Zwischen Lust und Flammenschwert

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Cappuccino oder nur Milchkaffee?

"Ich soll bleiben, wo der Pfeffer wächst!" hat er gesagt. Fröhlich und beschwingt nahm Frau Raphael vom Frühstücksraum Besitz. "Und schauen Sie mal, was ich gefunden hab'!"

Sie schwenkte triumphierend ihre Scheckkarte.

"Hatte ich verkramt in den Tiefen meiner Handtasche. Und bei Karin hebt immer noch keiner ab. Dabei habe ich Karl vorgeflunkert, ich könne mit Karin für eine Woche auf so eine Art Alm im Gebirge fahren. Bleib' doch, wo der Pfeffer wächst, war seine einzige Antwort. Nix von Polizei und so, Suchaktion. Was geht in einem solchen Mann vor?"

Tiemann wehrte sich gegen Vermutungen, die in ihm aufkeimten. Aber das Wort "Nervensäge" hätte beinahe die Schleusentore seines Mundes passiert. Es fiel nicht nur der Zensur zum Opfer, sondern auch gewissen Irritationen. Verdammt, so unübel erschien ihm die Frau heute morgen gar nicht. Jetzt, wo sie Lebensfreude ausstrahlte, gelöst war, die Selbstvorwürfe, etwas ganz und gar Unerlaubtes, Skandalöses gewagt zu haben, sich verflüchtigt zu haben schienen, da konnte er sich gegen das Gefühl nicht wehren, diese Raphael sei erstens doch eine ganz sympathische und überdies gebildete Person. Und zweitens sei sie ihm vom lieben Gott oder einer Muse geschickt worden.

Wie hatte sein Verleger Kerkhoff gestern mahnend zu ihm gesagt: Tiemann, schreiben Sie mal was für die reifere Generation, für die Senioren. Das ist ein Marktsegment, dem wir uns in Zukunft verstärkt widmen müssen. Ein Drittel der Kunden in den Buchhandlungen, das haben Untersuchung zu Tage gefördert, sind Menschen jenseits der Lebensmitte, insbesondere Frauen. Und er hatte ihm noch entgegnet, dazu fiele ihm so schnell nichts ein.

Sollte er sich einlassen? Sollte er ....? Keine Recherche könnte so ergiebig, so echt, so prall sein wie das eigene Erleben.

Raphaela, der Erzengel, saß bei ihm am Frühstückstisch. Greifbar nahe. Und sprudelnd. Aber diese Haare! Trug man das heute so? Gekämmt ungekämmt? Ungekämmt gekämmt? Haare waren für Tiemann sehr wichtig. Ein äußerst erotisches Element. Oft war er schon viele schnelle Schritte hinter einer Frau hergelaufen, die wunderschöne lange oder kunstvoll geflochtene Haare hatte. Er wollte sie dann von vorn sehen; denn er glaubte, die Erfahrung gemacht zu haben, dass Frauen, die ihre Haare pflegen und schmücken, sehr dem Eros zugeneigt seien. Samtschleifen waren für Tiemann beinahe das, was für andere Reizwäsche bedeutete. Spangen wollte er öffnen, um herrliche Katarakte von langen, seidenglänzenden Haaren zu entfesseln. Wenn ich mal wegen eines sexuellen Übergriffs ins Gefängnis geworfen werde, hatte er sich immer wieder gesagt, dann, weil ich die Haare einer wildfremden Frau in der S-Bahn zu streicheln versucht habe. Halte an dich! musste er sich oftmals selber mahnen.

Aber Raphaelas Haare waren ihm ein Gräuel. Wie konnte man nur!

"Nun, wo fahren wir heute hin?"

Diesen Satz konnte er nicht selber geformt haben. Der platzte so aus ihm heraus, als hätte ihn ein anderer - vorgefertigt - ihm auf die Zunge gelegt. Musste er sich nicht eben noch zügeln, das Wort "Nervensäge" nicht zwischen seinen Lippen durchzischeln zu lassen? Und jetzt diese Einladung? Tiemann, weißt du, auf was du dich da einlässt?

