Die Kunst des Aufstands

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Die Kunst des Aufstands
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kritik & utopie ist die politische Edition im mandelbaum verlag.

Darin finden sich theoretische Entwürfe ebenso wie Reflexionen aktueller sozialer Bewegungen, Originalausgaben und auch Übersetzungen fremdsprachiger Texte, populäre Sachbücher sowie akademische und außeruniversitäre wissenschaftliche Arbeiten.

Nähere Informationen unter

www.kritikundutopie.net

Wilfried Metsch

DIE KUNST
DES AUFSTANDS

Studien zu Revolution, Guerilla und Weltkrieg bei Friedrich Engels und Karl Marx


eISBN 978-3-85476-705-3

© mandelbaum kritik & utopie, wien, berlin 2020

alle Rechte vorbehalten

Satz: Kevin Mitrega

Umschlag: Martin Birkner

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I: Die Kunst des Aufstands

II: Guerillakrieg

III: Friedrich Engels und der Erste Weltkrieg

»Nun ist der Aufstand eine Kunst« –

Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels

Vorwort

Politisch interessierte Menschen identifizieren nicht zu Unrecht die praktischen und theoretischen Aktivitäten von Karl Marx und Friedrich Engels anhand des Begriffs »Revolution« – also einer grundlegenden Veränderung der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen einer Gesellschaft. Ebenso impliziert dieser Revolutionsbegriff für viele, insbesondere für politische Gegner von Marx und Engels, den Inhalt von »Gewalt, Terror und Chaos«. Doch bei näherer Analyse wird man feststellen, dass bei ihnen weder eine dogmatische noch eine willkürliche Herangehensweise in Gewaltfragen vorliegt. Die Rolle der Gewalt in revolutionären Umgestaltungsprozessen ist bei Marx und Engels viel differenzierter ausgearbeitet, als weithin angenommen wird. Sie waren weder Pazifisten noch Gewaltapostel.

Revolutionen sind nach Marx und Engels wesentlich von ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Ursachen und Erscheinungsformen geprägt. Gewaltanwendung ist selbstredend ein Teilaspekt des Revolutionsprozesses. Da aber die Vernachlässigung der Rolle der Gewalt in gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen, in der Insurrektion, verheerende Folgen und Opfer für die Protagonisten und die revoltierenden Volksmassen zeitigen kann, fordern Marx und Engels, dass sich Revolutionäre unbedingt die »Kunst des Aufstandes«1 vorurteilsfrei und realistisch zu eigen machen müssen.

Insbesondere Engels stürzte sich in produktiver Arbeitsteilung mit Marx in umfangreiche militärische Studien, um die Umgestaltung der Gesellschaft – die Revolution – einerseits auf möglichst humane Weise ohne größeres Blutvergießen zu erreichen, anderseits aber auch, falls notwendig, für gewaltsame Auseinandersetzungen (Bürgerkrieg) gewappnet zu sein.

Im zweiten Teil unserer Abhandlung legen wir dar, wie Marx und Engels den asymmetrischen Befreiungskrieg, den revolutionären Volkskrieg/Guerillakrieg, gegen fremde Invasoren untersuchten und einschätzten. Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert in Europa sowie dem Engagement der beiden für entstehende sozialistische Parteien rückten jedoch Formen der proletarischen Machteroberung vermehrt ins Zentrum ihrer Analysen und Ratschläge.

Merkwürdigerweise – obwohl die Frage einer vielleicht notwendigen gewaltförmigen Machterlangung eine wesentliche strategische und taktische Herausforderung für die Arbeiterbewegung darstellt – untersuchte bisher niemand umfassend die militärischen Ansichten und Erkenntnisse zum gewaltförmigen Revolutionsprozess bei Marx und Engels. Vielmehr dominieren in der sozialistischen Arbeiterbewegung, wenn überhaupt, bruchstückhafte und oft massiv aus dem Zusammenhang gerissene und verzerrte Aussagen zur militärischen Seite der Arbeiterinsurrektion, um Marx und Engels für parteipolitische Ziele oder interne Flügelkämpfe zu vereinnahmen und damit die je eingeschlagene Strategie und Taktik zu »legitimieren«.

