Auf sie mit Idyll

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Happy bei »Happi-Happi«

Sie heißen »Futterluke«, »Brutzel-Baude«, »Bei Mampf-Fred« oder »Plocken-Otto«. Appetitanregend klingt das nicht, und doch sind die Imbissbuden des Landes gut besucht. Am Geruch, den sie üblicherweise weiträumig abstrahlen und ausdünsten, kann das auch nicht liegen – es sei denn, der Besucher liebte die Vorstellung, als nicht nur kurz mümmelndes, sondern ewig müffelndes Mufflon zu leben. Was macht die Grillstation attraktiv? Warum sieht man so viele Männer hartnäckig an der Imbissbude stehen? Was treibt sie an, wer treibt sie dorthin? Sind sie unbehaust? Werden sie von Einsamkeit ausgehöhlt, diesem bösen Tier, vor dem sie in die Geselligkeit der Frittenbude fliehen?

Vielleicht liegt die sirenenhafte Verlockungskraft der Bude aber im Gegenteil auch darin, dass sie nur ein ambulantes Zuhause bietet und nicht ein stationäres – in das so viele sich unbedacht selbst eingeliefert und abgekippt haben und aus dem sie, sobald die Erkenntnis ihrer Lage ihnen zuteil wurde, zu entweichen trachten? Nestflüchter sind viele unterwegs, vorwärts getrieben vom dringenden, oft lange aufgestauten Wunsch, dem allzu trauten Heim zu enteilen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. Und wie auch nicht? Der Bäcker bietet ein »Brot des Monats« an und hat ihm einen Namen gegeben: »Familienkruste«. Wer bei diesem bösen Wort mit F nicht Schrecken fühlt noch den Wunsch zu gehen, der fühlt nichts mehr, der hat es hinter sich. Familienkruste, das ist härter, als Kruppstahl je war oder sein könnte und gibt dem Menschen erst die Beine in die Hand.

Mancher flieht auch vor aggressiver kulinarischer Aufrüstung in die Einfachheit der Imbisswelt. Beim Kaufhallenhöker Rewe wird eine »Expedition Genuss« angedroht. Und was ist, wenn man einfach nur einkaufen möchte? Geht das noch, oder muss man dazu einen Tropenanzug anlegen? »Feine Welt« heißt »die neue Genuss-Marke« von Rewe; feilgehalten werden unter anderem Bio-Ravioli »für Besseresser«. Das klingt nicht nur nach antisozialer Kampfansage, das ist eine: »für Besseresser«. Da lassen ein paar gefüllte Nudeln die Muskeln spielen und führen sich auf wie die überdimensioniert dicken Autos Marke Omniprotz.

Die heiße Angeberluft kulinarischer Selbstaufblähung verströmt auch Jürgen Dollase. Was der einstige Krautrocker der Band Wallenstein für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über Küchenkultur und Kulinarik schreibt, endet noch stets als rhetorischer Krautwickel: »Es ist die reine Entmaterialisierung des Aromas, eine so leichte Textur, dass man von der Befreiung des Aromas von den Lasten der Textur reden könnte.« Könnte, wenn man wöllte; aber nicht jeder liebt Crème de Schwall – von der Jürgen Dollase genug für alle im Kopf hat. Da er ohne den Humus des Humors durchs Leben kommen muss, mündet seine Verbissenheitskulinarik in unfreiwillige Komik. In seinen Texten gibt Dollase der Welt Sprach- und Bedeutungsrätsel auf; als er allerdings im Januar 2010 in der FAZ »Grünkohls Lobgesang« anstimmte, lieferte er die Lösung gleich im ersten Satz mit: »Auf der Suche nach Ansatzpunkten für eine verbesserte Akzeptanz der regionalen und traditionellen Küche in Deutschland scheint es immer wieder ein fehlendes Glied zu geben.«

Nun weiß die Welt, was Jürgen quält,

Weil es Dollase immer fehlt.

