Mörderisches Bayreuth

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„Du bist halt a Kuldurbanause“, warf ihm Gisela vor und versuchte, mit ihm Schritt zu halten. „Alles, was nix mit Essn und Franggn zu tu hat, is nix für di. Du sollerst halt aa amol ieber dein Dellerrand nausschaua.“

„So ein Quatsch. Was zu weit geht, geht zu weit. Der Regisseur ist ein richtiger Popelschnalzer!“

Kriminalkommissariat K1
29. Februar, drei Tage nach dem Mord

In dem dreigeschossigen roten Backsteinbau in der Ludwig-Thoma-Straße brodelte es wie in einem Bienenstock. Der Polizeipräsident hatte nach dem Mord am Parkplatz der Eremitage nicht lange gefackelt und Montagfrüh die Gründung der Soko „Siegfried“ angeordnet. Aus einer knapp 20-köpfigen Ermittlergruppe sollte sie bestehen.

Es war nicht alltäglich, dass in Bayreuth und Umgebung ein Mord geschah. Aber wenn, dann konnte es so ein Kapitalverbrechen in sich haben. So wie der noch immer ungeklärte Fall in einem oberfränkischen Dorf: 2001 war dort ein neunjähriges Mädchen verschwunden. Der mutmaßliche Mörder war zwar schnell gefasst und zu einer lebenslangen Haft verurteilt worden, aber als der Mann dreizehn Jahre später sein Geständnis widerrufen hatte, musste er wieder freigelassen werden; es gab keine eindeutigen Beweise. Das Landgericht Bayreuth hatte den Braten damals schon gerochen und Monate zuvor die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet. Auf die Ermittler waren Vorwürfe von allen Seiten eingehagelt, auch weil das vermisste Kind noch immer nicht gefunden worden war, weder tot noch lebendig. Von gravierenden Fehlern war heute noch die Rede. So etwas brauchte der Polizeipräsident kein zweites Mal.

Also liefen die Vorbereitungen an diesem Morgen auf Hochtouren. Am Nachmittag um 15:00 Uhr sollten die Soko-Mitglieder im großen Besprechungszimmer zusammenkommen. Auch eine Telko – eine Telefonkonferenz – mit Professor Franziskus Stich, Rechtsmediziner und forensischer Anthropologe am Institut für Rechtsmedizin in Erlangen war eingeplant. Stich wollte bis dahin mit der Leichenschau fertig sein.

Dann würde die Arbeit erst richtig losgehen.

„Was für ein Scheißtag“, sagte Kommissar Klaus-Karl Lang mit Gefühl. Das hatte er heute schon des Öfteren von sich gegeben. Seit Arbeitsbeginn saß er im Büro seines Chefs, Hauptkommissar Behringer. Nach dem Wochenende, an dem sie nur im Trüben gefischt hatten, hatten sie sich vorgenommen, im Vorfeld der Soko-Gründung noch einmal Gas zu geben und so viel wie möglich über den Ermordeten herauszufinden. Besonders weit waren sie nicht gekommen.

„Das liegt an der Kirche“, antwortete Behringer.

„Was liegt an der Kirche?“ KKL stand auf dem Schlauch.

„Na, der Scheißtag“, meinte sein Vorgesetzter.

„Ich versteh nur Bahnhof“, schüttelte Lang sein Haupt.

„Heute schreiben wir den 29. Februar. Also haben wir ein Schaltjahr. Es war Papst Gregor XIII., der diesen Tag 1582 eingeführt hat, um ein Auseinanderlaufen zwischen Sonnen- und Kalenderjahr zu vermeiden.“

„Was Sie alles wissen.“

„Ha! Einen Scheiß weiß ich“, gab Behringer schlechtgelaunt zurück. „Ich hab ja nicht mal die leiseste Ahnung, wo das Mordopfer in Bayreuth gewohnt, geschweige denn, was er hier mit wem gemacht hat – und das obwohl er mir schon zweimal über den Weg gelaufen ist!“

„Aber wir kennen seinen Namen, seine Identität. Das ist mehr als wir gestern hatten.“