Beatrice Heuser versteht in ihrem lesenswerten Buch über »Rebellen, Partisanen, Guerilleros« eindeutig »unter ›Aufstand‹ in der Regel eine Erhebung gegen ein verhasstes Regime (…) Ein Aufstand ist eine besondere Form des Bürgerkrieges, vermutlich die am häufigsten vorkommende, bei der auf der einen Seite das herrschende Regime steht, mit all seinen Institutionen (Polizei, Militär, Justiz, Steuerwesen…) und seiner Macht (die in der Regel die internationale Anerkennung mit einschließt) und auf der anderen Seite eine Gruppe, die die Autorität des Regimes in Frage stellt (…) Aufstände sind somit asymmetrische Bürgerkriege, in der die eine Seite zunächst alle oben genannten Instrumente der Macht in der Hand hält, die andere Seite hingegen keine.«2

Zur Verdeutlichung des Begriffes »Asymmetrischer Krieg«, der heute in der Militärwissenschaft häufig für revolutionäre Kriegsformen/Gewalt benutzt wird, sollen hier wichtige Merkmale angeführt werden:

a)Es handelt sich um eine gewaltsame Auseinandersetzung zweier Kriegsparteien.

b)Eine Kriegspartei (die vorherrschende Macht) ist deutlich überlegen, ihr Widerpart deutlich unterlegen.

c)Die Überlegenheit bezieht sich auf militärisch relevante Faktoren wie qualitativ bessere Ausrüstung (Waffen, Ausbildung, Ressourcen usw.).

d)Die unterlegene Kriegspartei kann der Hochrüstung des Gegners nichts Vergleichbares entgegensetzen.

e)Die unterlegene Partei soll deswegen zunächst die direkte, offene Konfrontation (Schlacht) mit dem Gegner vermeiden (Kampfausweichung), um nicht vernichtet zu werden.

f)Die notwendige Schlachtvermeidung erfordert Raum zum Ausweichen/Rückzug, enorme Mobilität und/oder die Unsichtbarkeit der Kämpfer.

g)Ist dies nicht möglich, bleibt der unterlegenen Partei nur die statische Defensive (z. B. Barrikade). Das ist im Regelfall vorteilhafter für den hochgerüsteten Angreifer, da er die Initiative behält und den Gegner einkreisen kann.

h)Aufgrund der Ungleichmäßigkeit (Asymmetrie) der Kampfbedingungen dominieren deswegen bei den unterlegenen Kämpfern unkonventionelle und sogenannte unerlaubte Kriegsformen (Guerilla, Terror, Hinterhalt, …).

i)Das Untertauchen und Verschwinden der irregulären Kämpfer in der Bevölkerung verwischt zudem die Unterscheidbarkeit von Kombattanten und Zivilisten.

j)Die Kampfweise der qualitativ unterlegenen Kriegspartei ist damit gezwungenermaßen irregulär/unkonventionell (heimtückisch) und verletzt nach Ansicht der Herrschenden bestehende Kriegsnormen.

k)Deswegen wird diese Kriegführung irregulärer Kämpfer (Freischärler, Rebellen, Aufständische) von der Gegenseite als Banditentum klassifiziert.

Allerdings verschweigt Beatrice Heuser in ihrem Buch mit dem Untertitel »Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute« nicht nur die Erkenntnisse von Marx und Engels hinsichtlich des antikolonialen Befreiungskampfes,3 sondern auch die umfassenden Analysen und taktischen Empfehlungen von Marx und insbesondere Engels zu Erscheinungsformen, Abläufen und Erfolgsaussichten gewaltförmiger proletarischer Aufstände im asymmetrischen Bürgerkrieg. Diese zentrale Lücke bei Heuser über die Rolle der Gewalt in Machterlangungsprozessen bei Marx und Engels soll unser Beitrag schließen, denn im 19. Jahrhundert schwebt der asymmetrische Bürgerkrieg stets in und über den Köpfen der entstehenden Arbeiterbewegung. So verwundert es nicht, dass Marx und vor allem Engels sich mehr als vierzig Jahre lang mit der Rolle der Gewalt in proletarischen Machterlangungsprozessen auseinandersetzen. Jehuda L. Wallach ist uneingeschränkt zuzustimmen, wenn er schreibt, dass Engels »bahnbrechend« war für »das Konzept des Revolutionskrieges.«4 Allerdings unterscheidet er nicht präzise zwischen den verschiedenen Typen des asymmetrischen Krieges und vermengt deswegen die verschiedenen Kampfformen.