Durch den Körper von Frau Raphael schoss ein Blitz, ein Energieschub. So muss das Aussehen, wenn jemand von sich sagt: Ich war wie neugeboren!

"Heißt das, dass Sie mich nicht in Memmingen rausschmeißen? Dass ich mit Ihnen weiterfahren darf?"

Tiemann nickte, ein wenig erschrocken vor seiner eigenen Courage. Jetzt hatte er einmal Ja gesagt, da gab es kein Zurück mehr. Kerckhoff, Ihr Roman!!! Die ersten beiden Kapitel sind schon so gut wie fertig.

"Und? Wohin?"

"Darf ich unbescheiden sein? Dann - Italien! Toscana! Florenz! Siena!" Danach folgte ein Schwall italienischer Sätze, schwärmerische Begeisterung.

"Okay, dann zahlen wir und ab geht's!"

Tiemann studierte das Weib an seiner Seite; denn inzwischen war es Weib geworden. Nicht mehr die verhuschte Frau von gestern morgen. Das Wrack auf dem Rastplatz. Die Verzweifelte. Die von ihrer für sie bis dahin unvorstellbaren Freveltat Gezeichnete: Spontan in das Auto eines Fremden einsteigen und abhauen. Mit nichts als einer Einkaufstasche. Auf dem Weg zum ALDI oder Tengelmann ausbrechen. Mit dem Ziel der Ziellosigkeit. Raus aus dem Dasein der Strümpfestopferin, der Büglerin, der Kartoffelschälerin, der ALDI-Kundin. Der Britta-Gedemütigten, die vor dem Spiegel ihre erschlaffenden Brüste hochhebt. Jugend, Liebe, Wollust vorbei, vorbei, vorbei. Nur noch abwaschen, staubsaugen, Schuhe putzen. Einmal die Woche zum Kegeln. Damenkränzchen schon lange nicht mehr; denn natürlich wussten alle von Britta. Warum lässt du dir das gefallen. Dieses Schwein. Wehre dich doch. Wenn das der meine wäre! kUnd jetzt: Auf Abenteuer! Statt Gemüseeinkauf direkt nach Würzburg. Mit 'nem Schriftsteller oder so ins Blaue. Nachtspaziergang an der Erms oder Iller. Frühstück mit Einladung nach Italien. Aber wo krieg' ich frische Unterwäsche her? Für ALDI und Tengelmann musste es ja nicht die beste sein. Gottseidank, wenigstens das Lucia-Kostüm. Aber pastellgrün schmutzt so leicht.

Tiemann phantasierte sich ganz schön tief in Seele und Alltag seiner Beifahrerin hinein, während draußen die sonnenreiche Allgäuer Landschaft vorbeiflitzte. Kurs: Bodensee!

"Wie haben Sie denn eigentlich Ihren Mann mal kennengelernt? Irgendwie muss er Ihnen doch damals imponiert haben?"

"Imponiert ist das richtige Wort. Ich sagte Ihnen ja schon, dass ich als Dolmetscherin viel auf Messen zum Standpersonal gehörte. Wann immer Italiener, Franzosen oder Spanier auftauchten, waren wir gefragt. Karl gehörte auch zum Standpersonal eines solchen Ausstellers. Wir waren beide jung und knusprig. Er sieben Jahre älter, spielte den weltgewandten Charmeur. So ist er zwar nicht in den Pool, aber auf mich hereingefallen. Oder ich auf ihn. Und wie das so geht ... Pille gab es damals noch nicht ... zack, war ich schwanger. Und das hieß damals wie selbstverständlich: heiraten. Wie sagt man doch: Zwanzig Sekunden Lust - zwanzig Jahre Frust. Na ja, ganz so schlimm war es nicht. Wir hatten schöne Jahre miteinander. Fast jedes Jahr eine tolle Reise, wobei ihm und mir natürlich meine Sprachkenntnisse zugute kamen. Wenn es die Kinder zuließen, habe ich auch nebenher in meinem Beruf gearbeitet. Aber wie es so ist: Irgendwann ist der Schmelz weg. Erst hatte ich Vermutungen, dann wurde Gewissheit draus, dass Karl mich betrügt. Anfangs hat mich das total fertiggemacht. Wenn die Kinder nicht gewesen wären, hätte ich mich scheiden lassen. Dann bin ich meine eigenen Wege gegangen."

