Heinrich Zschokke 1771-1848

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Burgheim gehörte zu den Schauspielern, die im November 1787 dem kleinen Trupp der Marianne Köppi entsprungen waren, um sich in Schwerin engagieren zu lassen. Im Herbst 1788 kündigten die Mitglieder der ehemaligen Köppischen Gesellschaft, die bis zu diesem Zeitpunkt in Schwerin geblieben waren, und zogen mit einer neuen Truppe nach Prenzlau, der Hauptstadt der Provinz Uckermark. Es gelang Burgheim, Zschokke zur Mitreise zu bewegen, wozu es keiner grossen Überredungskünste bedurfte.97 Vermutlich empfand Zschokke den Aufenthalt in Schwerin zunehmend als Belastung, als ein Hindernis auf seiner Karriere zum Dichter und Gelehrten. Es reizte ihn, sich ganz seiner Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen und die Produkte seiner Tätigkeit gewürdigt und aufgeführt zu sehen. Hierzu bot ihm Burgheim bessere Perspektiven als Bärensprung, nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht. Zschokke beschrieb ein Jahr später Behrendsen sein Verhältnis zu Burgheim: «Ich war [...] fast täglich in seinem Hause – wir arbeiteten gemeinsam – ich konnt es ihm nicht versagen, ging mit und erhielt ausser 4 Rth.98 wöchentl[icher] Gage, freies Logis und Mittagsessen an seinem Tisch. Ich ging, nicht sowol als Schauspieler, denn hiezu war ich die Person nicht, sondern vielmehr als Dichter und Korrespondent seines Theaters mit, befand mich überaus glüklich dabei und er ist noch stets mein Freund.»99

Es wird nicht ganz klar, wer Direktor dieser Theatertruppe war. Zschokke behauptete, es sei Burgheim gewesen; offiziell firmierte sie aber, mindestens seit Februar 1789, als Hubersche Gesellschaft.100 Wandernde Gesellschaften waren bis um 1800 noch der Normalfall im Theaterwesen. Die meisten grossen Schauspieler wie Ekhof, Ackermann oder Schröder hatten ihr Debüt so erlebt und waren jahrelang mit einer Truppe herumgezogen.101 Später hatten sie selber solche Gesellschaften gegründet und geleitet, die, im Fall von Ekhof in Gotha, Schröder in Hamburg und Bellomo in Weimar, den Stamm einer stehenden Bühne bildeten. Solche fest installierten Theater mit eigenem Ensemble entstanden 1766 als Leipziger Schauspielhaus, 1774 als Gothaer Hoftheater, 1776 als Wiener und 1779 als Mannheimer Nationaltheater. Daneben zogen noch zahlreiche Theatergesellschaften mit ihren Prinzipalen in Deutschland herum; sie wurden aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts teilweise von den festen Bühnen übernommen, so die Carl Döbbelinsche 1795 vom Magdeburger Theater.

Nur Fürsten und wohlhabendere Städte mit kulturbeflissenen Mäzenen konnten sich ein stehendes Theater leisten. Es war normalerweise ein (kostspieliges) Zuschussunternehmen und griff die Privatschatulle des Fürsten oder die Steuereinnahmen der Stadt empfindlich an. Wandertheater waren preiswerter im Unterhalt. Man musste ihnen nur einen Saal zur Verfügung stellen und konnte erst noch an den Einnahmen partizipieren: durch Gewerbesteuern oder Vorstellungen, deren Erlös der Armenkasse zugute kam. Zudem belebte der Theaterbetrieb einheimisches Handwerk und Gewerbe, die Gastwirte, die Schneider, Schreiner und Maler für Kostüme oder den Kulissenbau. Das waren Vorteile, mit denen sich jede wandernde Truppe einem Magistrat beliebt zu machen suchte.102