Vor Grünkohl mit feinem Pinkel nimmt man gern Reißaus. Und landet, wenn man Pech hat, bei Johann Lafer. Im Verein mit der Porzellanfirma Villeroy & Boch heckte Lafer das Wortspiel »Essthetik« aus – mit »E« und Doppel-«s« – »Essthetik«. Allein dafür wird er dereinst in der Wortspielhölle schmoren und köcheln – langsam und qualvoll, versteht sich. Jedesmal, wenn ich den Werbeständer Lafer ein Schaufenster vollgrinsen sehe, fällt mir eine Liedzeile des Sängers Danny Dziuk ein:

»Und das Klo, zu dem ich kroch

War von Villeroy und Boch.«

Gibt es eine Kulinarik ohne geschwätzige Mitesser, ohne Prahlwerbung und ohne Sprachverrenkungen? Vielleicht in der freien Wildbahn, draußen, auf der Straße? Am Bahnhof liegt Angebot neben Angebot, eins am anderen, und sie alle verbinden sich zu einer olfaktorischen Kakophonie, die sämtliche mannigfach vorhandenen Schrecken der optischen, architektonischen und akustischen Vergehen noch steigert. Verschiedenste Gestänke brennen sich in die gequälten Nüstern; man sieht Nahrungsersatzstoffkonsumenten mit konvulsivisch zuckenden Bewegungen. Ob sie im Stehen oder Gehen etwas in ihren abgeknickten, vorn aufgeklappten Kopf hinein oder es schon wieder aus ihm herauswürgen oder sogar beides auf einmal, bleibt unersichtlich; geschmacklich macht es ohnehin keinen Unterschied.

So flieht man zu guter Letzt an die solitäre Bude, wo man die Welt schnell im Biss hat. Jahrelang war der »Happi-Happi-Grill« in Kassel mein Lieblingsimbiss; gern mischte ich mich unter die Besucherschaft und sah in vielen Gesichtern, was zu sehen ich erahnt hatte: das stille Glück, die Freuden der Regression, die erfüllte Sehnsucht nach einem Bewusstseinszustand, der mit den Worten Happi-Happi hinlänglich und zutreffend beschrieben ist.

Den »Happi-Happi-Grill« gibt es nicht mehr, und einen gleichwertigen Ersatz vermochte ich lange Zeit nicht zu finden. Eines Abends jedoch, als ich zu Fuß die Stadt Halle an der Saale durchmaß, sah ich ein Licht, nein: Ich sah DAS Licht, »I saw the Light«, wie Hank Williams es besang. Ich erkannte das Licht, es war eine Schrift, und die Schrift leuchtete durch das Dunkel der Welt: »don’t worry, be curry«.

Be happy bei happi-happi gab es nicht mehr, aber dieses war genauso gut: »don’t worry, be curry«. Es war ganz einfach: Man musste nur in den psychisch-seelisch-geistigen Bewusstseinszustand einer Currywurst gelangen, und schon war jede Sorge wie nie gehabt und nie gewesen. Ob man sich in diesen Zustand herab- oder heraufwurschteln musste, spielte keine Rolle, das war im Wortsinne wurst und nur eine Frage der Perspektive und der Selbsteinschätzung. Hauptsache, man kam dort an. Dann war alles gut.

Ich stand bei »don’t worry, be curry«, verzehrte eine Currywurst und wurde eins mit ihr. Ich sank ein in das Murmeln um mich her, niemand sprach zuviel oder zu laut, jeder war für sich, und alle zusammen waren eine Wolke auf Zeit. Imbissbude ist demokratisch und egalitär: Ob Mann oder Maus, hier bekommt jeder Flüchtling Asyl, hier darf jedes Würstchen Würstchen sein und Würstchen essen.

Man steht einfach nur da und muss nichts – nichts leisten, nichts tun, nichts sagen, nichts anhören. Es ist der Zustand der Seligkeit. Das absolut Verblüffende daran ist: Man muss dazu nicht einmal tot sein.

Mir fiel die massenmediale Inszenierung des Robert-Enke-Begräbnisses am 15. November 2009 ein. In welche Bereiche der Perversion möchte der »Öffentlichkeit« genannte, schamferne Dauerausverkaufshaufen aus Journaille und Publikum noch vordringen? Zunächst ging es ins Stadion, in die hannöversche »Mehr brutto, mehr netto«-Arena, direkt in die aggressive Depression, deren Hauptstadt Hannover ja schon lange vor Robert Enke war und es mit Repräsentationsgestalten wie den Scorpions, Heinz-Rudolf Kunze, Christian Wulff oder Lena auch zuverlässig bleibt.

