitleid: Es ist eine kraftvolle, fürsorgliche Haltung. Mitgefühl richtet sich aus an der Frage: »Was wird gebraucht, was kann ich tun?«

Im Umgang mit dir selbst ist es genauso: Es nutzt dir nichts, wenn du über deine eigenen Schwierigkeiten immer nur jammerst. Selbstmitleid führt dich in die Schwermut, möglicherweise sogar in eine Depression. Mitgefühl mit dir selbst tut dir gut und bringt dich in Verbindung mit deiner Stärke. Es hilft dir, heilsam zu handeln, statt dich von deinen Schwierigkeiten und negativen Gefühlen beherrschen zu lassen.

In Verbindung gehen

Im ersten Moment hört sich das vielleicht trotzdem seltsam an: Mitgefühl und Fürsorglichkeit für sich selbst. Drehen wir uns damit nicht vielleicht zu sehr um uns selbst? Nähren wir damit eine egoistische Haltung? Wir alle kennen vermutlich Menschen, die sich vor allem um sich selbst kümmern, andere und deren Bedürfnisse kaum wahrnehmen – und dabei stehen bleiben. Dieses egoistische Verhalten ist aber etwas völlig anderes als Mitgefühl mit sich selbst.

 

Egoismus stärkt immer Abgrenzung und Distanz. Ein egoistischer Mensch stellt sich selbst in den Mittelpunkt und teilt die Welt auf: Hier bin ich – dort sind die anderen. Dies sind meine Freunde – das sind meine Feinde. Wenn der Egoismus hohe Wellen schlägt, entstehen sehr unangenehme Situationen. Das Ego sucht ständig Reibung, bewertet andere und sich selbst. Es missachtet andere und will sich über sie erheben. Und weil es uns so in die Trennung manövriert, entsteht Dukkha.

Mitgefühl ist das genaue Gegenteil: Es ist nie auf Distanz ausgerichtet, Das Ego führt uns ins Unglück, Mitgefühl ins Glück.sondern auf Verbindung, und es ist nie verletzend. Es bleibt unberührt vom Ego und führt darum nicht zu Dukkha. Stattdessen löst es Dukkha auf. Das Ego führt uns ins Unglück, Mitgefühl ins Glück.

Mitgefühl bedeutet, sich berühren lassen von Leid und von Schwierigkeiten, ohne darin zu ertrinken. Es lässt uns Anteil nehmen, und wir sind dabei innerlich aktiv und in Verbindung mit unserer Kraft: »Was wird gebraucht, was kann ich tun?« Diese Frage des Mitgefühls können wir in so vielen Situationen stellen: »Was braucht die Freundin am Telefon, der Arbeitskollege, der genervte Busfahrer? Was brauchen die Menschen in dieser Stadt, in ärmeren Ländern, in Krisengebieten?« Aber eben auch: »Was brauche ich in diesem Moment? Wie kann ich mir helfen im Stress, den mir mein übervoller Terminkalender bereitet? Was kann ich für mich tun angesichts meiner Angst oder meiner Einsamkeit?«

Alte Muster durchschauen

Unser Ziel ist, unsere Schwierigkeiten zu verstehen und aufzulösen. Das ist nur möglich, wenn wir die Ursachen dieser Schwierigkeiten erkennen. Das wiederum können wir nur, indem wir in uns hineinschauen, ohne unsere Fehler und unangenehmen Gefühle auszublenden oder zu verurteilen. Mitgefühl ermöglicht uns diesen offenen Blick nach innen.