Aufgrund der zunehmenden Rolle des Militärs, insbesondere in Preußen, und neuer extremer Militärtechnologie beschäftigt sich Engels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bis zu seinem Ableben, intensiv mit Fragen revolutionärer Taktik – da gewaltförmige Auseinandersetzungen im Klassenkampf seitens der Herrschenden immer wieder drohten beziehungsweise stattfanden: Man denke nur an die blutige Niederwerfung der Pariser Kommune 1871. Im Deutschen Kaiserreich gab es 1878, 1890 und 1894 unter Bismarck wie Wilhelm II. ernsthafte Staatsstreicherwägungen der Armee gegen die »rote Gefahr«, wobei man auf den »Sonderstatus der bewaffneten Macht im Staate, repräsentiert in der Kommandogewalt des Monarchen, in der privilegierten Stellung des exklusiven Offizierskorps, in der Militärgerichtsbarkeit« baute.5

Das Nachdenken über die Kunst des Aufstands führt in Engels’ letzten Lebensjahren zu neuen und interessanten Erkenntnissen über Möglichkeiten der Arbeiterinsurrektion unter asymmetrischen Kampfbedingungen. Allerdings wollten damalige führende Sozialisten, insbesondere in Deutschland, diese Erkenntnisse nicht wahrnehmen oder konnten diese von den proletarischen Massen nicht wahrgenommen werden, da Engels’ Ansichten von der sozialdemokratischen Parteipresse massiv zensiert oder verschwiegen wurden. Auch die Geschichtsforschung hat sich bisher kaum mit der Frage der Ansichten des »alten« Engels zur Neujustierung revolutionärer Taktik, zu Bedingungen und Chancen eines proletarischen Aufstands beschäftigt. Die sowjetisch orientierte Engelsforschung machte um seine Erkenntnisse einen Bogen, da sie nicht so einfach mit der stets betonten herausragenden Bedeutung und Rolle der Arbeiterklasse in der Insurrektion sowie den späteren Aufstandsaktivitäten der Dritten Internationale (Rote Garden) in Einklang zu bringen waren. So finden sich z. B. in Juri Krassins »Theorie der sozialistischen Revolution« hierzu keine Ausführungen, und A. I. Babin verschweigt in seinem ansonsten ausgezeichneten Buch über »Die Herausbildung und Entwicklung der militärtheoretischen Ansichten von Friedrich Engels« wesentliche Äußerungen und Empfehlungen von Engels nach 1890 zu neuen Kampfbedingungen aufgrund eines veränderten Militärwesens, da dies die ideologisch verzerrte Darstellung der militärischen Seite der Oktoberrevolution durch die einschlägigen Handbücher der Dritten Internationale und deren fehlgeschlagene Aufstandspraxis in Frage gestellt hätte.

 

Zunächst wird in diesem Teil über die Kunst des proletarischen Aufstands bei Marx und Engels die Möglichkeit eines

a)gewaltfreien (friedlichen) Machteroberungsprozesses dargestellt.

Es folgt eine Analyse

b)frühproletarischer Aufstände

sowie

c)der Veränderung der Gewaltbedingungen zu Ende des Jahrhunderts.

Danach werden die

d)Bedingungen und Formen einer möglichen neuen revolutionären Taktik nach Engels umfassend beschrieben.

Abschließend sollen

e)außergewöhnliche Gewaltformen – Verschwörungen, Attentate, Terrorismus und deren Einschätzung bei Marx und Engels am Beispiel Russland und Irland – untersucht werden.

