Allmächd, scho widder a Mord!

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Seit einunddreißig Jahren sind Barbara Stieler, geborene Schacher und ihr Mann Anton verheiratet. Seit ihrer Geburt leben die beiden in der kleinen unterfränkischen Gemeinde Obersinn, im Landkreis Main-Spessart. Die weiteste Reise, welche die zwei in ihrem Leben je unternommen hatten, führte sie nach Würzburg. Das war auch vor einunddreißig Jahren. Es war ihre Hochzeitsreise. Damals besuchten sie Antons Bruder Michael, der ihnen zwei Tage lang die Schönheiten der Stadt zeigte. Danach fuhren sie mit dem Bummelzug wieder nach Obersinn zurück. In dem kleinen Ort unterhalten sie einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb, sind fleißig, genügsam, glücklich und zufrieden. Die beiden erwachsenen Söhne waren längst aus dem Haus. Ihre Wege führen Anton und Barbara gelegentlich in den Ortsteil Emmerichsthal, wo Barbaras Geburtshaus steht, nach Mittelsinn und nach Bergsinn. Worte wie „Hotel“, „Kreditkarte“, oder „EC-Karte“, kennen sie nur vom Hörensagen. Andere Begriffe, wie „Laptop“, „Internet“, oder „Homepage“ sind ihnen völlig ungeläufig. Durch die Ortschaft Obersinn mit ihren knapp über eintausend Einwohnern schlängelt sich das Flüsschen Sinn, welches die Ortschaft in eine Spessart- und in eine Rhönseite teilt. Barbara und Anton leben auf der Spessartseite. Anton ist Mitglied beim SV Obersinn, bei der Freiwilligen Feuerwehr, beim Gesangsverein und beim Wanderverein. Der absolute Höhepunkt in Obersinn ist das alljährliche Schachblumenfest. Der Sinngrund mit seinen Feuchtwiesen ist das größte zusammenhängende Gebiet Deutschlands, in welchem die Schachblumen, ein Liliengewächs, von April bis Mai in vollen Blüten erstrahlen.

Nun ergab es sich, dass die Main-Spessart-Zeitung in ihrer Weihnachtsausgabe einen Heimatwettbewerb ausschrieb. Als Hauptpreis gab es zwei Eintrittskarten für die Prunksitzung Fastnacht in Franken, in Veitshöchheim. Einsendeschluss war der Silvestertag 2012. So stand es in der Zeitung. Die zu bewältigende Aufgabe bestand darin, einen vorgegebenen, hochdeutschen Text, bei dem es um das Schachblumenfest ging, in das beste, traditionellste Unterfränkisch zu transferieren, ein Unterfränkisch, wie es eben im Sinntal gesprochen wird. Der vorgegebene, hochdeutsche Text lautete:

Wenn du von auswärts kommst und einen schönen Spaziergang machen willst, bevor du zum Schachblumenfest gehst, lässt du am besten in Mittelsinn dein Auto stehen und marschierst über den Mannstall zum Brunnberg, weiter zum Rasen vom Dilleschmied, den Grund hinunter und die Röder entlang, dann erreichst du den Festplatz.

Später, nach einigen Bierchen und einer Bratwurst gehst du zurück ins Dorf über die Holeide und den Tiegel, bleibst einen Augenblick an der Blauen Villa stehen und erfreust dich daran, wie schön sich unser Dorf herausgeputzt hat.

Der Obersinner Wanderverein, dessen wirklich aktive Mitglieder hauptsächlich zugezogene Preußen sind, beschloss, sich der Aufgabe zu stellen. Aus verständlichen Gründen und nach etlichen Fehlversuchen trug dann doch Anton Stieler maßgeblich zu dem eingeschickten Lösungsvorschlag bei:

Willsde, wann de voo auswärts kömmsd, öeschd emoa en schüene Schbaziergang mach, befüür de zum Schachblummefesd geäsd, löessde in Mejiddelsinn dai Audo schdijenn unn marschierst üwern Mannschdall zum Brönnbarch, waidder zum Dilleschmiidsrösije unn die Grünn unn dii Röüder naus, dann kömmsde zum Festplatz. Schbeäder, nooch e boor Bier unn e Broadwueschd geäsde zeröügg üwer dii Holeide unn em Diichel ins Duerf und blaisd en Aachebkiigg on de blaue Villa schdijenn. Dann guggsde diich e wengg öm unn frääsd diich, wii schüe sich unser Duerf rausgebutzt hoed.