Die beiden Beamten hatten kaum eine Viertelstunde vorher mit ihren Kollegen in der Stadt Wesel telefoniert, ein lang erwarteter Rückruf: „Der Mercedes ist auf einen Heiko Springer zugelassen“, hatten sie am Telefon erfahren. „Seinen Wohnsitz hatte er bis vor Kurzem auf Burg Winnenthal.“

Da war der Hauptkommissar hellhörig geworden: „Ach, Burg Winnenthal? Die alte Wasserburg, von der Historiker behaupten, dass es sich um die alte Wolfshage handeln könnte, die in der Nibelungensage erwähnt wird? Der Ort, an den Siegfried sich womöglich zurückgezogen hat?“

„Sie sind aber gut informiert, Herr Kollege“, hatte sein Gesprächspartner vom Niederrhein gestaunt. „So ist es. Errichtet höchstwahrscheinlich von den Herzögen von Jülich, im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört. Nachdem die Anlage in den Achtzigern wiederaufgebaut wurde, war lange ein Hotel drin untergebracht. Und ein landwirtschaftlicher Betrieb. Aber heute ist die Burg ein Seniorensitz.“

„Seniorensitz?“, hatte Behringer eingehakt. „Bei dem Mordopfer handelt es sich um einen jungen Mann um die 30!“

„Alles richtig, Herr Hauptkommissar, aber so, wie es aussieht, hat sich Herr Springer schon vor Jahren als Dauergast dort eingemietet. Wir haben nur kurz mit dem Heimleiter gesprochen. Mit den Senioren hatte Springer natürlich nichts am Hut. Er soll oft auf Reisen gewesen sein und die Wohnung quasi nur als Rückzugsort genutzt haben. Aber mit Ende Februar, also heute, ist der Mietvertrag für seine Wohneinheit im Heim ausgelaufen.“

„Ach.“

„Ja, aber die schriftliche Kündigung kam anscheinend schon vor Monaten und im Dezember stand eines schönen Tages plötzlich der Lkw einer Bayreuther Spedition auf dem Hof und hat Springers Möbel abgeholt. Viel mitzunehmen gab es allerdings gar nicht, hat der Leiter der Seniorenresidenz gemeint, und dass er von der Aktion komplett überrascht worden sei. Springer hat die Möbelpacker nicht angekündigt und war selbst auch nicht vor Ort. Aber die Männer hatten ein Schreiben Springers dabei, das ihnen Zugang zur Wohnung verschaffen sollte. Anscheinend glaubwürdig.“

„Das heißt, vor knapp über zwei Monaten ist Springer definitiv nach Bayreuth übergesiedelt?“

„Richtig!“

„Und wohin genau ist er verzogen?“

„Das weiß kein Mensch. Heiko Springer ist laut Einwohnermeldeamt noch immer in Xanten wohnhaft.“

„Verdammt“, hatte Behringer geflucht. „Dann bleibt uns nur noch die Bayreuther Spedition. Den Namen haben Sie nicht zufällig parat?“

„Nein. Da haben wir auch nicht nachgefragt.“

„Könnten Sie das bitte für uns tun und den Leiter des Seniorenheims nochmal anrufen? Vielleicht kann er sich ja erinnern.“

„Selbstverständlich, Herr Kollege, das machen wir und melden uns wieder bei Ihnen. Und Sie sagen, der Springer wurde ermordet?“

„Ja, letzten Freitag. Von hinten niedergestochen.“

*

So viele Beamte der Kriminalpolizeiinspektion Bayreuth wie selten saßen kurz nach 15:00 Uhr um den langen Besprechungstisch. Man hatte zusätzliche Stühle organisieren müssen.

Der Polizeipräsident richtete einen kurzen Appell an die versammelte Mannschaft: Der Mordfall müsse so schnell wie möglich aufgeklärt werden. Bloß keine lang verschleppten Ermittlungen! Dafür hatte er eine so große Zahl an fähigen und sonstigen Köpfen hier zusammengerufen. Also volle Konzentration und zackige Ergebnisse. Jetzt! Dann überließ er Hauptkommissar Behringer und die neuen Soko-Mitglieder ihrem Elend. 18 Kriminalbeamte, auch aus anderen Kommissariaten wie den Zentralen Diensten, waren BB nun direkt unterstellt.