Am Anfang wird uns der Blick in unsere Abgründe nicht leichtfallen. Wir weichen ihnen häufig aus und fügen uns zugleich selbst neuen Schmerz zu. Wie oft gehen wir hart mit uns ins Gericht und empfinden nur wenig Selbstwertgefühl! Wir denken: »Mit mir stimmt etwas nicht.« Vielleicht geht es dir auch so: Du hast von bestimmten Meditationserlebnissen gehört, den meditativen Vertiefungen, aber du hast sie noch nie erlebt, obwohl du schon lange meditierst. Und du denkst: »Das ist meine Schuld, die anderen können das alle.« Oder du siehst Menschen, die anscheinend voller Güte und Mitgefühl durchs Leben gehen, und hast fälschlicherweise den Eindruck, dass du dazu nie in der Lage sein wirst. Die anderen, denkst du, haben eben mehr Talent. Und schon wieder fällst du in ein tiefes Loch.

Wenn du als Kind wenig Fürsorge erlebt hast, können sich solche Muster tief eingebrannt haben. Dieses Gefühl »Mit mir stimmt etwas nicht« oder »Ich bin nicht gut genug« kann dich dein ganzes Leben lang begleiten und besetzt halten, ohne dass es dir bewusst ist. Dann wirst du vielleicht enorm viel Kraft in deinen Job investieren, Karriere machen und Geld verdienen. Oder du versuchst ständig, es anderen recht zu machen, ein »liebes Mädchen« oder ein »lieber Junge« zu sein. Wo du auch bist, du fragst dich unbewusst: »Was sind hier die erwünschten Verhaltensweisen?« Und du versuchst, dich ihnen anzupassen.

Vielleicht opferst du dich auf für andere, übst einen helfenden Beruf aus. Du arbeitest Tag und Nacht und schreibst deine Überstunden nicht auf. Andere Menschen mögen dich und schätzen dich. Aber wirst du satt? Wenn du genau hinschaust, wirst du feststellen: Du strengst dich ungeheuer an, aber der Hunger nach Anerkennung ist auf diesem Weg nie zu stillen.

Vielleicht hast du aber auch einen anderen Weg gewählt: Du verbirgst dich hinter einer Maske der Coolness, die du mit Stärke verwechselst. Du gehst scheinbar souverän durchs Leben. Nichts kann dir etwas anhaben, auch deine Missgeschicke nicht – da stehst du drüber. Aber hinter der Coolness stecken Unsicherheit und die Angst, andere könnten hinter die Maske schauen. Vielleicht darfst du auch selbst nicht dahinter schauen? Wenn du den Weg der Coolness gehst, fühlst du dich möglicherweise zu kühlen, abweisenden Menschen hingezogen, die nicht erlauben, dass du sie berührst. Und wieder hast du das vertraute Gefühl: »Ich bin nicht wert, dass man mich berührt.«

Viele Menschen erinnern sich an Momente ihres Lebens, die zu bestätigen scheinen, dass sie weniger wert sind als andere. Immer wieder erzählen wir uns innerlich Geschichten von Situationen, in denen wir Fehler gemacht und anderen Menschen Schwierigkeiten bereitet haben. Es sind Geschichten von egoistischen Taten und verpatzten Gelegenheiten, von missglückten Trennungen und vergessenen Geburtstagen.

Ich selbst habe zum Beispiel seit vielen Jahren die Stimme meiner Tochter im Ohr. Die Geschichte ist lange her; meine Tochter ist längst erwachsen und arbeitet als Ärztin in einer Klinik. Damals, als sie klein war, war ich ein junger Arzt. Ich verbrachte sehr viel Zeit in der Klinik und meiner Praxis – und viel zu wenig Zeit zu Hause bei meiner Familie. Und irgendwann einmal sagte meine Tochter traurig: »Bei Papa muss man krank sein oder schwanger – sonst hat er keine Zeit.« Dieser Satz hat sich mir tief eingebrannt. Damit verbunden ist das Gefühl: »Ich bin ein schlechter Vater.«

Wir erinnern uns also, wie wir Dukkha geschaffen haben, und daraus ist ein inneres Muster entstanden, Reduziere dich nicht auf deine Fehler und Schwächen.das uns immer wieder sagt: »Ich bin kein liebenswerter Mensch. Ich bin es nicht wert, dass ich Freude empfinde.« Stattdessen beschimpfen wir uns und entwickeln Schuldgefühle. Solche Muster laufen Tag für Tag in uns ab, ohne dass sie uns bewusst sind. Diese Muster kann man auch Konditionierung nennen, von lateinisch conditio, das bedeutet Bedingung. Mit anderen Worten: In der Vergangenheit sind Bedingungen geschaffen worden für unser Bild von uns selbst. Wir reduzieren uns auf unsere Fehler und Schwächen.

