ad Hannah Arendt - Eichmann in Jerusalem

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Arendts Israelperspektive

Arendt reiste mit allerhand israelkritischen Auffassungen nach Jerusalem. Als Gegnerin des Teilungsplans, als Fürsprecherin einer jüdisch-arabischen (palästinensischen) Verständigung war die einstige Zionistin eine Kritikerin der Staatsgründung von 1948 und somit des Ben-Gurion-Staats. Die Schaffung eines jüdischen Nationalstaats inmitten von feindlichen Nachbarn erachtete sie als ein politisch höchst gefährliches, gar selbstmörderisches Unterfangen. Die »Vernunftzionistin«1 betrachtete aber das Recht der Juden auf eine Heimstätte in Palästina sowie nach dem Holocaust die Einwanderung der in Lagern (Camps für sogenannte Displaced Persons) festgehaltenen Überlebenden in das britische Mandatsgebiet als gerechtfertigte historische Notwendigkeit. Den 1948 mit dem Segen der Vereinten Nationen gegründeten, auf externe Hilfe und Unterstützung angewiesenen Staat hielt sie jedoch für einen nationalistischen Irrweg, der keine friedliche Zukunft versprach.

Bereits im März 1945 schrieb Arendt nicht ohne Prophetie im New Yorker Aufbau: »Ein Jüdisches Nationalheim, das von dem Nachbarvolk nicht anerkannt und nicht respektiert wird, ist kein Heim, sondern eine Illusion – bis es zu einem Schlachtfeld wird.«2 Arendt war keineswegs eine kompromisslose Antizionistin. Der Weg, den sie zusammen mit Martin Buber und Judah Leon Magnes präferierte, darf angesichts der desolaten Situation im Nahen Osten heute noch als die einzig friedliche, nicht repressive, auf Ausgleich und Partnerschaft setzende, wenn auch utopische Notwendigkeit gelten.3

Neben ihren Bedenken angesichts der ungeklärten Rechtsfragen hatte Arendt erhebliche politische Besorgnisse. Sie resultierten aus ihrer zionismuskritischen Haltung und ihren Einwänden gegen die nationalistischen Bestrebungen der Jerusalemer Regierung. So meinte sie Monate vor Prozessbeginn: »Nehmen wir an, der Prozeß wird tadellos geführt. Dann habe ich die Befürchtung, daß Eichmann erstens beweisen kann, daß kein Land Juden wollte (also die Art von zionistischer Propaganda, die Ben Gurion will und die ich für ein Unheil halte) und zweitens demonstrieren wird, in welchem ungeheuerlichen Ausmaß die Juden mitgeholfen haben, ihren Untergang zu organisieren. Dies ist zwar die nackte Wahrheit, aber diese Wahrheit, wenn sie nicht wirklich erklärt wird, könnte mehr Antisemitismus erregen als zehn Menschenraube. Es ist leider eine Tatsache, daß Herr Eichmann persönlich keinem Juden ein Haar gekrümmt hat, ja daß sogar die Auslese derer, die verschickt wurden, nicht von ihm oder seinen Helfershelfern besorgt worden ist.«4

Die zuerst genannte, historisch verbürgte Tatsache war Arendt eigentümlicherweise keine nackte Wahrheit, die die Staatengemeinschaft zu ihrer Beschämung und die Weltöffentlichkeit unbedingt zu wissen hatten. Die andere, durchaus strittige hingegen ein offenbar feststehender, wenn auch noch zu erklärender Sachverhalt.