„Jetzt haben wir den Mist am Hals“, eröffnete der seine Rede. „Ihr habt ja gehört, was unser oberster Chef gefordert hat: Er möchte den Fall lieber gestern als heute aufgeklärt haben.“

„Der kann auch nur blöd daherreden“, wagte sich Kommissar Helmut Bauerreis von der Spurensicherung gleich weit aufs Eis.

„Großkopferte!“, stimmte ihm Simon Weidner von der Kriminaltechnik zu. „Weiß der überhaupt, wovon er spricht?“

Allgemeines Murren ging durch den Raum.

„Leute, beruhigt euch“, schritt Behringer ein. „Ihr seid alle Spezialisten auf eurem Gebiet, darum lasst uns die Sache professionell und organisiert angehen. Als Leiter der Soko Siegfried stelle ich gleich die Eingangsfrage: Hat einer von euch ein Problem mit mir als Chef? Wer mich nicht mag, nicht leiden kann, mir diese Aufgabe nicht zutraut oder einfach keine Lust hat, an diesem Fall mitzuarbeiten, der sollte sich jetzt gleich melden. Ich bin deshalb niemandem böse. Es wird auch keine Repressalien geben, ich würde mich lediglich schnellstens um Ersatz bemühen.“

Er sah ernst in die Runde. „Nur als funktionierendes Team werden wir Erfolg haben. Das zeigen meine Erfahrung und der gesunde Menschenverstand. Dazu brauchen wir ohne Ausnahme voll motivierte Leute und Teamleiter aus euren Reihen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und überproportional großen Einsatz zu zeigen. Was heißt das? Ob ein Kollege aus der KTU oder einer von der Spurensicherung so eine tragende Funktion übernimmt, ist mir völlig egal. Erfahrung und Engagement zählen. Einer muss sich auf den anderen blind verlassen können, muss auch bereit sein, für andere einzuspringen, falls es notwendig wird. Nur gemeinsam sind wir stark.“

Zustimmendes Gemurmel kam aus den Reihen der versammelten Kriminaler.

„Zweiter Grundsatz: Wir teilen unser Wissen zu jeder Zeit mit allen anderen Kolleginnen und Kollegen. Deshalb werde ich in engen Abständen, auf jeden Fall an den kritischen Ecken und Enden des Falls, zu gemeinsamen Sitzungen einladen. Wissen bedeutet Macht und bringt Vorteile. Also, was ist? Wie sieht es aus?“

Alle nickten zustimmend, keiner meldete sich.

„Das freut mich“, fuhr Behringer fort. „Also, gehen wir an die Organisation unserer Soko. Wir brauchen einen Aktenführer. Klingt vielleicht staubtrocken, aber Talente wie absolute Genauigkeit und Verantwortungsgefühl für Aktualität und Ordnung sind nicht zu verachten. Ein bisschen Enthusiasmus für Datenpflege sollte man natürlich mitbringen. Wer fühlt sich angesprochen?“

Eine junge Frau mit blonder Kurzhaarfrisur meldete sich vom Kopfende des Tisches.

„Frau Kriminalkommissaranwärterin Meissner, Sie haben den Job. Das freut mich für Sie. Nun zum Tatortteam. Wer war letzten Freitag am Parkplatz bei der Eremitage mit dabei?“

 

Kommissar Lang und drei Mitarbeiter der SpuSi hoben die Hände.

„Braucht ihr in eurem Team noch Unterstützung von der KTU?“

„Zwei von der KTU wären nicht schlecht“, meinte KKL, „gerade was die Tatortbeweiserhebung angeht.“

„Wer meldet sich freiwillig?“ Behringer sah in die Runde.