"Eigene Wege?"

"Na ja, so kleine Racheakte. Wie du mir, so ich dir! Wie gesagt, ich war ja auch immer mal wieder unterwegs, in schönen Hotels, in bester Gesellschaft. Wenn man noch jünger ist, dann will man sich nicht so schnell damit abfinden, dass nichts mehr ist mit der Liebe. Erst habe ich mich sehr schwergetan mit dem Seitensprung. Habe tage- und nächtelang an meinem schlechten Gewissen gelitten. Noch dazu, weil es ziemlich schale Erlebnisse waren. Es gibt sehr wenige wirklich gute Liebhaber. Die meisten sind schweinische Egoisten. Vielleicht habe ich gestern spontan "Hannover" als Ziel genannt, weil ich dort mal einen wunderbaren Galan kennengelernt habe. Der hat mich eine ganze Nacht, einen herrlichen Tag und noch eine tolle Nacht in ein anderes Land entführt, von dem ich bis dato nichts, aber auch gar nichts ahnte. Danach habe ich auch diese Sprache gesprochen. Mein Pech: Er war Venezolaner. Und wir haben uns nie wiedergesehen. Keine Briefe. Keine Telefonate. Es war wie ein Märchen. Und erstmalig hatte ich überhaupt kein schlechtes Gewissen. Aber mit Karl lief danach gar nichts mehr. Für Würstchen mit Kartoffelsalat war ich nicht mehr zu haben."

Würstchen mit Kartoffelsalat. Wäre eigentlich ein guter Titel für den neuen Roman, sinnierte Tiemann vor sich hin. Raphaela - das hätte ich dir nicht zugetraut. Würstchen mit Kartoffelsalat.

"Und für was wären Sie zu haben - ich meine rein theoretisch? Die Formulierung gefällt mir. Was wäre denn das Gegenstück, sozusagen die venezolanische Feinschmeckerplatte?"

"Och Gott, Herr Tiemann, das war einmal. Das ist so lange her. Da spielt sich nichts mehr ab. Keine Austern, keine Spargelspitzen. Mir fällt dazu wirklich nichts mehr ein. Vielleicht ist das bei Frauen anders als bei Männern. Irgendwann ist der Tisch abgegessen, das Geschirr gespült und das war's dann. Man weiß sich zu beherrschen. Was bringt es schon, wenn einem köstliche Düfte durch die Nase ziehen, aber die Teller werden von den Jüngeren abgeschleckt. Da bleibt nichts als Trauer. Ich muss mich ja schon hüten, einen Cappuccino zu bestellen!"

"Wie das?"

"Ach, na ja, Sie lassen sich hier eine Sünde nach der anderen von mir beichten, und von Ihnen weiß ich so gut wie nichts. Na ja, der Cappuccino. Das war ein lustiger Italiener. Amore, amore, amore. Auch so ein Leckermäulchen - und dann, wenn die Tasse leer ist, arrividerci! Später hat er mir ein Gedicht geschickt, an meine Adresse zuhause. Wenn das mein Mann gelesen hätte! Irgendwo hab' ich es noch.

An der Landesgrenze durchlief beide ein mulmiges Gefühl! Der Beamte nahm den Ausweis von Frau Raphael mit in sein Glashaus. Es dauerte ziemlich lange, bis er wieder heraus kam und ihr wortlos das Ding zurückgab. Doch keine Vermisstenmeldung? Wann prüft man schon das Grenzdokument einer älteren Dame? In Begleitung eines älteren Herren?