Nach dem Freitod des Torhüters Enke am 10. November 2009 wurde auch die Frage laut: Darf man sich als Torwart einer Fußballnationalmannschaft eigentlich vor einen Regionalzug werfen? Ist das standesgemäß und ligagerecht?

Als »don’t worry, be curry«-Wurst oder -Wurstesser hat man solche Sorgen allerdings nicht.

Hätt‘ Robert Enke das gewusst

Er hätte nicht zum Zug gemusst:

Don’t worry, don’t worry, be curry

Don’t you worry, don’t you worry, just be curry

Von Schampelmännern und Bovisten
Eine Verneigung

Haben Sie es satt, Müller zu heißen, Meier oder Schulze? Möchten Sie nicht lieber ein filziger Milchling sein? Ein Flaschenstäubling? Ein grauer Wulstling? Ein striegeliger Rübling? Ein lila Dickfuß? Ein sparriger Schüppling? Ein Judasohr? Eine krause Glucke? Ein kegeliger Saftling? Eine Toten-Trompete? Ein duftender Leistling? Ein gemeiner Stinkschwindling? Oder ein niedliches Stockschwämmchen?

Dann müssen Sie nur auf Pilz umschulen und in den Wald ziehen, oder wenigstens in den Garten. Egal, was Sie vorher waren oder taten, Sie werden sich rasant verbessern und evolutionieren. Die Menschheit bildet Schwafelköpfe in Hülle und Fülle aus; als Pilz können Sie sich persönlich zum rauchblättrigen Schwefelkopf emanzipieren und damit auch noch den allgemeinen Fortschritt befördern. Haben Sie womöglich etwas bizarre sexuelle Neigungen? Kein Problem – als Riesenporling oder als Lacktrichterling werden Sie jede Menge Spaß bekommen, ohne gleich die Öffentlichkeit damit zu behelligen, die das schließlich nicht das Geringste angeht.

Die stille Zauberwelt der Pilze eröffnete sich mir im noch nicht schulpflichtigen Alter. Die kleinen Gnubbelmänner waren das Größte. Ohne mich zu schonen, drang ich in jede Schonung ein, kroch in jedes Dickicht, die Nase am duftenden Waldboden, zwischen Fichtennadeln, Buchenblättern oder im weichen Moos. Im Kindergarten hatte man uns etwas vom Paradies erzählt – hier war es. Pilze suchen war klasse; man musste keine blöden Sonntagssachen anziehen und durfte sich so schmutzig machen, wie man wollte. Es war ja für einen guten Zweck – nach einem Ausflug in den herbstlichen Wald sollte schon eine ordentliche Pilzmahlzeit zusammenkommen.

An der allerdings hatte ich keinen Anteil und beanspruchte auch keinen; essen wollte ich nichts von dem, was gefunden und im Pilzkorb gesammelt worden war, auf gar keinen Fall. Die einzigen Pilze, die ich zu dieser Zeit mochte, waren Champignons aus dem Glas oder aus der Dose. Warum nur? Sie hatten so gut wie gar keinen eigenen Geschmack. Der Kindermund war kulinarisch noch nicht entwickelt. Während die übrigen Familienmitglieder die selbstgesuchten, sorgsam geputzten und mit Butter, Knoblauch, Zwiebeln und Kräutern zubereiteten Pilze verspeisten, futterte ich glücklich gummige Schampelmänner aus der Büchse.