Zwei Polizeibeamte gaben Handzeichen, ein dritter zuckte mit den Schultern und ließ seinen Kollegen den Vortritt.

„Okay, das geht ja flott“, zeigte sich der Hauptkommissar zufrieden. „Apropos Tatort, hat die SpuSi etwas Verwertbares gefunden?“

„Schon“, meldete sich KKL zu Wort. „Im Innenraum des Fahrzeugs wie auch im Kofferraum waren jede Menge Fingerabdrücke und Hautschuppen. An der Kopfstütze des Beifahrersitzes klebten ein paar lange blonde Haare und auf dem Sitz selber lag eine Haarspange, schwarz, die vermutlich ebenfalls DNA-Spuren hergeben dürfte. Das alles wird gerade von der KTU ausgewertet, ansonsten … ach ja: Wir haben rund um Springers Wagen Spuren von Industriemineralen aus Korund festgestellt.“

Behringer hob eine Augenbraue. „Ihr habt das Pflaster gleich mitgeprüft?“

„Klar, Sorgfalt ist oberste Pflicht“, lächelte KKL. „Wir haben sogar Proben aus den Regenpfützen auf dem Pflaster genommen. Da drin hatte sich der Korund gesammelt. Auch darum kümmert sich die KTU.“

„Sonst noch etwas? Ist das Handy bei der Wagendurchsuchung aufgetaucht? Oder Führerschein, Portemonnaie, Ausweispapiere, am besten gleich die Tatwaffe? Irgendetwas, das uns schnell weiterbringen könnte?“, trieb Behringer seine Mitarbeiter an.

„Absolut nichts. Den Geldbeutel des Opfers konnten wir zwar sicherstellen, aber es war nichts darin, außer ein paar Münzen und dem Foto einer hübschen, blonden Frau. Auch das befindet sich …“

„Ja, ja, ich weiß schon, bei den Kollegen der KTU“, vervollständigte Behringer den Satz.

„Ein paar Kondome im Handschuhfach haben wir auch gefunden“, ergänzte KKL. „Unbenutzt.“

„Was ist mit den zerstochenen Reifen?“, fiel Behringer ein.

„Das ist schon etwas seltsam“, überlegte KKL laut. „Warum nur die Vorderreifen? Warum nicht auch hinten? Wobei das natürlich ausreicht, um einen am Wegfahren zu hindern. Die zentrale Frage, die offenbleibt: Wer hat es getan? Zu welchem Zweck? Theoretisch könnte es jeder gewesen sein … quasi ein sehr schlechter Scherz, Vandalismus, Neid auf den teuren Wagen. Oder es war der Mörder, der auf sein Opfer gewartet hat und vermeiden wollte, dass es sich vom Parkplatz entfernt.“

„Mit nur einem zerstochenen Reifen hätte man einen Reifenwechsel durchführen können, mit zwei defekten Rädern kommt man nicht mehr vom Fleck“, warf Kommissar Bauerreis ein. „Wenn es so war, wie der Kollege Lang es schildert, hieße das, dass der Täter wusste, dass Heiko Springer hier seinem Sport nachging, also seine Tagesroutinen kannte und gezielt auf ihn gewartet hat.“

„Und wenn wiederum diese These stimmt, müsste das bedeuten, dass der Täter – oder die Täterin! – im unmittelbaren persönlichen Umfeld des Opfers zu suchen ist. Das heißt, wir müssen dieses Umfeld schnellstmöglich identifizieren und durchleuchten“, folgerte Simon Weidner.

„Da stehen wir natürlich erst ganz am Anfang“, fiel KKL wieder ins Gespräch ein.