Fünfzig Prozent der Vereinsmitglieder verstanden überhaupt nicht, was da auf dem Papier stand. Weitere neunundvierzig Prozent hatten keine Ahnung, was das gesprochene Wort zum Ausdruck bringen sollte. Der dünne Lars Koggendorf aus Schleswig-Holstein murmelte nur ständig: „Smörebroed, Smörebroed.“ Einzig und allein Leopold Hornhaut, der Vorsitzende des Wandervereins, ein alter Obersinner, verstand, was Anton Stieler zu Papier gebracht hatte.

Am 8. Januar 2013 teilte die Redaktionsleitung der Main-Spessart-Zeitung dem Wanderverein Obersinn mit, dass der Verein den ersten Preis des Weihnachtswettbewerbs gewonnen habe, gratulierte zu dem hervorragenden mundartlichen Beitrag und bat um die Namen der zwei Personen, welche zur Prunksitzung nach Veitshöchheim kommen. Leopold Hornhaut, schrieb zurück: „Den Wanderverein Obersinn vertreten Barbara und Anton Stieler.“

Daraufhin bereiteten die Verantwortlichen der Main-Spessart-Zeitung die Einladung an das Ehepaar Stieler vor: Zwei Übernachtungen im Best-Western-Hotel Weißes Lamm in Veitshöchheim, inklusive Vollpension und zwei Eintrittskarten zu der Prunksitzung Fastnacht in Franken. Anreise am 1. Februar 2013, Abreise am Sonntag, den 3. Februar.

Barbara und Anton Stieler hatten keine Ahnung von ihrer bevorstehenden, zweiten Weltreise innerhalb von nur einunddreißig Jahren.

Während die vier tadschikischen Terroristen, Mueselim Ansari, Ibrahim al-Assad, Yousat Khan und Shakir Yakisan mit gefälschten Pässen in der Gulf Air-Maschine von Karatschi nach Bahrain saßen, bastelte Abu Hassan Akbar im Dr.-Bolza-Ring an seinen drei Sprengsätzen. Max Schneider hatte in unterschiedlichen Würzburger Geschäften drei Sechs-Kilogramm-protex-Feuerlöscher mit Manometer gekauft. Abu Hassan hatte eine geniale Idee entwickelt: Sie tauschten die drei protex-Feuerlöscher, die in den Mainfrankensälen hingen, gegen drei neue aus. Einfach und simpel. Niemand würde Verdacht schöpfen. Es gab nur einen winzigen, aber markanten Unterschied: In den „alten“ Feuerlöschern befand sich Löschpulver. In den neuen befanden sich jeweils ein Gemisch aus Ammoniumnitrat und Nitromethan, ein verlässlicher Zünder, weiterhin eine Software zur Verwaltung einer grafischen Benutzeroberfläche mit zugehöriger Antenne und ein Mobilteil, in welchem eine Frequenz zwischen 1156 und 1157 Mega-Hertz eingespeichert war. Die Batterien in den Mobilteilen waren vollgeladen. Es konnte praktisch nichts schief gehen. Durch die Zündung über Funk ging der Feststoff in Gas über. Diese Reaktion würde eine gewaltige Sprengkraft auslösen. Die Mainfrankensäle würden am 2. Februar der Vergangenheit angehören. Mehr als ein verkohlter, schwelender Haufen würde nicht übrig bleiben. Da war sich Abu Hassan Akbar sicher. Morgen würde er die letzte Bombe fertigstellen. Tod den Ungläubigen. Allahu Akbar.

Während ihr Führer in Zell am Main fleißig an den Sprengsätzen bastelte, trafen seine vier tadschikischen Terror-Kumpane pünktlich am Flughafen in Bahrain ein. Nach achtzig Minuten Aufenthalt betraten Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad die KLM-Maschine nach Amsterdam. Dreißig Minuten später nahmen Yousat Khan und Shakir Yakisan in der Business-Class der Allitalia Platz, um es sich auf dem Weiterflug nach Rom bequem zu machen. Auf getrennten Wegen wollten die vier Terroristen am 14. Januar in Zell eintreffen. So hatten sie es geplant. Dass es so nicht kommen würde, konnte zu diesem Zeitpunkt noch keiner von ihnen ahnen.