 

Plastikpilze als Lohn für frische Beute: Ich saß da wie ein Indianer, der die kostbarsten Felle und Pelze gegen dünne, schlecht gewebte Decken, bunte Glasperlen und anderen Plunder eintauschte. Das ging mir allerdings erst viel später auf, und vor allem wollte ich es ja so haben. Für den Abenteurer liegt der Zweck des Abenteuers allein im Abenteuer selbst. Er hat die Freude und das wilde Vergnügen, die Beute geht an andere. Den Reibach nehmen die Damen und Herren von der Rechenschieberfraktion wie selbstverständlich an sich, denn im Aufgehen kühlen Kalküls finden sie ihr Ergötzen an der Welt. Es kann die scheinbar naive, harmlose Pilzsuche dem Pilzsucher die Augen öffnen für jene Klassenverhältnisse, vor denen er doch, bewusst oder unbewusst, in die Wälder floh.

Mein Vater hatte den Ehrgeiz, jeden Pilz, den er als essbar klassifiziert hatte, anschließend auch tatsächlich zu essen. Ein gewisses Restrisiko nahm er dabei in Kauf; allerdings sollte für den Fall, dass er sich fatal geirrt haben könnte, nicht die gesamte Familie dahingerafft und ausgelöscht werden. Nur jeweils ein Eltern- und ein Kinderteil der Sippe durfte beziehungsweise musste sich über die gewagte Speise hermachen. So wurde auch der nackte Ritterling verspeist; Testesser waren mein Vater und mein älterer Bruder. Noch in derselben Nacht wand sich mein Vater in Leibschmerzen; deren Quell aber war, wie sich bald herausstellte, nur eine Entzündung des Blinddarms.

Was die Auffassung untermauerte, am Pilz selbst könne ja gar nichts Böses sein, denn der Pilz an sich ist gut. Wer in Knollenblätter-, Panther- oder Fliegenpilze hineinbeißt, kann nicht bei Trost sein. Das muss man doch nicht machen. Sichtbar giftig und wie geschminkt leuchten sie den Betrachter an und wispern wie der Wind in den Weiden:

»Ja komm her, dich meine ich,

komm zu mir, auf den Iss-mich-Strich …«

Auf englisch heißen die Giftlinge Toadstools: Krötenschemel. Wer ihren Einflüsterungen erliegt, dessen Leben ist allerdings keinen Pfifferling mehr wert. Für den wiederum gilt:

Der Pfifferling ist als Passion

eine kleine Sensation.

Die Archaik des Jagens und Sammelns geht ihrer Reize niemals verlustig; dieser Sucht hängt man ein Leben lang an. Mit geschärftem Pilzmesser und gleichfalls scharf gestelltem Pilzblick zieht der Suchende aus. Übermütig ruft er:

»Wo bist du,

Bovist du?«

– und setzt, weil der Bovist mal wieder stumm bleibt, sogar noch nach: »Schlagt die Bovisten, wo ihr sie trefft!« Sein Glück will der Waldgänger machen und also frohgemut nachschauen, ob Gott ihm seine rechte Gunst erweist, wie es im Lied heißt. Das Glück des durch die Natur hirschelnden Wanderers ist vielgestaltig, doch seine höchste Form ist das Auffinden des Steinpilzes. Herrenpilz mag ich ihn nicht nennen, das klingt wie von Herrenmenschen erdacht; unzweifelhaft aber ist der Steinpilz der König des Waldes. Boletus edulis ist sein lateinischer Name, die Verehrer dieser Majestät sind folgerichtig die Boletarier. Dass sie sich vereinen, kommt nur in Ausnahmefällen vor. In der Regel belauern sie einander mit scheelen Blicken und einer prall gefüllten Gallenblase im Herzen.

Freund Vincent Klink und ich durchstreiften ein Steinpilzrevier nahe Stuttgart, das sich schon oft von einer großzügigen, ergiebigen Seite gezeigt hatte. Auch diesmal wurden wir fündig. Wer den Steinpilz erblickt, den durchzuckt ein Freudestrahl, und er wird selbst zum Glückspilz. Wir knieten nieder; anders als kniend, hockend oder sich bückend ist dem Pilz nicht beizukommen, das hat er sauber eingefädelt. Hinter uns knackte der Wald, jäh trat ein Mann aus dem Dickicht. Er war groß, trug Funktionskleidung und eine Kiepe auf dem Rücken. Ein finsterer, missbilligender Ausdruck lag auf seinem Gesicht, das unheilvoll schimmerte wie die dunkle Seite des Mondes. Vor uns stand ein Pilzprofi – keiner, der mit dem Steinpilz tanzt, sondern das Erwerbsboletariat in seiner reinen Erscheinungsform.