Unschwer erkennbar ist, welche Spuren Raul Hilbergs unveröffentlichte Arbeit5 über die Vernichtung der europäischen Juden neben León Poliakovs Werk Bréviaire de la Haine6 und H. G. Adlers Theresienstadt-Buch7 in ihrer Darstellung hinterlassen hatten. Überzeugende Beweise blieb sie freilich, wie noch zu zeigen ist, für nicht wenige von ihr behauptete Tatsachen schuldig. Arendts Denken »ohne Geländer«8 war mitunter recht freihändig und setzte ihr Werk erwartbarerweise der Kritik aus.9

Der Prozess: Rechtsgrundlagen

Die im Dezember 1948 von den Vereinten Nationen beschlossene Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermord hatte Israel 1949 ratifiziert und sich verpflichtet, die Strafnorm in die nationale Gesetzgebung aufzunehmen. Im März 1950 verabschiedete die Knesset das entsprechende Gesetz.1 Doch für den jungen Staat gab es noch ein innenpolitisches Problem, das gesetzgeberisch zu lösen war. Holocaust-Überlebende hatten gegen ehemalige Funktionshäftlinge und Ghettopolizisten Anzeige erstattet. Ihr Vorwurf war, die Beschuldigten hätten als Handlanger, als Kollaborateure der SS Verbrechen an Juden begangen.

Das geltende Strafrecht Israels bot keine Handhabe, diese vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs im besetzten Europa verübten Taten zu ahnden. Um inneren Frieden herstellen zu können, erließ die israelische Legislative im August 1950 das »Gesetz zur Bestrafung von Nazis und Nazikollaborateuren« (»Nazis and Nazi Collaborators (Punishment) Law«).2 Das retroaktive und exterritoriale Gesetz führt neben Crimes against the Jewish People, Crimes against Humanity, War Crimes und Membership in Enemy Organization auch Straftatbestände des geltenden israelischen Strafgesetzbuches auf. Die Besonderheit des Gesetzes war, dass die Strafnormen auf Handlungen Anwendung fanden, die während der Naziherrschaft im feindlichen Ausland (»enemy country«) an einem Verfolgten (»persecuted person«) in einem Lager oder Ghetto (»place of confinement«) begangen worden waren.

Mit dem Gesetz ließen sich rückwirkend die Verbrechen ahnden, die nunmehrige israelische Bürger im »Dritten Reich« und in den besetzten Ländern in der Zeit von 1933 bis 1945 verübt hatten.3 Somit stellte das Gesetz »eher eine innerisraelische Angelegenheit dar denn eine zwischen den überlebenden Opfern des Holocaust und dem Staat, der sie repräsentierte, auf der einen Seite und denjenigen, die den Holocaust zu verantworten hatten, den Nationalsozialisten und dem Dritten Reich, auf der anderen Seite«.4

Vor dem Eichmann-Prozess gab es in Israel sogenannte Kapo-Prozesse. Vormalige Funktionshäftlinge, der Kollaboration mit der SS beschuldigt, mussten sich verantworten.5 Meist fielen die Strafen milde aus. Einige Angeklagte wurden freigesprochen. In einem Fall erkannte das Gericht auf die Höchststrafe.6 Der Oberste Gerichtshof gab jedoch der Berufung statt, sah den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschheit nicht erfüllt, kassierte die Todesstrafe und milderte sie auf zwei Jahre Gefängnis.7

Die materiellen Rechtsgrundlagen für den zu führenden Prozess waren 1961 mithin gegeben. Einige Probleme des Verfahrensrechts, die der bevorstehende Strafprozess aufwarf, löste der Gesetzgeber recht unkonventionell.

»Lex Servatius«

Nach dem geltenden Recht konnte nur ein Rechtsanwalt, der israelischer Staatsbürger war, vor einem israelischen Gericht einen Mandanten vertreten. Israelische Anwälte erklärten sich bereit, Eichmann zu verteidigen. Die Regierung verwarf jedoch aus vielfältigen Gründen diese Option. Kein Israeli sollte Eichmanns Rechtsbeistand sein können.8

Ein neu geschaffenes Gesetz ermöglichte einem ausländischen Anwalt vor einem israelischen Gericht als Verteidiger zu fungieren. Eichmanns Familie fand in Robert Servatius (1894–1983) einen Anwalt ihres Vertrauens. Der Untersuchungshäftling akzeptierte den Kölner Juristen. Unklar blieb zunächst die Bezahlung. Bonn weigerte sich, die Anwaltskosten zu tragen. Israel sah sich gezwungen, für das Honorar aufzukommen.