Mitgefühl entkräftet diese destruktiven Muster. Es schafft den Raum, sie bewusst zu erleben, und erzeugt die innere Wärme, die wir dafür benötigen. So können wir die innere Stimme durchschauen, die uns sagt: »Du bist ein schlechter Mensch.« Und endlich glauben wir ihr nicht mehr.

Als mein Vater starb, habe ich das sehr deutlich erfahren können. Ich befand mich gerade in einem Meditationsretreat. Ich wusste, dass es meinem Vater nicht gut ging, aber ich wusste nicht, dass er in diesen Tagen sterben würde. Und dann erhielt ich die Nachricht. Es war genau so gekommen, wie mein Vater und die Familie es nicht gewollt hatten. Wir hatten festgelegt: Keine Wiederbelebung, er soll so friedlich wie möglich sterben. Als Arzt weiß ich, welch gewaltsamer Akt der Versuch einer Wiederbelegung sein kann. Und was taten sie im Krankenhaus? Sie zerrten den 87-jährigen Menschen aus dem Bett und reanimierten ihn. Und ich war nicht da.

Dann kamen die Vorwürfe an mich selbst: »Wärst du dagewesen, wäre es nicht geschehen.« Und die innere Stimme, die mir sagte: »Du bist ein schlechter Sohn.« Solche Stimmen sind nicht unsere Freunde. Mitgefühl hilft, Konditionierungen zu erkennen.Mitgefühl mit uns selbst lässt uns in solchen Momenten durchschauen, was abläuft. Es stimmt zwar, wenn ich dabei gewesen wäre, dann hätten sie meinen Vater vermutlich nicht zu reanimieren versucht. Aber die innere Stimme, die mich beschimpfte, stammte aus einer anderen Quelle. Solche Stimmen entstehen aus alten Mustern, und es ist nicht hilfreich, ihnen zu glauben.

Mitgefühl hilft dir zu erkennen, wo Konditionierungen deinen Blick verengen und dich blockieren. Du siehst: Was du für die Wahrheit gehalten hast, ist nur eine Vorstellung im Geist. Du musst ihr nicht glauben. Endlich kannst du dir selbst liebevoll begegnen, dir nahe sein.

Zugang zum Mitgefühl

Um Mitgefühl zu entfalten, kannst du dir grundsätzliche Gemeinsamkeiten aller Menschen bewusst machen: Alle Menschen sind Alter, Krankheit und Tod unterworfen. Wir alle empfinden Angst vor Schmerz und Tod. Wir alle wünschen uns Sicherheit, Geborgenheit und ein erfülltes Leben und sehnen uns nach Nähe.

Versuche, deine Sehnsucht so häufig wie möglich zu spüren, und gib ihr Raum in dir. Sie ist ein wichtiger Zugang zum Mitgefühl mit dir selbst. Um ihn zu nutzen, braucht es einen Entschluss, der immer wieder erneuert werden muss. Wende dich dir selbst bewusst zu und sage dir: »Ich möchte mich um mich kümmern.«

Dein Körper kann dir dabei eine große Hilfe sein. Du kannst zum Beispiel beginnen, indem du deine Hand auf Herz oder Bauch legst. Ich selbst erlebe große Teile meines Tages mit meiner Hand auf meinem Bauch. Sie liegt dort fast immer – das ist ihr Platz. Wenn ich die Hand auf dem Bauch spüre, spüre ich auch alles andere besser.