Der Mann zog demonstrativ ein großes Messer, schaute herrisch auf die Pilze und sagte etwas in einem Argot mit turbokroatischer Anmutung. Wollte der im Ernst wegen einiger Pilze Krieg anfangen? Wir waren immerhin zu zweien, aber dass Hauen und Stechen nicht unser Metier ist, sah er uns wohl an. Die Steinpilze, vor denen wir uns niedergelassen hatten, nahmen wir noch mit; dann überließen wir das Terrain dem düsteren Messerling. Wir tauften ihn Herrn Grabschitsch; sein Gebaren lehrte uns, dass die Geschichte des Amselfeldes neu geschrieben werden muss. Wenn sich die Liebe zum Pilz in Beutegier wandelt, wird der Mensch zur Bestie.

Noch andere Feinde hat der Pilzfreund: Maden, Schnecken und Rentner. Was an manchen Tagen durch die Wälder pensionärt, ist schier nicht auszuhalten. Schneckenfallen gibt es – warum keine Rentnerfallen? Oder sind die Reisebusse, in denen ruhelose Senioren wie eingedost durch die Welt gekarrt werden, in Wahrheit mobile Rentnerklappen? Dann aber bitte nicht am Waldrand öffnen und die zwar von Hinfälligkeit geplagte, aber umso heftiger zu allem entschlossene, aufgestachelte Meute auf wehrlose Pilze loslassen. Schweigsame Pilze sind nichts für Gruppentruppen, Nordic Walker oder andere Geräuschlinge und Ächzebolde. Sie sind magische, poetisch inspirierende Wesen, zaub’rische Repräsentanten einer anderen, älteren Welt, die nur betreten soll, wer dabei Umsicht und Liebe walten lässt.

»Boviste und Planeten,

Das Schicksal der Poeten …«,

heißt es in Peter Hacks’ Gedicht »Du sollst mir nichts verweigern«. Als größter Pilzdichter dürfte Michael Rudolf gelten, der im Februar 2007 aus dem Leben in die ewigen Pilzjagdgründe gegangene Thüringer Schriftsteller, der alles über Vielfalt und Eigensinn der Pilze wusste. Betrat er die rund um seine Heimatstadt Greiz gelegenen Wälder, eröffneten sich ihm Bilder wie aus russischen Märchen. 1998 gab er bei Haffmans den Pilz-Raben heraus, in dem Ernst Kahl den Garten Eden zeichnete: eine Wiese voller aufgerichteter phallischer Stinkmorcheln, von denen ein entkleidetes Weib, lustvoll sich setzend, Gebrauch macht. Während Achim Greser ein Bild der »Pilz-Selbsthilfegruppe Hanau« präsentierte und einen Fliegenpilz bekennen ließ: »Ich heiße Ulf und bin giftig.«

Drei Jahre später folgte bei Reclam Hexenei und Krötenstuhl. Ein wunderbarer Pilzführer, das Standardwerk über den Pilz als literarische Figur. So kenntnisreich wie hymnisch durchdrang und besang Michael Rudolf die Mysterien von Mycel und Fruchtkörper; das Buch ist die schiere Liebe.

So ist das, wenn man in die Pilze geht: Finden ist schön und ein großes Glück, aber nicht der Kern der Sache. Suchet, und ihr werdet suchen.

Füdliblutt

Wer in die Schweiz reist, lernt schöne neue Wörter kennen. Eine Schiebermütze heißt »Dächli-Chappe«; darüber nachsinnend, was das wiederum mit Dachpappe zu tun haben könnte, kann man schön albern einen halben Tag vertrödeln.

»Hät’s Lüüt ghaa?« fragte mich ein Freund am Tag nach meiner Lesung im Zürcher Kaufleuten. Was meinte er nur? Ob es geläutet hätte vielleicht? Ich verneinte, neinnein, niemand habe antelefoniert oder geklingelt – und begriff im selben Moment, dass er nach etwas ganz Anderem gefragt hatte: »Hat es Leute gehabt? War Publikum da?« Unter gemeinsamem Giggeln konnte ich meine Antwort korrigieren.