»Lex Halevi«

Gemäß dem geltenden Gerichtsgesetz war es das Recht eines Bezirksgerichtspräsidenten, für seinen Zuständigkeitsbereich die Zusammensetzung eines Gerichts zu bestimmen. Der Fall Eichmann sollte in Jerusalem verhandelt werden. Präsident des dortigen Bezirksgerichts war Benjamin Halevi (1910–1996). Er erklärte seine Absicht, sich selbst zu benennen, mithin den Vorsitz im Eichmann-Prozess übernehmen zu wollen. Gegen den Richter gab es aber juristische Bedenken.9 Auch politische Einwände spielten eine gewichtige Rolle.

Halevi hatte 1954 im Verfahren Attorney General vs. Malkiel Gruenwald den Prozess als alleiniger Richter geführt. In dem Streitfall ging es um die Frage, ob der Angeklagte Gruenwald in einem 1952 verbreiteten Pamphlet den Regierungsbeamten Israel Kasztner10 verleumdet hatte. Der als Retter und Helfer von Juden geltende Kasztner, führendes Mitglied des Hilfs- und Rettungskomitees (Vaada) in Budapest, war von Gruenwald der Kollaboration mit der SS bezichtigt worden.

Im Sommer 1944 hatte das »Sondereinsatzkommando Eichmann« mit maßgeblicher Hilfe der ungarischen Gendarmerie innerhalb von acht Wochen 438.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert. Kasztner war es durch Verhandlungen gelungen, im Juni 1944 einen Zug mit circa 1700 Juden außer Landes zu bringen. Über das Lager Bergen-Belsen gelangten die Insassen des »Kasztner-Zugs« im August und im Dezember 1944 in die Schweiz. Unter den Geretteten waren auch Familienangehörige Kasztners aus seinem Heimatort Klausenburg (Cluj/Kolozsvár).

Der seinerzeitige Generalstaatsanwalt Chaim Coh(e)n wollte mit einer Klage gegen den Pamphletisten die Sache richterlich aufklären lassen. Er war der Ansicht, entweder müsse Kasztner im Fall der Richtigkeit der vorgebrachten Anschuldigungen nach dem Gesetz gegen Nazis und Nazihelfer als Kollaborateur belangt werden. Oder aber Gruenwald habe im Fall der richterlich festgestellten Verleumdung eines ehrenwerten und untadeligen Staatsdieners und einstigen Judenretters die rechtlichen Folgen zu tragen.11

Der gegen den Willen Kasztners von Coh(e)n angestrengte Prozess hatte fatale Folgen. Halevi sprach in dem turbulenten Verfahren den Angeklagten von den Anklagepunkten der Verleumdung und der üblen Nachrede frei. Hinsichtlich der Anwürfe Gruenwalds meinte er, Kasztner habe bei seinen Verhandlungen mit der SS »seine Seele dem Teufel verkauft«.12 Mit der schwerlich juristisch zu nennenden Bezeichnung »Teufel« meinte Halevi Kasztners Hauptverhandlungspartner Eichmann.13 Überdies nannte er den Gegenspieler Kasztners einen »Bloodhound«.14

 