Als Anton Stieler und seine Barbara von ihrem „Glück“ erfuhren, schien für sie die Welt unterzugehen. Schon einmal, vor einunddreißig Jahren, mussten sie Obersinn verlassen, um sich auf eine weite Reise zu begeben, nur weil Antons Bruder darauf bestand, dem jungen Paar die Stadt Würzburg zu zeigen. Schon damals fühlten sie sich in der Fremde unwohl. Die Menschen sprachen eine andere Sprache. Das musste heute noch viel schlimmer sein. Sie könnten Fastnacht in Franken im Fernsehen anschauen, warum also extra die weite Reise unternehmen? In Veitshöchheim sind so viele kostümierte fremde Menschen in dieser engen, stickigen Halle, und alle sind gut gelaunt, trinken und klatschen in die Hände. Der Ministerpräsident steckt immer in einem dunklen Anzug, schwitzt im Gesicht und lacht gequält. Sein Lehrling, dieser Möchtegern-Finanzminister, hatte sich ein Mal in einen – wie nennt man das heutzutage? – in einen Punker verkleidet. Schrecklich sah der damals aus, richtig zum Fürchten.

„Om Foosenochdsdiischdich felld dii Schuel aus. Dii Schuelkinn versammele siich all schüe kostümiert unn maskiert on de old Schuel unn zije dann als Foosenochdszuuch durchs Duerf“, sprach die Barbara zu ihrem Anton, und wollte damit zum Ausdruck bringen „Warum denn so weit weg? Foosenachd haben wir in Obersinn doch auch! Was müssen wir da nach Veitshöchheim?“

Zudem, die Barbara hatte nur eine Kiddelschürz und ein einunddreißig Jahre altes Klääd, aus dem sie längst herausgewachsen war. Wo sollte Anton einen Oozuch herkriegen, er hatte doch nur eine knielange Joubbe. Und überhaupt, sie hatten weder Faschingskostüme, noch dunkle Anzüge, noch verstanden sie die meisten Künstler, die auf der Bühne auftraten. Sie erinnerten sich an einen Mittelfranken, der vom Ende einer anderen Welt zu kommen schien. Klaus Karl-Kraus. Wie konnte man nur Klaus Karl-Kraus heißen? Der sprach immer von einem Glubb der Aborigines auf einem Berch, wo jedes Jahr ein Gwerch stattfindet, und die Bayern-Säu nichts zu suchen haben. Dabei schrie er immer so, in seiner rot-weißen Jacke, und sein mickriges Pferdeschwänzchen schwappte immer hin und her. Anton und Barbara Stieler hatten die Geschichten, die er in dieser sonderbaren Fremdsprache erzählte, nie verstanden. Und nun sollten sie solchen Leuten von Angesicht zu Angesicht gegenüber sitzen? Womöglich in der ersten Reihe? In einer stinkenden, engen Halle? So weit weg von Obersinn?, Ohne Anzug, Kleid oder Kostüme? Mit dem bayerischen Oberkaspar, der beim Sprechen die Zähne nicht auseinander bekam und immer so dreckig grinste. Unter einem Dach?

Unmöglich! Nie und nimmer!

 

Sie hatten allerdings nicht mit der Überzeugungskunst des Leopold Hornhaut gerechnet, im wahren Leben nicht nur Vereinsvorsitzender, sondern auch Polizeihauptmeister bei der Landpolizei in Bergsinn. Leopold versprach Anton, ihm seine Uniform nebst Polizeimütze zu leihen. Sie hatten ja beide die gleiche Statur. Warum Leopold die Pistole nicht auch herausrücken wollte, leuchtete Anton nicht ein. Das war doch überhaupt der Clou. Doch Leopold blieb hart und ließ in diesem Punkt nicht weiter mit sich handeln. Frau Hornhaut trieb für Barbara ein weit geschnittenes Affenkostüm auf. Ausschlaggebend war jedoch, dass Leopold Hornhaut sich anbot, die beiden Stielers höchstpersönlich nach Veitshöchheim zu fahren, beim Einchecken im Hotel behilflich zu sein und sie auch am Sonntagmorgen wieder abzuholen. Im Polizeiwagen versteht sich, und mit Blaulicht und Martinshorn. Als Anton und Barbara dann noch vernahmen, dass auch der Erzbischof des Bistums Würzburg bei der Prunksitzung zu Gast sei, gingen ihnen allmählich die Argumente aus.

Yousat Khan und Shakir Yakisan landeten pünktlich am 12. Januar auf dem römischen Flughafen Fiumicino-Leonardo da Vinci. Nach der oberflächlichen Passkontrolle und nachdem sie ihr Gepäck vom Band aufgenommen hatten, nahmen sie sich ein Taxi zum Bahnhof Roma Termini. Dort stiegen sie nachmittags um halb drei in die City Night Line der Deutschen Bahn nach Frankfurt am Main. Tags darauf wollten sie in Würzburg ankommen und in der Pension „Zur Reblaus“ Mueselim und Ibrahim abholen, die tags zuvor angekommen sein müssten.

Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad kamen mit der KLM etwa zeitgleich auf dem Flughafen Schiphol in Amsterdam an. Auch sie hatten bei der Einreise keine Probleme. Ihre Anreise nach Würzburg war deutlich kürzer, und sie leisteten sich den Luxus eines Taxis. Der Fahrer konnte sein Glück kaum fassen, ließ sich aber sicherheitshalber das Bündel Geldscheine zeigen, bevor er losfuhr. Ibrahim und Mueselim schnallten sich an und machten es sich auf den hinteren Plätzen bequem.

Der Taxifahrer informierte seine Fahrgäste darüber, dass circa fünfhundertfünfzig Streckenkilometer vor ihnen lagen und dass sie sich, je nach Verkehrsaufkommen, auf eine Fahrt von ungefähr sechs Stunden einstellen müssten, inklusive einer halbstündigen Pause. Dann nannte er ihnen den Fahrpreis. Ibrahim nickte nur und deutete an, dass der Preis in Ordnung gehe. Der Fahrer informierte noch seine Leitstelle, dass er zwei Fahrgäste nach Würzburg in die Pension „Zur Reblaus“ bringe, dann nahm er ordentlich Fahrt auf und erhöhte die Geschwindigkeit.

Das Taxi fuhr über Arnheim, Duisburg, Köln und Bonn. Kurz hinter Bonn verließ der Fahrer die Autobahn und steuerte eine Raststätte an. Nach einer halbstündigen Pause mit Toilettengang, Tanken, Kaffee und zwei Zigaretten ging es weiter. Die Städte Wiesbaden und Frankfurt am Main lagen bald hinter ihnen, und weiter ging es auf der A3. Die beiden Fahrgäste auf den Rückbänken waren in Höhe Wiesbaden eingeschlafen. Um sie nicht zu stören, schaltete der Fahrer das Radio vollkommen aus. Er betrachtete die beiden durch den Rückspiegel. Bei jeder langgezogenen Kurve schwangen ihre Köpfe hin und her. Zwischenzeitlich näherte er sich seinem Ziel. Das Autobahndreieck Würzburg-West lag nur noch zwanzig Kilometer vor ihm. Dass bei Würzburg-Kist ein Geisterfahrer die Autobahn befahren hatte und ihm mit hoher Geschwindigkeit entgegen kam, konnte er nicht wissen, er hatte das Radio ja abgestellt. Der holländische Taxifahrer wunderte sich, dass fast alle Verkehrsteilnehmer vor, und hinter ihm plötzlich ihre Geschwindigkeit drastisch drosselten und in weiten Abständen hintereinander fuhren. Ihm war kein Verkehrsschild mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung aufgefallen. Alle fuhren rechts. Die linke Spur vor ihm war völlig frei. Er trat aufs Gaspedal und freute sich, dass er umso früher sein Ziel erreichen würde. In einer weitläufigen, schlecht einsehbaren Rechtskurve betrachtete er erneut seine Fahrgäste im Rückspiegel. „Wo die wohl herkamen, und was die wohl in Würzburg machen?“, ging es ihm durch den Kopf. Als er den Blick wieder auf die Straße vor sich richtete, war es bereits zu spät. Der junge Geisterfahrer aus Wolfenbüttel fuhr mit seinem VW Golf GTI ungebremst in den holländischen Mercedes 220S. Beide Fahrer hatten nicht die geringste Überlebenschance, als Metall auf Metall krachte, die Motorblöcke bis in das Wageninnere geschoben wurden und sich in sich verwanden. Die beiden Pkws schleuderten durch die Wucht des Aufpralls um ihre eigenen Achsen. Das Taxi blieb schließlich in der Leitplanke zur Gegenfahrbahn hängen, das Wrack des VW Golf wirbelte auf die rechte Seite, fegte noch einen Ford Focus und einen Opel Astra von der Straße und blieb schließlich mit rauchendem Kühler in der Einfahrt zu einem Parkplatz liegen.

Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad waren durch den heftigen Aufprall der beiden Fahrzeuge nur für den Bruchteil einer Sekunde wach geworden. Bevor sie begreifen konnten, was passiert war, trugen auch sie schwere innere und äußere Verletzungen davon und verloren das Bewusstsein. Doch noch waren sie am Leben, die Anschnallgurte retteten sie vor dem sofortigen sicheren Tod.