"Übrigens - ich heiße Renate. Vielleicht sollten wir mal den Raphael begraben!"

Tiemann kam diese Geschichte zu sehr in Fahrt. Natürlich blieb ihm nichts anderes übrig als seinen Thomas zu offenbaren.

 

"Thomas Tiemann - Te-Te! Ein Namen wie ein Stabreim?"

"Ja, so zeichne ich meine Artikel, mit TT! Aber ich mag den Thomas nicht. Es geht auch mit Tiemann und du."

Was sollte sich schon noch aus dieser Story entwickeln? Ein untreuer Durchschnittsehemann, eine ebenfalls nicht treue Mama. Ein bisschen Cappuccino, Austern statt Würstchen mit Kartoffelsalat. Das gibt nicht allzuviel her. Auch nicht, wenn sich Frau Renate hintergründig lächelnd in Chur einen Cappuccino bestellt. Aus einem Nebenfach ihres Portemonnaies holte sie dann einen ziemlich abgegriffenen, tausendfach zerknitterten Zettel hervor:

Cappuccinodu wollüstiges Getränk!Geschlürft in der quirligen Lust der Piazza!Musik, Farben, Temperament sprühen wie Springbrunnen der Wonne!Begehrende Frauen mit wiegenden Schritten!Begehrliche Männer mit lüsternen Blicken!Alles flimmert - auch in mir flimmertungestillt Sehnsucht.Der weiße Schaum mit der verführerischen braunen Haube,wie die Knospe einer weißen Mädchenbrust, überzuckert –mit der zärtlich tastenden Zungenspitze genascht ....das Vorspiel erst!Dann gleitet die Zunge in die Tiefe des Alabastergefäßes,dorthin, wo die sanfte Bitternis unbeschreiblichen Genusses lockt ....weißer Schaum des süßen Verlangens quillt zwischenlüsternen Lippen, rinnt hinab in den hitzigen Schlund ....Niemand weiß, was ich fühle und sinne,während ich unschuldig, langsam, genussvollmeinen Cappuccino, seine lustvolle Süßein mich hineinschlürfeund irgendwo, in einer Orchideenschluchtüppiger Tau quillt.Cappuccino will ich sein für ihn, den Geliebten!Meine weißen, zarten Alabasterhaubenmit ihren braunen Gipfelnsoll er zuckern und wonnevollden Schnee zwischen seinen Lippen zerschmelzen lassen.Tiefer soll er seine Zunge in mein schönstes Gefäß hinabsenken.Er soll das süßherbe Getränk kosten bis zum letzten Tropfen!Aber mich nicht lechzen lassen!Auch ich will lustvollen Schaum -überzuckert mit zuckender Lust.Cappuccino!TT

Tiemann lächelte still in sich hinein.

"Dem müssen Sie - oder du, da kann ich mich noch nicht so schnell dran gewöhnen, also, da musst du ihm aber eine wirklich schöne Nacht geschenkt haben, wenn er so talentiert in die Tasten greift."

"Na ja, aber dann Arrividerci! Eben nur ein Cappuccino! Viel Schaum, etwas bittere Süße - und dann doch nur Milchkaffee!"

Frau Raphael verabschiedete sich zu einigen Einkäufen. Schließlich kann man ein pastellgrünes Lucia-Kostüm nicht eine Woche lang tragen. Und für da drunter musste Jelmoli wohl auch etwas parat haben.

Als sie sich wieder trafen, hatte Tiemann ein paar Buchhandlungen abgeklappert, hatte vergeblich nach seinen eigenen Büchern gefragt. Zuletzt konnte er nicht widerstehen, zwei kleine antiquarische Stiche "Durchquerung der wilden, tosenden Schlucht der Via Mala" zu kaufen. Für sein Hobby: Geschichte der Alpenübergänge.