Äußerst nahe lag daher, Halevi im zu führenden Verfahren gegen Eichmann als voreingenommen und befangen zu betrachten. Zumindest musste befürchtet werden, dass der Angeklagte Eichmann und sein Verteidiger gegenüber einem Vorsitzenden Halevi diese Besorgnis vorbringen und ihn deshalb ablehnen würden. Alle Versuche, Halevi von seinem Vorhaben abzubringen, den Vorsitz übernehmen zu wollen, scheiterten. Die Verantwortlichen entschieden sich in ihrer misslichen Lage für einen rechtsstaatlich freilich bedenklichen Schritt. Sie änderten kurzerhand das Gerichtsgesetz, um Halevi zu verhindern. Nach dem neuen Gesetz bestimmte der Präsident des Obersten Gerichtshofs den Vorsitzenden Richter. Er musste dem Obersten Gerichtshof angehören. Im Fall der Ernennung der beiden Beisitzer blieb es bei der alten Regelung. Sie sollten weiterhin Bezirksrichter sein.

Doch nicht allein die in Zweifel gezogene Unparteilichkeit Halevis war der Grund für die flugse Gesetzesänderung. Mit seinem Urteil im Gruenwald-Verfahren, das im Grunde eine moralische Verurteilung Kasztners gewesen war, hatte sich der Jurist bei der Regierung Ben Gurion unliebsam gemacht. Unter seinem Vorsitz war »das Verfahren zu einer Anklage gegen die politische Führung des vorstaatlichen Jischuw in der Zeit des Holocaust geworden, die jetzt, rund zehn Jahre danach, identisch mit der Staatsführung war«.15 Halevi hatte sich mit seiner Gerichtsentscheidung auf die Seite der politischen Gegner des Ministerpräsidenten geschlagen. Ein in den Augen Ben Gurions derart politisch unzuverlässiger Richter durfte im so überaus wichtigen Eichmann-Fall keinesfalls den Vorsitz übernehmen. Ins Gewicht fiel auch, dass der Oberste Gerichtshof 1958 Halevis Urteil aufgehoben und Kasztner rehabilitiert hatte. Dieser konnte sich der Wiederherstellung seines guten Rufs nicht mehr erfreuen. Ein Jahr vor der Entscheidung des Supreme Court war er von einem Extremisten ermordet worden.16

In der gleichsam offiziellen Darstellung der Rechtsgrundlagen des Eichmann-Prozesses von Nathan Cohen, für die deutsche Leserschaft geschrieben, ist von den politischen Hintergründen des neuen Gesetzes mit keinem Wort die Rede. Eine Begründung, warum das Gesetz geschaffen und die bisherige Justizpraxis geändert wurde, gibt Cohen nicht. Lapidar heißt es bei ihm: »Unter den wichtigsten Paragraphen« des »Gerichtsgesetzes (Vergehen, die die Todesstrafe zur Folge haben)« befindet sich »der Paragraph, der festlegt, daß der Gerichtsvorsitzende in derartigen Fällen aus dem Richterkollegium des Obersten Gerichtshofes gewählt wird, während die zwei anderen Richter Distriktsrichter sein müssen.«17 Auch Generalstaatsanwalt Gideon Hausner (1915–1990), Chefankläger im Eichmann-Prozess, liefert in seinem Buch über das Verfahren eine irreführende Darstellung. Er verschweigt sogar, dass das Verfahrensrecht geändert worden ist. Bei ihm ist zu lesen: »Die Zusammensetzung des Gerichts wurde bekanntgegeben. Entsprechend der Prozeßordnung für die wenigen Vergehen, auf welche in Israel als Höchststrafe der Tod steht […], mußte bei der Verhandlung ein Richter des Obersten Gerichtshofs den Vorsitz übernehmen.«18

Das neue Gesetz schaltete, wie gesagt, den umstrittenen Halevi nicht gänzlich aus. Als Bezirksgerichtspräsident konnte er die beiden Beisitzer bestimmen. Gegen den Rat von Kollegen ernannte er sich selbst. Seinen Tel Aviver Kollegen Itzak Raveh (1906–1989) zog er bei. Die Befürchtung, Halevi könnte wegen seines Gruenwald-Urteils von Eichmanns Verteidiger Servatius abgelehnt werden, bestätigte sich nicht. Die Verteidigung hielt das gesamte Gericht für befangen, weil die Richter Juden waren.