Anhand kurzer historische Exkurse zu geschichtlichen Neuzeitrevolutionen soll

f)der Realitätsgehalt der von Engels vorgeschlagenen revolutionären Taktik

überprüft werden.

Abschließend folgt ein kurzer Blick auf

g)neue staatliche Gewaltinstitutionen zur Aufstandsbekämpfung im 21. Jahrhundert, da sie als Reflex auf vergangene gewaltförmige proletarische Emanzipationsversuche zu verstehen sind.

Das Ziel der Abhandlung ist somit die systematische Rekonstruktion der Rolle der Gewalt im asymmetrischen, gewaltförmigen proletarischen Machterlangungsprozess bei Marx und insbesondere Engels, zumal bisher keine umfassende wissenschaftliche Untersuchung zur Kunst des Aufstands im internen gesellschaftlichen Konflikt vorliegt. Durch ausführliche Zitate und in systematisch-geordneter Weise wird die »Kunst des Aufstands« bei Marx und Engels rekonstruiert. Um einen uferlosen Text zu vermeiden, erfolgt eine Beschränkung auf typische Kernaussagen und Zitate der beiden Protagonisten des revolutionären Kampfes zu den jeweilig aufgeworfenen Fragestellungen.

Der Beitrag beschränkt sich hauptsächlich auf den Gewaltaspekt, die militärische Seite der sozialistischen Insurrektion, obwohl dies immer nur ein Teil eines komplexen Revolutionsprozesses ist. Die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Voraussetzungen und Bedingungen eines Arbeiteraufstands sind nicht Inhalt dieser Studie.

I
Die Kunst des Aufstands
Anmerkungen zum Charakter einer proletarischen Revolution

Bevor wir die Ansichten von Marx und Engels zum bewaffneten revolutionären Kampf näher analysieren, noch einige Anmerkungen zum Charakter proletarischer Revolutionen, wie die »Klassiker« sie sehen:

Ziel des politischen (Klassen-) Kampfes ist für Marx und Engels die »Eroberung der politischen Macht für und durch die Arbeiterklasse«,6 um die »vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation«7 zu bewerkstelligen. Eine sozialistische Revolution ist nur »möglich, wo mit der kapitalistischen Produktion das industrielle Proletariat wenigstens eine bedeutende Stellung in der Volksmasse einnimmt.«8 Der Typus der »Minoritätsrevolutionen«9 hat ausgedient: Die »Massen (müssen) selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten.«10

Aber bei antagonistischen Produktionsverhältnissen ist die »politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes«11 und »diese Gewalt, in ihrer organisierten Form, heißt Staat.«12 Im »Kommunistischen Manifest« findet sich eine klassische Definition von politischer Gewalt: »Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen.«13 Das 19. Jahrhundert bestätigt mit der Niederwerfung von Arbeiteraufständen, insbesondere nach der blutigen Zerschlagung der Pariser Kommune von 1871, den Unterdrückungscharakter der Staatsmacht. Proletarische Emanzipationsbestrebungen haben deswegen bei ihrem Versuch, die politische Macht zu erobern, mit gewaltförmigen Staatsreaktionen zu rechnen.

Andererseits hat die kapitalistische Produktionsweise als konstituierendes Merkmal den doppelt freien Lohnarbeiter zur Voraussetzung:

»Freie Arbeiter in dem Doppelsinn, daß weder sie selbst unmittelbar zu den Produktionsmitteln gehören, wie Sklaven, Leibeigene usw., noch auch die Produktionsmittel ihnen gehören, wie beim selbstwirtschaftenden Bauer usw., sie davon vielmehr frei, los und ledig sind.«14

Der Lohnarbeiter besitzt den Status eines nicht persönlich abhängigen, also autonomen juristischen Subjektes. In der klassisch bürgerlichen Gesellschafts- und Staatsform nehmen Kapitalisten und Arbeiter als Staatsbürger die Form gleichberechtigter politischer Individuen an, und diese formale Freiheit und Gleichheit verpuppt sich idealerweise in der rechtsstaatlich-parlamentarischen Republik. Unter spezifischen Bedingungen eröffnen sich somit auch Chancen für eine friedliche Umgestaltung der Gesellschaftsverhältnisse durch Inanspruchnahme des allgemeinen Stimmrechts.