Genoss er es eigentlich, endlich mal allein - ohne die Raphaelin - zu sein? Ja und nein. Ohne sie wäre er wahrscheinlich in irgendeinem Alpendorf hängengeblieben, faul, und er hätte gewartet, bis eine Kerckhoff-genehme Story wie eine Flaumfeder auf ihn herabgeschwebt wäre. So hatte er mit seiner gereiften Anhalterin eine Geschichte "wia aus dem richtig'n Leb'n".

Seine Siesta auf der Bank am Domplatz wurde dann auch jäh beendet von der fröhlichen Renate, bepackt mit drei prallen Kaufhaus-Tüten und der Erklärung, sie hätte ja auch Zahnpasta und Haarwaschmittel einkaufen müssen. Und so weiter.

Drei pralle Einkaufstüten voll? Hoffentlich hatte da drin auch ein Kamm Platz!

Bloß kein Doppelzimmer!

In Thusis hätte sie ihre Einkäufe wesentlich preiswerter erledigen können. Hier waren aus irgendwelchen Gründen die Schaufenster voll mit Occasions-Aufklebern. Parkplätze waren allerdings Mangelware.

So fuhren sie gleich weiter durch die tosende Schlucht der Via Mala und wurden von einer herrlichen Abendsonne im Schamsertal begrüßt, nachdem die steilen, furchterregenenden Felswände der Klamm den Blick freigegeben hatten.

Tiemann kannte diese Landschaft – wie er sagte – in- und auswendig und liebte sie über alles. So lenkte er sein Auto zum Erstaunen seiner Beifahrerin sofort in Richtung Zillis.

Ein absolutes MUSS! betonte er. Wer hier auf der Schnellstrasse vorbeidonnere, habe sich kulturell total und völlig disqualifiziert. Denn er könne entweder nicht lesen, habe in Kunstgeschichte eine Sechs (was in der Schweiz allerdings der deutschen Eins entspräche), hätte überdies keinerlei Phantasie, von religiöser Gesinnung einmal ganz abgesehen. Alpine Geschichte bliebe ja ohnehin immer mehr zugunsten banausenhaften Kilometerfressens auf der Strecke. Wer mache sich schon noch wirklich Gedanken darüber, was vor und nach einer Durchquerung dieser teuflischen Klamm in den überlebenden Menschen vor sich gegangen sein musste.

Renate Raphael hatte stumm dieser explosionsartigen Vorlesung ihres Chauffeurs gelauscht, wusste aber zuletzt immer noch nicht, was denn nun diesem kleinen malerischen Dörfchen Zillis zu seinem Ruhm verhelfen könnte.

Tiemann steuerte mit geradezu unziemlicher Geschwindigkeit den Parkplatz neben der Kirche an, stürzte Hals über Kopf aus dem Auto und auf die Kirchentür zu, ohne auf die etwas behäbigere Frau Raphael zu achten. Glücklicherweise gab die Klinke nach; denn im Inneren lauschte eine Gruppe den Erläuterungen eines Reiseleiters.

"Die Beleuchtung, die Beleuchtung, die Beleuchtung, das Abendlicht!" flüsterte der atemlose Tiemann und starrte ergriffen gegen die Decke. "Einzigartig auf der ganzen Welt! Fast original erhalten, diese 153 wunderschönen Bildtafeln, die ganze christliche Verkündigung vermischt mit den heidnischen Urängsten, das Alte und Neue Testament - eine Bilderfibel, meisterhaft, meisterhaft. Ach, was wussten sie damals doch über die Methodik des Lernens - angesichts der vielen Tausend Analphabeten und armen Teufel, die sich keine Bibel leisten konnten! Damals elfhundertundeinbisschen hatten sie mehr Ahnung vom multimedialen Lernen als die Vielschwätzer von heute!"

Kurzum - Tieman war hin und weg, wie man zu sagen pflegt. Und Renate bekam einen steifen Hals, weil sie ständig zur Decke schauen musste und sich nicht - wie Tiemann - längelang auf eine Kirchenbank zu strecken wagte.

Hier bleiben wir - entschied er diktatorisch. Womit er allerdings nicht das Kirchlein St. Martin meinte, sondern seinen Traumort, wie er sagte, das Dörfchen Zillis.