Drei Fahrzeuge der Verkehrspolizeiinspektion Würzburg-Biebelried trafen als erste am Unfallort ein. Die Beamten sicherten die Unfallstelle und sperrten die Autobahn in Richtung Würzburg. Drei Minuten später heulten ein Kommandowagen, ein Einsatzleitwagen und ein Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeug der Berufsfeuerwehr Würzburg heran. Ihnen voraus fuhren zwei Sanitätsfahrzeuge und ein Notarztwagen, welche die zuständige Notdienst-Zentrale mobilisiert hatte. Am Unfallort sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall lagen verbogene Wagenteile und Reifenfetzen der beiden Unfallfahrzeuge herum. Nachfolgende Fahrzeuge verursachten einen kilometerlangen Stau. Ein Rettungshubschrauber jagte im Tiefflug heran und machte sich daran, auf dem naheliegenden Parkplatz zu landen.

Mueselim Ansari und Ibrahim al-Awad waren immer noch bewusstlos im Fond des Mercedes eingeklemmt. Von draußen machten sich die Rettungskräfte der Feuerwehr mit einer Rettungsschere an dem Fahrzeugwrack zu schaffen. Ein Polizeibeamter rief zwei Leichenwagen eines Bestattungsunternehmens herbei. Ein anderer orderte telefonisch Abschleppfahrzeuge für die beiden Wracks und für die beiden fahruntüchtigen Fahrzeuge, den Ford Focus und den Opel Astra. Der Fahrer und die Fahrerin der beiden Pkws standen unter Schock und bluteten aus Kopfwunden. Der anwesende Notarzt und die Rettungssanitäter kümmerten sich um sie. Als die beiden tadschikischen Terroristen aus dem Taxiwrack befreit waren, checkte der Notarzt ihren gesundheitlichen Zustand und ordnete an, dass sie mit dem Rettungshubschrauber sofort in die zentrale Notaufnahme der Klinik für Poliklinik, Unfall-, Hand-, Plastische- und Wiederherstellungschirurgie geflogen wurden. Wenige Minuten später hob der Hubschrauber ab. Die Aufräumungs- und Reinigungsarbeiten, Aufnahmen der Unfallsituation und die Sperrung der Autobahn dauerten insgesamt vier Stunden. Dann wurde die A3 wieder freigegeben.

Max Huber, Polizeihauptmeister der Verkehrspolizeiinspektion am Mainfrankenpark 53 a in Dettelbach, sah erstaunt auf den Bildschirm seiner Computeranlage. Soeben war eine E-Mail aus Kuwait eingegangen. Darin berichtete die Firmenleitung der Sandoil Co. Ltd, dass weder ein Ali Faroug, noch ein Abdul Kelim in ihren Diensten stünden. Zudem befände sich derzeit kein einziger ihrer Mitarbeiter auf einer Geschäftsreise in Europa. Auch von der Taxizentrale am Amsterdamer Flughafen Schiphol lag eine Nachricht vor: Arien van Gool, der tödlich verunglückte niederländische Taxifahrer, wollte zwei angekommene Fluggäste nach Würzburg bringen. Ziel der Fahrt war eine Pension „Zur Reblaus“ in der Schulstraße 28 in Würzburg.

Max Huber überprüfte sicherheitshalber erneut die persönlichen Dokumente, welche die Kollegen bei den beiden Verunglückten gefunden hatten. Die Namen beider Pässe deckten sich mit denen, welche auf den gefundenen Visitenkarten der Firma Sandoil standen. Max Huber war ratlos. Die beiden Unfallopfer waren nicht vernehmungsfähig. Einer hatte, neben diversen Knochenbrüchen, einen Leberriss abbekommen. Bei dem anderen stellten die Ärzte eine komplizierte Schädelfraktur fest. Max Huber rief bei der Kripo Würzburg in der Weißenburgstraße 2 an und schilderte den Fall. Die Kollegen versprachen, sich um die Sache zu kümmern. Als sie die persönlichen Sachen der Unfallopfer gesichtet, kurz in der Poliklinik vorbeigefahren waren, mit der Pensionswirtin in der Schulstraße 28 gesprochen hatten und einen Blick auf die eingeschalteten Mobiltelefone der Schwerverletzten geworfen hatten, informierten sie das BKA in Wiesbaden. Es war Samstag, das Bundeskriminalamt hatte nur die standardmäßige Notbesetzung. Ein Mitarbeiter nahm den Anruf der Kriminalpolizeiinspektion Würzburg entgegen, notierte sich die gemachten Angaben und versprach den Rückruf des zuständigen Mitarbeiters am Montagmorgen.