„Durchleuchten, ja, unbedingt, macht das“, nickte Behringer. „Das bringt uns zur Organisation unserer Soko zurück – die Ermittlerteams: Wir brauchen Kolleginnen und Kollegen, die sich hauptsächlich der Sach- und Personalbeweiserhebung widmen. Außerdem: Wer meint, ein Gespür fürs Profiling zu haben, der soll sich ebenfalls melden.“

Behringer sah auf seine Uhr. „Überlegt euch das bitte, wir machen gleich weiter, nachdem wir die Telefonkonferenz mit Herrn Professor Franziskus Stich vom Institut für Rechtsmedizin in Erlangen eingeschoben haben. Stich ist ein äußerst erfahrener Rechtsmediziner, ich würde ihn sogar als Koryphäe auf seinem Gebiet bezeichnen. Er und ein Kollege haben noch am Wochenende unser Opfer obduziert und, so wie ich ihn kenne, wird er uns sofort einiges über die Todesumstände erzählen können. Nach der Telko machen wir eine kurze Zigarettenpause, danach geht es an die Verteilung der ersten Aufgaben.“

Behringer rieb sich die Hände. „KKL, können Sie sich um das Zustandekommen des Gesprächs bemühen? Lautsprecher, bitte. Ich denke, ich muss mir diese moderne Technik nicht mehr antun.“

*

Rund 100 Kilometer südwestlich von Bayreuth, in Erlangen, lehnte sich Professor Franziskus Stich weit in seinem bequemen Bürosessel zurück und ließ seine Sekretärin, eine Mittdreißigerin mit Pagenfrisur und mächtiger Oberweite, an seiner Telefonanlage herumhantieren.

Draußen drang von der Universitätsstraße das ständige Rauschen und Hupen des Verkehrs heran. Stichs Tränensäcke hingen ihm wie kleine Monde unter den Augen, seine stahlgrauen Blicke dagegen entrückt an der Decke. Er hatte eine hagere Gestalt und die tiefen Falten, die sich vor allem in den letzten Jahren in sein Gesicht gegraben hatten, ließen ihn älter als 63 erscheinen. Eigentlich ein vernünftiges Alter, um allmählich an den verdienten Ruhestand zu denken. Ein gleichwertiger erfahrener Ersatz war allerdings weit und breit nicht am Horizont zu erblicken. Stich lebte mit und für seine Toten, die ihm regelmäßig auf den Edelstahltisch geliefert wurden. Mit Akribie und ungehemmter Begeisterung für den menschlichen Organismus versuchte er, ihnen immer wieder auch das kleinste Geheimnis ihres gewaltsamen Todes zu entlocken, und wurde von seinen „Kunden“ – den Kommissaren, Hauptkommissaren und sonstigen Ermittlern im weiten Umkreis – hoch geachtet.

„Die Verbindung steht, Herr Professor“, meinte der Pagenschnitt und übergab ihm das Telefon.

Stich fuhr aus seinen Gedanken und dem Sessel hoch und nahm den ihm dargebotenen Hörer. „Hier Stich bei der Arbeit“, blies er jovial in die Sprechmuschel.

„Benno Behringer, hallo Doc“, schallte es ihm entgegen.

„Der Benno“, fuhr Stich gut gelaunt fort. „Altes Haus, wie geht’s?“

In Bayreuth ging im Besprechungszimmer ein breites Schmunzeln um den Tisch.

„Gut, danke der Nachfrage. Du bist übrigens auf Sendung. Wir haben den Lautsprecher angeschaltet und warten auf deine geschätzte Expertise.“

Dass rund 40 Ohren seinen Worten lauschten, störte Stich nicht. Genauso wenig wie das leichte Unbehagen des Hauptkommissars bei der vertrauten Ansprache vor seiner versammelten Soko. Bevor er auf den eigentlichen Fall zu sprechen kam, brauchte Stich immer eine auflockernde Einstimmung. Die Ereignisse dieser verrückten Welt brachten sowieso Tag für Tag nur Hiobsbotschaften.

„Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesprochen, Benno! Was haben mir meine Quellen zugetragen? Du hast’s letztes Jahr endlich das erste Mal auf die Festspiele geschafft? Siegfried, wie ich gehört habe? Wie war’s?“

Behringer hätte dieses Thema zwar am liebsten ausgeklammert, aber unhöflich zu sein, war auch nicht sein Ding. Auch die Mitglieder seiner Soko warteten mit Interesse auf seine Antwort, wussten die meisten doch, wie ihr Hauptkommissar auf den Besuch der Wagner-Oper reagiert hatte.