Das allerdings erwies sich als voreilig. Ein einziges Doppelzimmer hätte es im Gasthof noch gegeben, kein Einzel und auch keine Kammer. Die Privatpensionen auch voll, so dass sie nach Andeer weiterfahren mussten, einen Katzensprung, und trotz der für Deutsche hohen Hotelpreise mussten sie lange auf Herbergssuche gehen und fast mitleidige Blicke ernten, weil die Frau Gemahlin oder Lebensgefährtin partout in ein separates Zimmer abgeschoben werden sollte.

Liebesgeschichten oder erotische Romane landen irgendwann unweigerlich an einer Rezeption, wo es nur noch ein einziges Doppelzimmer gibt. Das wusste Tiemann nur zu genau. Gerade deshalb kam ihm die Situation absolut lachhaft vor, peinlich dumm, zumal er sich immer wieder dabei ertappte, dass sich diese Geschichte zwischen zwei so verschiedenen Menschen kaum für einen Roman eignen würde. Langweilig. Noch kein entzweiender Krach. Noch immer ein kleiner Vorrat an Harmonie. Die gelegentlich ausgelassene Fröhlichkeit seiner Beifahrerin, die das Ganze als eine Art verspäteten Jungmädchenstreich zu begreifen schien. Sie fand es einfach toll und schnieke (Ausdruck aus ihrer Jungmädelzeit), hinzufahren, wo der Pfeffer wächst, und angeblich mit Karin auf die Alm. "Da gibt's koa Sünd!" trällerte sie. Doch war er sich nicht mehr so ganz sicher, ob sie sich nicht doch so klammheimlich "so a Sünd'" wünschte.

Nein, brav bezogen sie ihre getrennten Zimmer. Er schmiss sich quer auf sein Bett und schlief sofort ein. Klopfen weckte ihn. Da war es schon dunkel geworden. Auf sein Herein konnte Frau Raphael einen kleinen ersten Eindruck gewinnen, was er mit Chaos meinte.

Chaos, belehrte er sie beim Röschti mit Ei, das ist Schlafen, wann man will, Aufstehen, wann man will, Essen was und wann man will, kein MUSS, sich was anzusehen (Zillis natürlich ausgenommen!), kein Waschzwang, Dreitagebart, spontan vom Wege abweichen, auch mal vom richtigen Wege - und sich an die Autobahn stellen, statt brav bei ALDI einzukaufen.

"Insofern bist du schon ganz schön chaos-verdächtig, Renate! Nur der Punktegewinn wird für das brave Kostüm wieder abgezogen!"

Er hatte Du gesagt. Ein chaotisches Du.

"Und dann noch was, liebes Mädel! (jetzt kam er so richtig in Fahrt, vielleicht machte das der Dole im Glas) Hast Du mal genau hingeschaut, was unter deiner Cappuccino-Orgie steht? Die du deinem italienischen Lustfreund zugeschrieben hast? Na, dann guck' doch mal!"

Ebenso schnell wie umständlich kramte sie das verknitterte Schriftstück heraus, faltete es ungläubig auf und ....

"Na und? Wie lauten die letzten Buchstaben?"

"TT. TeTe!"

"Und was sagt uns das? Etwa Tomasio Tantarello oder Tobias Tuttirolli?"

Die Raphaelin riss die Augen weit auf. Sie konnte es noch gar nicht glauben.

"Das steht für Thomas Tiemann! Diese Barcarole ist von mir - und dein italienischer Paparazzi hat sie fein säuberlich kopiert. Geschmack hat er ja, in jeder Beziehung, nicht nur, was Texte anbetrifft! Er muss eines jener Tiemann-Bücher besitzen, die ich in Chur im Buchladen vergeblich zu kaufen versuchte. So etwas führen wir nicht, sprach die christkatholische Bibliothekarin. Na ja, ein Katechismus ist das sicher nicht!"