»Lex Kaul«

Den politischen Ambitionen von Friedrich Karl Kaul, dem Kronjuristen der SED, der in Jerusalem als Vertreter von Nebenklägern aufzutreten gedachte, schob der israelische Gesetzgeber gleichfalls einen Riegel vor. Zivile Nebenkläger wurden nicht zugelassen, das Gesetz ermöglichte ihnen jedoch, im Rahmen eines getrennten Verfahrens zu klagen. Kaul, der sein Ersuchen zunächst schriftlich vorgetragen hatte und später mit Israels Justizminister Pinchas Rosen und Generalstaatsanwalt Gideon Hausner eine Besprechung führte, musste sich mit der Rolle des Beobachters begnügen.19 Der Anwalt übergab der Anklagevertretung Dokumente und benannte zwei Überlebende aus der DDR, die als Zeugen geladen werden sollten. Die Anklagevertretung verzichtete jedoch auf sie. Kaul wurde auch anderweitig aktiv. Auf einer Pressekonferenz gab er vor, die Hauptschuldigen für den Holocaust in Bonn ausgemacht zu haben. Nicht nur Kaul, auch Rechtsanwalt Shmuel Tamir sollte daran gehindert werden, als Nebenklagevertreter zu agieren.20 Tamir war Malkiel Gruenwalds Anwalt gewesen und verfolgte eine politische Agenda, die der Regierung missfiel.

Arendts Prozessbeobachtung

Der »Reporter at large«1 Arendt konnte sich in den von ihr besuchten Gerichtssitzungen schwerlich ein rechtes Bild von dem Angeklagten machen. Nach der Verlesung der Anklageschrift2 durch den Vorsitzenden Richter Moshe Landau (1912–2011) wurde über Anträge der Verteidigung verhandelt und über Verfahrensfragen gestritten.

Unverständlicherweise monierte Arendt bereits nach vier Sitzungen den nach dem geltenden Gerichtsgesetz wohl unvermeidlichen Umstand, dass die Gerichtssprache Hebräisch war.3 Das Eröffnungsplädoyer4 von Generalstaatsanwalt Hausner, während dreier Sitzungen mit rhetorischem Aufwand vorgetragen, zeichnete allerdings kein angemessenes Bild von Tun und Lassen Eichmanns, den Arendt für einen »desk murderer par excellence«5, Hausner hingegen für den zentralen, allmächtigen Akteur der »Endlösung« hielt.6

Den nachfolgenden Vernehmungen, zunächst von zwei Angehörigen der Israel-Polizei7 und einem Historiker (Salo Baron), sodann von sogenannten »Hintergrundzeugen« (EJ, S. 269) und Überlebenden, galt Arendts Interesse in geringem Maße. Kaum eine Vernehmung scheint sie beeindruckt zu haben. Eine der wenigen Ausnahmen war die Aussage von Zyndel Grynszpan (EJ, S. 271–273), dessen Sohn Herschel 1938 in Paris das Attentat auf den Botschaftsmitarbeiter Erich vom Rath verübt hatte.8 Nicht jede Sitzung scheint Arendt überdies im Gerichtssaal präsent gewesen zu sein.9 Am 5. Mai 1961, nach 17 im Gericht verbrachten Tagen, reiste sie recht unverrichteter Dinge ab.10 29 von insgesamt 121 Gerichtssitzungen11 (Sessions) hatte sie besucht und 38 von insgesamt 110 Zeugen12 gehört. Private Planungen hatten Vorrang gegenüber einer möglichen Fortsetzung der Prozessbeobachtung.13