„Zu sagen, es war eine Katastrophe, wäre die reinste Untertreibung. Es war ein nicht zu überbietendes Fiasko!“ Allein beim Gedanken an sein Martyrium stieg Behringer die Zornesröte ins Gesicht. „Hast du schon mal was von dem Regisseur Castorf gehört?“

„Gehört nicht, aber gelesen. War es wirklich so schlimm?“

„Schlimm?“, wiederholte Behringer. „Es hat nicht viel gefehlt und ich hätte dir Castorf auf einen deiner Tische geliefert! Du weißt, ich bin ein Anhänger der Nibelungensage – ein echtes Heldenepos –, aber was der daraus gemacht hat … Na, ich erspare mir und dir Einzelheiten. Es war jedenfalls nicht zum Aushalten!“ Er fuhr sich schnell mit der Hand übers Gesicht. „Aber jetzt erwarte ich mir – oder besser gesagt: erwarten wir uns Neuigkeiten von dir, lieber Franziskus.“

„Von eurem blonden Siegfried, den ihr mir habt anliefern lassen?“

„Siegfried ist schön gesagt. Ich hab ihn während der Festspiele als Popelschnalzer kennengelernt …“ Dann kam der Hauptkommissar doch nicht umhin, die kurze Geschichte zum Besten zu geben. „Aber jetzt bist endgültig du dran“, forderte er am Schluss Stich auf.

„Popelschnalzer. Klingt nicht gerade ästhetisch. Da bleibe ich doch lieber bei Siegfried“, nahm der Professor seinen Part auf. „Auf den Punkt gebracht, ist er infolge von zwei Einstichen an einer Herzbeuteltamponade verstorben.“

„Doc, wir haben hier jede Menge junger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen versammelt. Würde es dir etwas ausmachen, sagen wir, etwas erklärend auszuholen? Wir möchten schließlich alle dazulernen.“ Dass er selbst mit dem Begriff „Tamponade“ nicht allzu viel anfangen konnte, verschwieg Behringer geflissentlich.

„Na, dann hört mir mal zu. Bei einer Herzbeuteltamponade handelt es sich um eine schnelle Ansammlung von Flüssigkeit – in diesem Fall von Blut – im Perikard, dem Herzbeutel. Das ist ein dünner Beutel, ein Hohlraum, der das Herz umgibt. Wenn dahinein, beispielsweise wie in unserm Fall durch eine Stichverletzung, Blut fließt, kommt es zu einer Kompression des Herzens. Es wird von außen zusammengedrückt. Das wiederum führt zu einer Behinderung der Ventrikelfüllung, was nichts anderes heißt, als dass der Körper nicht mehr mit der ausreichenden Menge sauerstoffgesättigten Blutes versorgt werden kann, das Schlagvolumen des Herzens reicht nicht mehr aus. Es ist ganz einfach: Durch den entstandenen Druck von außen hat das Herz nicht mehr genug Kraft, dagegen anzupumpen. Auch das Organ selbst wird nicht mehr vollausreichend mit dem notwendigen Lebenssaft versorgt. Diese Blutunterversorgung führt schließlich zu einem schockartigen Zustand. Organversagen und Herzstillstand sind die Folgen.“

Stille am anderen Ende der Leitung.

„Ich hoffe, ich konnte das so schildern, dass sich jeder von euch etwas darunter vorstellen kann? Ansonsten, wenn ihr weitere Fragen habt …?“

Behringer sah in Bayreuth in die baffe Runde. „Gibt es auch Erkenntnisse zur Tatwaffe und zum Todeszeitpunkt?“