Renate war platt. Ihr Vokabular für solche Knaller schien unterentwickelt. Als Twen der heutigen Zeit hätte sie "Echt geil!" oder "Affengeil", "Ätzend" oder so was ausgestoßen.

Später, während ihres ausgedehnten Nachtspazierganges, brach allerdings die angestaute Neugier durch, ob er wohl noch mehr solche Sachen? So Texte - Sie wissen schon!"

"Das will ich wohl meinen! Was glaubst du wohl, Renate Raphael, mit welchem Sittenstrolch und Dichterunhold du hier zwischen Schafgarbe und Brennesseln in fastdunkler Nacht unterwegs bist! Vielleicht waren die gläubig ergriffenen Blicke zur Bilderdecke nur Tarnung und das Lucia-Kostüm geht gleich in die Binsen?"

"Hunde, die bellen, beißen nicht!" setzte sie ihm entgegen.

"Was natürlich ein ganz und gar erlogenes Sprichwort ist. Sie können zwar während des Beißens nicht bellen und während des Bellens nicht beißen. Aber davor und danach würde ich Vorsicht walten lassen. Trau, schau, wem! würde ich eher empfehlen. Oder - was Renate betrifft - stille Wasser gründen tief!"

War das noch Flirt oder schon Anmache oder nur der Dole?

"Und verkauft sich das gut? Ich meine, solche erotischen Gedichte? Und wie kommt man darauf? Wozu soll das gut sein?“

"Wie kommt dein Papagalli darauf, dir eine Kopie meines Gedichtes zu schicken? Du hast ihm da sicher eine tolle Liebesnacht beschert. Jedenfalls schwärmt Papagalli alias Tiemann von der überzuckerten Mädchenbrust, von Orchideenschluchten und Alabastergefäßen. Kompliment! Da muss ja was gewesen sein, wo der olle Raphael zuhause, der seine Frau in den Pfeffer wünscht, nicht mithalten konnte. Oder auch Frau Papagalli nicht."

"Muss ich mich ja noch schämen!"

"Aber warum denn? Das ist doch die schönste Art von Dolmetschen, das Ewigweibliche dem Mann so toll rüberzubringen, dass er vor Wonne eine Lusthymne kopiert."

"Schöne Ausdrücke sind das, die du, Tiemann, da gefunden hast. Mal was anderes als Titten und, und, und .... Also das muss ich dir mal erzählen. Ich war da in so'nem Frauen-Seminar mit 'ner Sexual-Psychologin und 'ner Ärztin. Da ging es um die Wechseljahre. Eigentlich ist mir peinlich, dir das jetzt zu verraten. Also wir saßen da im Rund und mussten aufschreiben und später auch vorlesen, wie wir unsere diesbezüglichen Körperteile selber bezeichnen. Von "das da unten" bis "kleiner Bär" oder auch "großer Bär", natürlich auch "Pussy". Eine sprach von ihrer Schlangengrube. Brüste, da sagte doch eine tatsächlich "diese blöden Dinger da". Eine andere, das hat mir gut gefallen, hatte sie getauft: Eva und Maria. Maria die kleinere. Mann, was erzähle ich dir da eigentlich in stockdusterer Nacht! Du hast mir wohl was in den Wein getan! Mir wird ja ganz anders!"

"Sage mir, wie du das nennst, und ich sage dir, wie schön du Liebe machen kannst!"

"Na ja, das ist ja nun vorbei. Da muss man sich nur hüten, dass die Schlange nochmal aus ihrer Grube rauskommt. Früher, hat da eine Frau gebeichtet, habe sie manchmal mittags ihren Mann im Büro angerufen und ihm nur durchgesagt, der Bär brauche Honig. Dann sei er schon ganz fiepsig nachhause gekommen. Das fanden aber die anderen ganz schön blöd. Die Überzahl war froh, wenn sie in Ruhe gelassen wurden."

 

"Und wie hat Renate Raphael ihre Kostbarkeiten bezeichnet?"

Das wollte sie nicht verraten.

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