Die Zugfahrt von Yousat Khan und Shakir Yakisan verlief, bis auf eine halbstündige Verspätung, problemlos. Max Schneider stand am Sonntag, dem 13. Januar 2013, um elf Uhr am Gleis drei des Würzburger Hauptbahnhofs und wartete auf das Eintreffen des Zuges. Fünf Minuten später fuhr der ICE mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof.

Yousat Khan und Shakir Yakisan waren müde, aber guter Dinge. Als sie aus dem Bahnhofsgebäude traten, warfen sie einen Blick auf die mächtige Burg hoch oben auf dem Marienberg. Max Schneider war zu sehr auf die beiden konzentriert, so dass er die Schlagzeile der BILD am Sonntag in dem Zeitungskasten übersah. „Würzburg - Geisterfahrer verursacht tödlichen Unfall“, stand in großen Lettern auf der ersten Seite. Die drei Männer hatten vier Minuten zu laufen, dann nahmen die beiden Muslime auf dem Rücksitz des VW Passat Platz. Max Schneider klemmte sich hinters Steuer und startete den Motor. Bis zur Schulstraße würde er einige Zeit brauchen Sie lag weit vor den Toren des Stadtzentrums, in Rottenbauer, dem südlichsten Stadtteil Würzburgs. Abu Hassan Akbar hatte ihm aufgetragen, die beiden vom Bahnhof abzuholen, weiter zur Pension Zur Reblaus zu fahren, dort Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad abzuholen und alle vier nach Zell in den Dr.-Bolza-Ring zu bringen.

Dreißig Minuten später hielt Max Schneider vor der Privatpension. Er stieg aus und betrat den kleinen Empfangsraum. Hilde Breitblocker, Witwe und Pensionsinhaberin saß persönlich hinter dem Tresen und las die BILD am Sonntag. Sie schniefte und putzte sich die Nase. Höflich fragte Max Schneider nach den beiden Gästen aus Kuwait, welche gestern hier eintrafen und für die jeweils eine Übernachtung reserviert war. Hilde Breitblocker sah in mit großen Augen an.

„Du kost mii ämol am Aasch geläck“, fauchte sie ihn an. Dann machte sie ihm mit schriller Stimme klar, dass sie den ganzen Tag vergebens auf die Kanacken gewartet habe, obwohl sie eine starke Erkältung habe. „Der Doggder hadd gemeend, iich soll ama übahaubd ned naus ausm Naasd“, begründete sie ihre schlechte Laune. Max Schneider legte ihr wortlos einhundert fünfzig Euro auf den Tisch. Als er sich gerade zum Gehen abwenden wollte, fiel sein Blick auf die BILD am Sonntag. „Zwei Tote – Zwei Geschäftsleute aus Kuwait schwer verletzt“, lautete eine der Schlagzeilen im Innern des Blattes. Er riss den Zeitungsartikel an sich, legte nochmals zwei Euro als Entschädigung auf den Tresen und verließ wortlos die Pension. Hilde Breitblocker starrte ihm mit offenem Mund nach. Dann notierte sie sich das Kraftfahrzeugkennzeichen des sich entfernenden VW Passat.

Am Montagmorgen, kurz vor neun Uhr, meldete sich Klaus Kellermann vom BKA telefonisch bei der Kripo Würzburg und verlangte mit Kommissar Gerhard Kowalski verbunden zu werden. Das Gespräch dauerte fünfzehn Minuten, „… und als wir dann feststellen mussten, dass die beiden Schwerverletzten gar nicht bei Sandoil beschäftigt sind und auf ihren Mobiltelefonen offenbar Telefonadressen in Urdu abgespeichert sind, kam bei uns die Vermutung auf, dass es sich um Personen unbekannter Identität handeln könnte. Den Verdacht, dass wir es möglicherweise mit Terroristen zu tun haben, gewannen wir, als wir in einem der Gepäckstücke die Zeitschrift Inspire fanden, die von der Al-Qaida herausgegeben wird. Ob es sich bei den Reisepässen der beiden um Originale handelt, nun auch darüber sind zwischenzeitlich erhebliche Zweifel aufgekommen. Möglicherweise haben wir es mit sehr guten Fälschungen zu tun.“ Gerhard Kowalski beendete seine Zusammenfassung und wartete auf die Reaktion seines Gesprächspartners.