Das Spüren beginnt mit dem Körper und kann sich von dort aus weiter vortasten zu den Emotionen. Ich spüre mich zärtlich, liebevoll. Der Bauch darf sein, wie er ist, auch wenn ich ihn vielleicht in anderen Momenten zu dick finde. Alles darf sein.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich im Bewusstsein mit einem persönlichen Wohlfühlort im Körper zu verbinden. Der Wohlfühlort ist ein Bereich deines Körpers, den du leicht und gerne spürst. Das kann in der Herzgegend sein oder im Bauch, in den Armen oder Beinen oder vielleicht in der Wirbelsäule. In schwierigen Situationen kannst du dich in deinem Wohlfühlort innerlich verankern. Das wird dich beruhigen und dir Sicherheit geben, sodass du besonnen handeln kannst.

Am besten machst du dich auf die Suche nach deinem Wohlfühlort, wenn es dir gut geht. So kannst du dich in Ruhe mit ihm vertraut machen und üben, mit ihm Verbindung aufzunehmen. In schwierigen Zeiten weißt du dann sofort, was du tun kannst. (Eine Anleitung, wie du deinen Wohlfühlort erspüren kannst, findest du auf Seite 186 ff.)

Körper und Emotionen sind eng miteinander verbunden. Häufig zeigen sich bestimmte Emotionen schneller als körperliche Empfindungen denn als bewusst wahrgenommene Emotionen. Das Herz rast, Der erste Schritt zum Mitgefühl: sich Dukkha bewusst zuwenden.die Hände sind kalt oder feucht, deine Schultern verspannen sich. Erst im nächsten Schritt erkennst du, dass ein unangenehmes Gefühl dahinter steckt. Versuche jetzt, es genauer zu spüren! Auf diese Weise wirst du vertraut mit deinen Gefühlen. Um dich zu spüren, musst du dich verlangsamen. Nimm dir Zeit und gönne dir Pausen. Und dann versuch, dir deiner Gefühle bewusst zu werden und sie für einen Moment einfach mal so sein zu lassen, wie sie gerade sind. Du wirst sofort spüren, dass dir das gut tut.

So bist du mit der Zeit auch gewappnet, immer schwierigere Gefühle zuzulassen. Mitgefühl bedeutet, dem Dukkha nicht auszuweichen. Mitgefühl für dich selbst beginnt also damit, dass du nicht ausweichst, wenn es weh tut. Auch dazu musst du dich immer wieder aktiv entschließen: »Wenn es das nächste Mal weh tut, dann lasse ich es zu.«

Die Versuchung auszuweichen ist groß. Unsere schnelllebige Zeit bietet uns viele Möglichkeiten, einfach zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen oder uns abzulenken. Schon spürst du das Dukkha nicht mehr und glaubst, es sei weg. Das ist es natürlich nicht! Es ist nur nicht mehr offenkundig und strahlt stattdessen im Verborgenen seine negative Kraft aus. Unbemerkt vergiftet es deine Lebensfreude und deine Klarheit.

Die Aufgabe besteht also darin, nicht so schnell auf das Dukkha verzichten zu wollen. Diese Formulierung mag provozierend wirken: auf Dukkha nicht verzichten wollen. Ist es nicht natürlich, dass wir Leid so schnell wie möglich hinter uns lassen möchten? Darauf nicht verzichten wollen – ist das nicht Masochismus?

Nein, es ist das genaue Gegenteil. Es ist der Zugang zum Mitgefühl. Ich sage nicht: »Lasst uns das Dukkha verstärken oder willentlich herbeiführen.« Ich sage: »Nicht vorschnell auf das vorhandene Dukkha verzichten wollen.« Indem du es spürst, annimmst und verstehst, kannst du es verwandeln und hinter dir lassen. Das ist das Feuer der Alchimisten, das Feuer, in dem Schrott zu Gold wird.