Da aber »die kapitalistische Gesellschaft (…) mehr oder weniger durch die besondere geschichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt«15 ist, gibt es keinen Königsweg zur Eroberung der politischen Macht. So entspringen die »Bestrebungen und Tendenzen der Arbeiterklasse (…) den realen Bedingungen, in denen sie sich vorfindet.«16 »Wir haben nicht behauptet, daß die Wege, um zu diesem Ziel zu gelangen, überall dieselben seien.«17

Als verschiedene Wege werden in dieser Abhandlung untersucht:

–die Bedingungen der Möglichkeit einer friedlichen proletarischen Revolution

–der frühproletarische Aufstand in der bürgerlich-demokratischen Volksrevolution

–die sozialistische Arbeiterinsurrektion gegen eine an der Macht befindliche Bourgeoisie

–spezifische Gewaltoptionen in extrem autoritären Staatswesen und

–der antikoloniale/antiimperialistische Volksbefreiungskrieg in Form des Guerillakampfes (siehe II)

In gewaltförmigen Auseinandersetzungen spielen natürlich Fragen der Bewaffnung und Rüstung eine wichtige Rolle. Der kapitalistischen Produktionsweise ist eine ständige Veränderung und Revolutionierung der Technologie inhärent. Dies bedeutet, dass »die Fortschritte der Technik, sobald sie militärisch verwendbar und auch verwendet wurden, sofort Änderungen, ja Umwälzungen der Kampfweise fast gewaltsam erzwangen.«18 Proletarische Insurrektionsstrategien müssen daher sehr genau die waffentechnologischen Veränderungen und Bedingungen in ihr Revolutionskalkül einbeziehen.

Eine weitere wichtige Voraussetzung für erfolgreiches revolutionäres Handeln, insbesondere in Gewaltfragen, ist nach Marx und Engels eine konkrete, sachliche Einschätzung/Analyse a) der realen gesellschaftlichen Verhältnisse und b) der jeweiligen »Arbeiterklasse in jedem Stadium ihrer Entwicklung«.19

Ohne Berücksichtigung dieser Bedingungen ist das Scheitern vorprogrammiert. Energisch wendet sich Engels noch im hohen Alter gegen die Reduzierung und Verfälschung ihrer Theorie auf »eine Sammlung von Dogmen, die auswendig zu lernen und aufzusagen sind wie eine Beschwörungsformel oder ein katholisches Gebet.«20 Er beklagt, dass der »Marxismus zu einem Dogma verknöchert«21 oder dass »Passagen aus den Schriften und dem Briefwechsel von Marx in höchst widersprüchlicher Weise ausgelegt worden sind, genau so, als wären es Texte aus Klassikern oder aus dem Neuen Testament.«22 Stattdessen ist für Marx und Engels die konkrete Analyse gesellschaftlich-historischer Verhältnisse die notwendige Grundlage einer darauf aufbauenden Strategie/Taktik, und bei veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen ist die jeweilige politische Handlungsweise entsprechend zu modifizieren.

Ein grundlegender Erfahrungsprozess der sich herausbildenden Arbeiterklasse ist die Erkenntnis über die Asymmetrie der Herrschafts- und Gewaltverhältnisse: »Die da oben – wir da unten«. Die Kampf- und Aktionsbereitschaft der Arbeiterbewegung ist nur unter spezifischen Bedingungen gegeben, denn wenn »die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht«,23 entwickelt sich im Fortgang »der kapitalistischen Produktion (…) eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit, die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt.«24 Der »stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter«.25 Der alltägliche soziale Klassenkampf um Arbeitslohn und Arbeitsbedingungen, der gewerkschaftliche »Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit«,26 dieser »versteckt geführte Bürgerkrieg«27 erfordert nur ausnahmsweise die Anwendung »außerökonomischer, unmittelbarer Gewalt«28 seitens der Herrschenden.