„Herr Kowalski“, sprach Klaus Kellermann, „zunächst bedanke ich mich für ihren ausführlichen Bericht, und es war richtig, uns zu informieren. Ich möchte Sie bitten, all das was Sie mir eben gesagt haben, in einem schriftlichen Bericht zusammenzufassen. Heute Nachmittag gegen sechzehn Uhr werde ich mit einem Kollegen vom BND bei Ihnen vorbeikommen und alle Unterlagen, Gebrauchsgegenstände, Reiseutensilien, Dokumente und Sonstiges bei Ihnen abholen. Bitte halten auch Sie sich für ein mögliches Gespräch zur Verfügung. Wir möchten auch mit der Pensionswirtin, Frau Hilde Breitblocker, sprechen, am besten in Ihrer Polizeiinspektion.“

 

Abu Hassan Akbar war aus zwei Gründen zu tiefst besorgt. Zum einen war er sich zwischenzeitlich ziemlich sicher, dass es sich bei den schwerverletzten Unfallopfern vom vergangenen Samstag um Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad handeln musste. Viel schlimmer war aber die Wahrscheinlichkeit, und das war seine Hauptsorge, dass die deutschen Polizeibehörden über die mit ihnen befreundeten Geheimdienste zwischenzeitlich die wahren Identitäten von Mueselim und Ibrahim herausgefunden hatten. Sollte seine Vermutung stimmen, könnte es noch sehr, sehr eng für den Rest der Gruppe werden. Noch achtzehn Tage bis zum geplanten Anschlag. Die Zeit war gegen sie. Abu Hassan beschloss, für einige Zeit aus der Gegend zu verschwinden. Selbst wenn es den deutschen Behörden gelang, ihre Identität aufzuklären, so wusste doch niemand, ob, wo und wann ein Terroranschlag stattfinden sollte. Der Anführer der Terroristen kam zu der Überzeugung, dass sie sich in eine sehr ländliche Gegend zurückziehen sollten, nicht zu weit weg, aber auch nicht in unmittelbarer Nähe von Zell und Veitshöchheim. Sie würden sich ein Appartement mit Küche, Bad und vier Zimmern mieten, sich still verhalten und abwarten. Er besprach die Situation mit Max Schneider. Der hatte eine Idee, wo sie sich die nächsten zwei Wochen verkriechen konnten. Früh am Morgen des 15. Januars machten sie sich auf den Weg und verließen, zumindest temporär, den Dr.-Bolza-Ring in Richtung Rhön. Seine drei selbst hergestellten Sprengsätze nahm Abu Hassan mit. Er war dabei, seinen Plan völlig umzuschmeißen. Erst am 31. Januar würde seine Gruppe nach Veitshöchheim zurückkehren, in einem Servicefahrzeug der Firma GLORIA Gmbh, mit der Werbeaufschrift

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auf beiden Türen. Max Schneider hatte in den nächsten beiden Wochen genügend Zeit, ein Fahrzeug und die aufklebbare Werbeschrift zu organisieren. Sie würden am 31. Januar mitten in die Generalprobe in die Mainfrankensäle platzen, jeder einen Feuerlöscher unter dem Arm, und unter jedermanns Augen die Sprengsätze gegen die vorhandenen Feuerlöscher austauschen. Das war am unverfänglichsten. Niemand würde Verdacht schöpfen. Jedermann würde die Austauschaktion als völlig normal empfinden. Tags darauf, wenn die Stimmung in den Sälen dem Höhepunkt zusteuerte, würde er persönlich auf dem Basisteil den roten Knopf drücken, und dann: BÄNG! Als die Terroristen sich aus dem Staub machten, setzte erst leichter und dann immer dichter werdender Schneefall ein. Der Winter war wieder zurück.

Das BKA und der BND lösten bundesweit höchste Alarmstufe aus. Sie rechneten mit einem bevorstehenden terroristischen Anschlag in oder in der Nähe von Würzburg, wussten aber nicht wann beziehungsweise wo. Sowohl der Bundesminister für Innere Angelegenheiten in Berlin, als auch sein bayerischer Kollege auf Länderebene wurden informiert. Eindeutige Warnhinweise erhielten die restlichen Bundesländer. „Pannen wie bei der NSU-Affäre können wir uns nicht mehr leisten“, warnte der Bundesinnenminister.

„Wir müssen die Scheiß-Islamisten aufhalten“, setzte sein bayerischer Kollege aus Erlangen hinzu, „notfalls mit Gewalt.“ Der Ausdruck „Scheiß-Islamisten“ brachte ihm in den Folgetagen herbe Kritik in den Medien ein.