Eichmann war bis zu Arendts Abreise noch nicht zu Wort gekommen. Sein bei jedem der 15 Anklagepunkte in der 6. Gerichtssitzung vorgetragener Satz »Im Sinne der Anklage nicht schuldig«14 war die längste Verlautbarung des strammstehenden Angeklagten im Glaskasten.15 Vom Tonband des Polizeiverhörs war er allerdings während der Vernehmung von Avner Werner Less (1916–1987) ausführlich zu hören gewesen.16

Eichmann kam erst nach dem Ende der Beweisaufnahme ausführlich zu Wort.17 Seine Befragung im Zeugenstand durch seinen Verteidiger nahm 14 Sitzungen in Anspruch. Das Kreuzverhör durch die Anklagevertretung dauerte noch eine Sitzung länger. Auf zwei Sitzungen beschränkten sich die drei Richter bei ihrer Befragung.18 Aus Sicherheitsgründen hatte das Gericht auf Antrag der Anklagevertretung beschlossen, dass Eichmann in seiner Glaskabine verblieb und nicht im ungeschützten Zeugenstand Platz nahm.

Nur zu Beginn von Eichmanns Einvernahme durch seinen Rechtsbeistand war Arendt nochmals für wenige Tage (20. bis 22. Juni 1961, drei Gerichtssitzungen) nach Jerusalem zurückgekehrt, um »Eichmann on the witness stand zu sehen«.19

Festzustellen ist mithin, dass Arendt, gleich dem Historiker, nicht aber dem genuinen Gerichtsreporter, weitgehend über ein papierenes Wissen von Eichmann und seinem Prozess verfügte, auch wenn anzunehmen ist, dass sie die Fernsehberichterstattung über den Prozess in den USA verfolgte. Unrichtig will es deshalb scheinen, von der »Arendtschen Augenzeugenschaft«20 bzw. von »Augenzeugen-Geschichtsschreibung«21 zu sprechen.

Die drei Sitzungen, in denen Arendt im Juni 1961 Eichmann bei seiner Vernehmung durch seinen Verteidiger »erlebte«, haben schwerlich ausgereicht, sich ein Bild von dem Angeklagten in natura zu machen.22 »Mitangehört« (EJ, S. 100) hat sich Arendt, wie dargelegt, nur rund ein Viertel der Gerichtsverhandlung, »beigewohnt […] der langen Lektion in Sachen menschlicher Verruchtheit« (EJ, S. 300)23 hat sie während des Kreuzverhörs durch Anklagevertretung und Gericht gerade nicht. Zurecht bemerkte deshalb Deborah Lipstadt: »But she was not in the courtroom during the most crucial moments of« Eichmanns »testimony. In fact, she was absent for much of the trial.«24

Diese Feststellung ist freilich kein genereller Einwand gegen Arendt, sondern dient allein der Darlegung der Entstehungsgeschichte ihres Reports. Gleichwohl ist zu bemerken, dass sie sich über die Dauer ihrer Präsenz im Gerichtssaal ausschweigt. Es wäre fraglos ein Gebot der Redlichkeit gewesen, den Unterschied zwischen Prozessbeobachtung vor Ort und dem in New York am Schreibtisch erfolgten Studium und Auswertung der ihr zugegangenen umfangreichen Prozessunterlagen deutlich zu machen. Selbst in ihrem Briefwechsel mit dem umstrittenen Zeugen Fülöp Freudiger lässt Arendt Transparenz vermissen. Das während seiner Aussage von einem Prozessbesucher angefeindete Mitglied des Budapester Judenrats (EJ, S. 160 f.) meinte in einem Brief an Arendt, sie habe ihn im Verhandlungssaal gehört.25 In ihrer Antwort klärte sie das Missverständnis nicht auf.26 Freudiger war drei Wochen nach Arendts Abreise in den Zeugenstand getreten. Arendts Darstellung des Zwischenfalls liest sich freilich so, als ob sie ihn tatsächlich erlebt hätte.