Als ich mit dem Essener Jazztrio »Spardosenterzett« in der Schweiz gastierte, gab es ähnliche Irritationen. Oft hörten wir in Zürich den Satz »’s isch keis Problem«; nach ein paar Tagen fragte mich der Kontrabassist, der mit Vornamen Kai heißt: »Sag mal – wieso ist hier eigentlich alles mein Problem?« In dem Fall konnte ich, der routinierte Schweizreisende, ihn beruhigen: »Das heißt bloß ›kein Problem‹, und wenn wir nach Bern fahren, bist du sowieso aus dem Schneider, da heißt ›kein Problem‹ nämlich ›kes Problem‹. Aber nicht dass du dann denkst, die hätten da ein Käseproblem.«

Witze von Deutschen über die Schweizer Mundart sind in der Schweiz unerwünscht. Wer es irrtümlicherweise für originell hält, den Schweizer Franken »Fränkchli« zu nennen, erlebt ein ungeteiltes Vergnügen. Abgesehen davon, dass Geld in der Schweiz niemals niedlich ist, heißt es Franken oder »Stutz«, fertig.

Überhaupt erlegt man sich als Deutscher in der Schweiz besser Zurückhaltung auf. Komplimente über die Schweiz aus dem Mund von Deutschen sind nicht sehr beliebt und führen zu einer gewissen Reserviertheit. Man kann förmlich sehen, was in einem Schweizer nach der Schweizschwärmerei eines Deutschen vor sich geht: Aha, es gefällt ihm hier also. Hmmh – will er vielleicht bleiben? Sich am Ende sogar niederlassen? Sich einnisten? So war das mit der Gastfreundschaft aber nicht gemeint. Gast sein heißt schließlich, dass man wieder geht. Das sprichwörtliche Sprichwort sagt es ganz deutlich: Ein guter Gast ist niemals Last.

Trotzdem will ich die Schweiz loben, allein schon für das Wort »Cervelat-Promi«. So heißt in der Schweiz die öffentliche Belästigung, die in Deutschland »B-Prominenz« genannt wird: Cervelat-Promi, also Wurst-Promi. »Cervelat-Promi« sagt alles: Sie kamen, um zu nerven – und wurden zu Wurst. Und zwar zur schlechtesten von allen. Cervelat ist das, was in Deutschland Bregen- oder Brägenwurst genannt wird, weil darin auch Hirn verwurstet wird. Wenn ein »Cervelat-Promi« eine Cervelat kauft, trägt er anschließend mehr Gehirn in der Einkaufstasche als zwischen seinen Ohren spazieren.

Dass man in der Schweiz nicht bestraft, sondern noch nach alter Christensitte »gebusst« wird, wusste ich schon. Der Schweizer Zeitschrift natürlich leben verdanke ich tiefere Kenntnis. Unter der Überschrift »Nieder mit dem Mieder« berichtete das Blatt darüber, dass im Kanton Appenzell sogar Nacktwanderer gebusst werden. Mir waren bislang nur Nachtwanderer begegnet, und meines Wissens schrieb Goethe auch kein »Wanderers Nacktlied«. Nun aber las ich: »Fertig lustig. Wer füdliblutt meint wandern zu müssen, wird in Appenzell künftig gebusst.«

Das Wort »füdliblutt« war mir neu; es setzt sich zusammen aus »Füdli«, hochdeutsch »Hintern«, »Popo« oder schlicht »Arsch« und »blutt«: »bloß«, »blank«, »nackt«. »Füdliblutt« heißt also »nacktpöterig«, und das wäre ja auch ein schöner Name für einen Pilz: der samtene Nacktpöterich.

Nacktpöterig aber soll man im Kanton Appenzell nicht mehr ungestraft wandeln oder wandern. Es geht dabei wohl eher ums unbedeckte Vornerum, um die Scham, die man seit Adams Biss in Evas Apfel bedecken soll, auch im Wald.

Dies ist der Appenzeller Füdli-Schwur:

Wandern darfst du, doch bekleidet nur.