„Todeszeitpunkt, ja“, wiederholte Stich. „Ich würde sagen: letzten Freitag so zwischen 18:00 und 20:00 Uhr. Bei der Tatwaffe handelt es sich um ein Messer mit dreikantigem Klingenquerschnitt, mit dünnem Rücken und einer scharfen Schneide, die beidseitig geschliffen sein muss. Darauf deuten die glatten Wundränder und die Ausdehnungen des Stichkanals hin. Die Klingenlänge selbst dürfte in etwa 18 Zentimeter betragen. Wer auch immer euren Siegfried umgebracht hat, er – oder sie – muss ihn genau zu dem Zeitpunkt erwischt haben, als er sich in den Kofferraum seines Wagens hineingebeugt hat. Die Fotos, die ihr mir geschickt habt, sprechen Bände. Beide Stiche kamen relativ senkrecht von oben. Mit aller Kraft ausgeführt. Aber, wie gesagt, die Kraft einer Frau hätte auch ausgereicht. Als das Messer wieder herausgezogen wurde, wurde es leicht verdreht, was zu einem erhöhten, schnellen Blutverlust geführt hat.“

„Wer benutzt solche Messer?“, warf Behringer ein.

„Quasi jeder“, gab Stich von sich. „Die findest du in jeder professionellen Küche und in den meisten privaten mittlerweile auch. Der dünne Klingenquerschnitt weist auf ein Filetiermesser mit scharfer Spitze hin.“

*

Telefonkonferenz und Raucherpause waren vorbei. Schnell wurden die restlichen Teams der Soko gebildet.

Behringer rief seine Leute zum Weitermachen zusammen. „Es ist wie verhext, ein Omen“, begann er, als er sich auf seinen Sitz fallen ließ. „Ich bin dem Opfer schon zweimal begegnet: Die Geschichte vom Popelschnalzer kennt ihr jetzt alle, aber den Treff an der Wiesent bin ich euch noch schuldig.“

Er hielt ein Foto in die Höhe und ließ es dann durch die Runde gehen, bevor er mit seiner Geschichte begann: „Hier auf diesem Foto sehen Sie das Mordopfer in einem Zweierkanu auf der Wiesent. Das Bild entstand im September letzten Jahres in der Nähe des Bahnhofs Behringersmühle. Neben Heiko Springer sehen Sie eine unbekannte junge und – ich denke, darauf können wir uns einigen – sehr attraktive Frau im Boot sitzen. Es ist dieselbe, die auch auf dem Foto im Portemonnaie Springers abgelichtet ist. Eine unserer ersten Aufgaben wird es sein, diese Frau ausfindig zu machen. Ich erhoffe mir, dass sie uns einiges über das Opfer erzählen kann. Jedenfalls wirkten die zwei auf mich wie ein Liebespaar.“

Das Foto kam wieder bei Behringer an und er steckte es zur sicheren Aufbewahrung in eine Mappe. „Über Heiko Springer selbst wissen wir noch relativ wenig. Bis vor Kurzem hat er auf der Burg Winnenthal am Niederrhein, in der Nähe von Xanten, eine Dreizimmerwohnung unterhalten, der Vertrag ist auf den heutigen Tag gekündigt worden. Die Kollegen von der Kripo in Wesel haben für uns herausgefunden, dass urplötzlich, am 22. Dezember letzten Jahres, die Spedition Wedlich aus Bayreuth im Burghof stand – mit dem Auftrag, die Möbel von Springer aus der Wohnung zu holen und hierher, in ein Lager der Firma StorageBox in der Sophian-Kolb-Straße, zu bringen. Ob sie dort immer noch lagern, wissen wir nicht. Kollege Lang und ich haben heute noch niemanden von StorageBox erreicht. Also, wer fährt hin und nimmt die Sache in Angriff?“

 

Helmut Bauerreis und Kriminalobermeisterin Susanne Landrock hoben die Hände.

*

Es war schon kurz vor Feierabend, als sich Behringers Telefon meldete. „Ja?“, blaffte er in den Hörer.

„Bauerreis“, meldete sich der Kommissar der Spurensicherung. „Die Kollegin Landrock und ich haben eben mit dem hiesigen Leiter der Firma StorageBox gesprochen. Die Möbel von dem ermordeten Springer wurden am 28. Dezember in die Friedrich-von-Schiller-Straße gebracht und dort nach einem Einrichtungsplan des Mordopfers bezugsfertig aufgestellt.“

„Wer macht denn so was?“, wunderte sich Behringer.