Bereits wenige Tage nach der Prozesseröffnung (11. April 1961) hatte sich Arendt schon ein recht persönliches, von Affekten und Ressentiments nicht freies Bild von den Akteuren in Jerusalem gemacht. Eichmann erschien ihr »wie ein Gespenst«, nicht »einmal unheimlich« und »nur darauf bedacht, die Haltung nicht zu verlieren«.27 Chefankläger Hausner, sein Eröffnungsplädoyer (17./18. April 1961) hatte er noch gar nicht gehalten, war ihr schlicht »ein galizischer Jude, der ohne Punkt und Komma spricht, sich dauernd wiederholt und widerspricht, gelehrt tut, wie ein beflissener Schüler, der zeigen will, was er alles weiß«.28 Gegenüber Jaspers meinte sie despektierlich, Hausner sei »typisch galizischer Jude, sehr unsympathisch, macht dauernd Fehler. Vermutlich einer von denen, die keine Sprache können«.29 An ihren Mann Heinrich Blücher schrieb sie gar: »Übrigens der Prosecutor wird immer ekelhafter«.30 Hausner, 1915 in Lemberg geboren, war 1927 nach Palästina ausgewandert.31 Schwerlich anzunehmen, dass sein Hebräisch schlechter war als das der drei Richter, die 1933 ins Exil nach Palästina gegangen und älter als Hausner waren.

Mit welchen Vorurteilen Arendt im Gerichtssaal saß, macht auch folgende, äußerst befremdliche Bemerkung deutlich: »Mein erster Eindruck: Oben die Richter, bestes deutsches Judentum. Darunter die Staatsanwaltschaft, Galizianer, aber immerhin noch Europäer.«32 Hausners Kollegen Gabriel Bach (*1927) und Yaakov Bar-Or (1916–2008) waren in Halberstadt und Frankfurt am Main geboren.

Nicht zu übersehen und nicht zu tabuisieren ist mithin, dass »Arendts Bemerkungen über Israel und die Israelis« in ihrer Korrespondenz »nachgerade rassistische Untertöne«33 aufweisen. Eichmanns Verteidiger Servatius zeichnete sie als »ein[en] ölige[n], geschickte[n] und sicher durch und durch korrupte[n] Herr[n], aber erheblich gescheiter als der Staatsanwalt«.34

Wie wenig Geduld sie für den Verlauf des Strafverfahrens aufbrachte, wie wenig sie sich wirklich auf die Rolle einer Prozessbeobachterin einließ, belegen ihre Einlassungen nach gerademal fünf Gerichtssitzungen. An Blücher schrieb sie, sie sitze »vorläufig […] von morgens bis abends im Gerichtssaal, hoffe aber doch, daß dies in der nächsten Woche nicht mehr nötig sein«35 werde. Wenige Tage später musste sich die erstaunlich unwillige Gerichtsreporterin in ihrer fraglos ungewohnten Rolle eingestehen, dass das »Gespenst in der Glaskiste« ihr immer noch unbegreiflich sei: »Das Ganze stinknormal und unbeschreiblich minderwertig und widerwärtig. Verstehen tue ich es noch nicht, aber mir ist, als ob der Groschen irgendwann einmal fallen wird, nämlich bei mir.«36

 

Arendts Erkenntnisverlangen stand mit ihrem Wunsch, möglichst bald Jerusalem verlassen zu können, in Widerstreit, meinte sie doch, sie wolle »so schnell wie möglich weg, aber auch nicht so, daß ich etwas Wesentliches versäume«.37 Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass Arendt die Überlebenden der Vernichtungslager Chełmno, Sobibór, Treblinka, Auschwitz und Majdanek (vom Todeslager Bełżec wohnte kein Überlebender in Israel)38 und viele andere überaus wichtige Zeugen nicht gehört, die Kreuzverhöre der Anklagevertretung und des Gerichts nicht erlebt hat, liegt die Feststellung nahe, dass sie entgegen ihrem Wunsch doch sehr Wesentliches versäumt hat.

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