Allerdings geht in ökonomischen, sozialen und politischen Krisenzeiten der kalte gewerkschaftliche Krieg immer schwanger mit seiner Verwandlung in den heißen, den »offene(n), blutige(n) Krieg«29 zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten. »Sobald der Klassenkampf im Bürgerkrieg auflodert«,30 gewinnt er eine spezifisch militärische Dimension, spielt die Gewalt eine dominierende Rolle. Die ökonomischen »Krisen (sind) einer der mächtigsten Hebel der politischen Umwälzung«; allerdings gilt genauso, »daß die rückkehrende Prosperität dann auch die Revolutionen knickt, und den Sieg der Reaktion begründet.«31

Ist die Phase des gewaltförmigen Kampfes eingetreten, gibt es »nur zwei entscheidende Mächte: die organisierte Staatsgewalt, die Armee, und die unorganisierte, elementare Gewalt der Volksmassen.«32

Ist der bewaffnete Kampf zur hauptsächlichen Kampfform geworden, muss er »militärisch gesehen«33 werden. Es gilt, die militärische Seite der Revolution zu analysieren und in Handlungsanweisungen umzusetzen. Insoweit treffen sich Marx, Engels und Louis-Auguste Blanqui, der in seinen »Instruktionen für den Aufstand« den Gewaltkonflikt ebenfalls »rein militärisch« abhandelt, um dem aufständischen Volk Hilfestellungen für den Kampf gegen das Militär zu geben.

Marx und Engels betonen zudem stets die herausragende Bedeutung einer selbstständigen Partei der Arbeiterklasse, die im Revolutionsprozess ihre Rolle als Avantgarde konsequent annehmen muss:

»Damit am Tag der Entscheidung das Proletariat stark genug ist zu siegen, ist es nötig – und das haben Marx und ich seit 1847 vertreten –, daß es eine besondere Partei bildet, getrennt von allen andern und ihnen entgegengesetzt, eine selbstbewußte Klassenpartei.«34 1894 schreibt er an Paul Larfague: »Um aber den Sieg zu sichern, um die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft zu zerstören, braucht ihr die aktive Unterstützung einer sozialistischen Partei, die stärker, zahlreicher, erprobter, bewußter ist als die, über die Ihr verfügt.«35

Das Ziel dieser Studie ist also die Darlegung der von Marx und Engels analysierten militärischen Dimension der Arbeiterinsurrektion, die als relativ eigenständige theoretische Sphäre mit ihren Regeln zu untersuchen ist.

Engels stürzt sich deswegen in umfassende militärische Studien, denn wenn »theoretisch klare Köpfe vorhanden sind«,36 welche der Arbeiterbewegung »vom militärischen Gesichtspunkt aus genau darstellen, was tubar und untubar ist«,37 kann »mancher Unsinn vermieden und der Prozeß wesentlich abgekürzt werden.«38 Sich erst in der Bürgerkriegssituation mit Fragen des bewaffneten Kampfes zu beschäftigen, ist nach Marx und Engels nicht nur verspätet, sondern auch unverantwortlich, denn theoretisch und praktisch ungewappnet einen Klassenkrieg zu führen, provoziert unnötig Opfer, Leid und Elend auf Seiten der Arbeiterklasse und der Bevölkerung.

 

Zeitlebens analysieren Marx und Engels Chancen und Risiken eines Aufstands der Arbeiterklassenbewegung. Mit großer Sorgfalt studieren sie alle Aufstände ihrer Zeit, registrieren die Veränderungen der Kampfbedingungen und modifizieren ihre Vorschläge und Direktiven zur gewaltsamen Eroberung der Macht; denn der »Aufstand (ist) eine Kunst«.39

Werfen wir zunächst einen Blick auf die Möglichkeit einer hauptsächlich gewaltfreien, friedlichen Machteroberung der Arbeiterklasse; auch diese Möglichkeit schließen Marx und Engels keineswegs aus.