Die Ergebnisse der aktuellen Ermittlungen bestätigten den Verdacht auf einen bevorstehenden Terrorakt. Die Auswertung der Mobiltelefone von Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad deutete auf Verbindungen zu dem gefährlichen Al-Qaida-Mann Al-Turabi hin. Desweiteren zeigte die Anrufliste Telefonate mit Abu Hassan Akbar, einem Yousat Khan, einem Shakir Yakisan, und einer Vielzahl weiterer islamischer Namen. Der BND schickte die Namensliste sowie Fotografien von Mueselim Ansari und Ibrahim al-Assad an befreundete Dienste, wie das britische MI6, an die US-amerikanische CIA und an den israelischen Mossad. Die Antworten der drei Geheimdienste waren eindeutig. Die beiden Schwerverletzten, wie auch ihre drei Kumpane, wurden identifiziert. Die CIA bestätigte, dass sich alle fünf erst kürzlich in einem Ausbildungslager der Al-Qaida, im Swat-Tal aufgehalten hatten. Wo sie sich derzeit aufhielten? Keine Ahnung, sie waren von der Bildfläche verschwunden. Daraufhin wurden auf allen europäischen Flughäfen die Überwachungskameras von Ankommenden aus dem Nahen Osten und aus Fernost überprüft. Sowohl in Rom, als auch in Wien wurden die Geheimdienste fündig.

Sorgen bereitete den Fahndern die Hinweise, dass es offensichtlich Unterstützer in Deutschland gab. Die Witwe Hilde Breitblocker bestätigte eindeutig, dass sie mit einem Deutschen gesprochen habe, der die beiden vermeintlichen Gäste abholen wollte. Ungefähr einen Meter achtzig groß, blond, kräftig gebaut, blaue Augen und einen ebenso blonden Rauschebart. Auf dem Haupt ein weißes, gehäkeltes Käppi und ansonsten eigenartig gekleidet. Das Kraftfahrzeugkennzeichen, welches sich die Witwe notiert hatte, führte zu keinem Fahndungserfolg. Auf das Kraftfahrkennzeichen aus dem Landkreis Erlangen-Höchstadt war kein VW Passat zugelassen, sondern ein Ford C-Max, Baujahr 2008. Als die Landpolizei Höchstadt an der Aisch die Eigentümerin des Fords befragte, war diese immer noch völlig außer sich: „Dees Kennzeichn hamms mer gschduhln. Blooß dees Kennzeichn! Warum ned aa dees Audo? Dann häddi wenigsdens vo der Versicherung was grichd.“

Klaus Kellermann und sein Kollege aus Pullach, Herr Peter Hintermooser, steckten in ihrer Ermittlungsarbeit fest. Sie kannten die Akteure, bis auf den oder die deutschen Helfer. Zwei Terroristen lagen nicht vernehmungsfähig im Krankenhaus und rangen mit dem Tod, die anderen, die sich vermutlich auch in oder um Würzburg aufhielten (oder war/ist Würzburg nur eine Zwischenstation?), waren wie vom Erdboden verschluckt. Die Zeit lief den Ermittlern und ihren Kollegen davon. Auf Anregung des Polizeipräsidenten Würzburg, welcher Unterstützung durch den Bundesinnenminister erhielt, wurde die Sonderkommission „Faschingskehraus“ gebildet. Vom Mossad kam noch die Information, dass Abu Hassan Akbar unter dem Namen David Morgenstern nach Österreich eingereist sei. Doch das brachte die Fahnder vom BKA und BND nicht wirklich weiter.

Während die Ermittler sich die Köpfe zerbrachen und Überstunden schoben, hatten sich Abu Hassan Akbar, Shakir Yakisan, Yousat Khan und ihr deutscher Helfer in dem kleinen Weiler Emmerichsthal, im oberen Steinbachtal, einquartiert. Hier lag das Ende der Welt, ganz in der Nähe der bayerisch-hessischen Grenze. Die winzige Ortschaft lag weit auseinander gezogen im romantischen Steinbachtal, beidseitig von sanften, bewaldeten Hügeln eingerahmt, und gehörte zu der Gemeinde Obersinn. Das bereits etwas betagte, aber möblierte Zweifamilienhaus, in dessen verwildertem Bauerngarten das Schild „Auch kurzzeitig zu vermieten“ stand, gehörte Frau Barbara Stieler, welche, gemeinsam mit ihrem Mann, in Obersinn einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb unterhielt.

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