„Das kam, weil der Hausherr gar nicht da war.“

„Was heißt das, nicht da war?“

„Soweit wir erfahren haben, war dieser Springer gerade nach Kenia in den Urlaub geflogen. Daran konnte sich der Mann vom Lager, Röthlingshöfer heißt er, noch erinnern, weil es so extravagant war. Jedenfalls hatte StorageBox den Auftrag, die Wohnung komplett einzurichten. Vom Aufhängen der Lampen und Anschließen der Waschmaschine bis hin zum Unterbringen der gesamten Wäsche – Anzüge, Hemden und so weiter.“

„Wie soll das denn gehen?“, zweifelte der Hauptkommissar.

„Herr Röthlingshöfer hat uns den Plan gezeigt, den Springer ihm dagelassen hat. Den hat er aufgehoben – als Anschauungsmaterial für den Fall, dass sie so eine Komplett-Dienstleistung in ihr Angebot aufnehmen. Darin ist ganz genau beschrieben, wo jedes einzelne Möbelstück hingehört, wo exakt im Schrank die Hemden aufgehängt werden und in welcher Schublade die Unterhosen ihren Platz finden sollen. Der Springer ging sogar so weit, dass er StorageBox beauftragt hat, für ihn Besorgungen zu erledigen.“ Am anderen Ende der Verbindung raschelte es, Bauerreis hantierte einhändig mit Papier. „Also hier steht: Champagner, Wein – er will eine bestimmte Sorte, spanischen … und dann sogar Weißwein –, argentinische Filetsteaks, Kartoffeln und so weiter. Sogar an Toilettenpapier und Körperpflegemittel hat er gedacht.“

„Und die haben das alles erledigt?“, kam es von Behringer.

„Klar, dafür haben sie ihm auch eine saftige Rechnung gestellt. Geld spielt keine Rolle, soll der Springer dem Röthlingshöfer gesagt haben, als er den Auftrag erteilt hat. Und: Machen Sie einfach alles so, wie ich es aufgeschrieben habe.

„Hat der Röthlingshöfer vielleicht auch von einer Freundin Springers gesprochen? Blond, hübsch … hat er sie vielleicht sogar kennengelernt?“

„Die Frage hab ich ihm auch gestellt“, antwortete Bauerreis am Telefon. „Leider nicht. Eine Frau hat er nie gesehen oder von einer gehört. Bei der Wohnung soll es sich übrigens um eine komplett neu modernisierte Dreizimmer-Terrassenwohnung im dritten Stock handeln. Knapp 100 Quadratmeter.“

„Na gut, wenigstens wissen wir jetzt, wo wir mit unserer Suche weitermachen müssen. Gut gemacht, Bauerreis. Gruß auch an die Kollegin Landrock. Ich schicke gleich einen Trupp der SpuSi in die Friedrich-von-Schiller-Straße. Hausnummer?“

„6.“

„Ich weiß, es ist schon spät, aber fahren Sie bitte auch dorthin und begleiten Sie die Aktion. Wäre schön, wenn wir ein paar erste Aussagen von den Nachbarn bekämen, Hinweise, die uns weiterbringen.“

„Okay, wir kümmern uns darum.“

Behringer legte auf und wandte sich wieder seinem Computer zu. Er hatte die letzte Stunde genutzt, um sich tiefer ins Leben des Opfers einzuarbeiten. Mit dem Namen „Heiko Springer“ war er recht schnell auf eine Beraterfirma desselben Namens gestoßen. Finanzdienstleistungen. Offenbar ein recht exklusives Geschäft für die oberen Zehntausend Deutschlands und der Welt. Ein Büro mit Adresse in Xanten war im Impressum der Homepage von Springers kleinem Unternehmen angegeben. Das sollte Klaus-Karl Lang überprüfen, zur Not müssten sie auch die Kollegen aus Wesel noch einmal um Hilfe bitten.

Behringer holte tief Luft. „KKL!“

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