Die Gesellschaften blieben, solange Interesse an ihren Vorstellungen bestand oder bis ihr Repertoire von vier bis sechs Stücken pro Woche durchgespielt war. Es konnte vorkommen, dass die Bürger mit den Aufführungen so unzufrieden waren, dass sie buhten, pfiffen, die Bühne stürmten und ihr Geld zurückverlangten. Dann hiess es für die Truppe, sich bei Nacht und Nebel davon zu stehlen und ihr Glück anderswo zu versuchen. Die Theatergesellschaft von Burgheim machte diese Erfahrung wohl mehr als einmal. Sobald sich die Zuschauerreihen lichteten und die Tageseinnahmen schmolzen oder im Sommer, wenn es die Menschen ins Freie zog statt in einen schlecht gelüfteten Saal, wanderte die Truppe weiter, falls nicht ohnehin eine begrenzte Spieldauer vereinbart war. Zum Abschluss der Saison wurde gern noch eine Redoute gegeben, ein choreografierter Maskenball, bei dem sich biedere Bürger unter das lustige Schauspielervolk mischten.

Schon das Eintreffen einer fremden Theatertruppe mit ihren bunten Wagen war in kleineren Städten wie Prenzlau (weniger als 7000 Einwohner) ein Ereignis: kostümierte Menschen, die durch die Strassen ritten oder gingen und mit kurzen szenischen Darstellungen die Aufmerksamkeit auf sich zogen, Theaterzettel verteilten oder an die Hausmauern klebten und auch sonst für Wirbel und Trubel sorgten. Ihr Einzug muss oft Ähnlichkeit gehabt haben mit dem des Rattenfängers von Hameln: Eine grosse Kinderschar begleitete die Wagen, belagerte die Quartiere der Schauspieler, wartete gespannt vor dem Theater, wo die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, und begleitete sie auch wieder zur Stadt hinaus, falls die Truppe es nicht vorzog, sich in aller Frühe und unerkannt zu verziehen.

Dann rückte der Abend der ersten Aufführung heran: Die Leute strömten in den kerzenbeleuchteten Saal, der zum Bersten voll war. Für die Junker, Räte, höheren Beamten und anderen Honoratioren waren in der ersten Reihe Stühle aufgestellt, dahinter nahmen Bürger und Handwerksmeister mit Gattinnen Platz, den Rest füllte das Militär auf.103 Jugendliche hatten oft nur unter Anwendung einer List eine Chance hineinzugelangen: So schmuggelte sich Carl Ludwig Costenoble einmal als Bassist ins Theaterorchester.104

Das war die Kulisse für Zschokke, als er mit Burgheim und rund einem Dutzend Schauspielern im November 1788 von Schwerin abreiste und in drei Wagen – einen für die Frauen, den zweiten für die Männer und den dritten fürs Gepäck – in Richtung Prenzlau fuhr. Schon diese Reise war für den jungen Theaterdichter ein Abenteuer.105 Sein Umgang hatte bisher fast ausschliesslich aus Männern bestanden, und bis auf seine Schwester Christiana und seine Kindheitsgespielin Friederike Ziegener hatte er zum weiblichen Geschlecht keine Zuneigung empfunden, keine Frau in einer indezenten Situation gesehen. Nun aber lebte er auf engstem Raum mit Frauen zusammen, die, was ihr Benehmen oder ihre Alltagsgarderobe betraf, kaum Rücksicht auf einen prüden jungen Mann nahmen, sondern im Unterkleid am Brunnen ihre Röcke wuschen und sich vielleicht gar einen Sport daraus machten, den gehemmten Jüngling zu reizen oder in Verlegenheit zu bringen.

Hübsche junge Schauspielerinnen waren für jeden Theaterdirektor ein wichtiges Kapital, das er gezielt einsetzte. Ihr Auftreten füllte die Zuschauerreihen und überdeckte technische oder schauspielerische Mängel. Richtig ins Rampenlicht gebracht halfen sie dem Direktor, für seine Wünsche bei den Notabeln einer Stadt Gehör zu finden. Dafür mussten «die liebenswürdigen Theaternymfen», wie Zschokke sie einmal nannte,106 es sich gefallen lassen, von den Herren angehimmelt und zur Favoritin erkoren zu werden. Die Kehrseite beschrieb der Theaterkenner und -kritiker Johann Jakob Christian von Reck 1787 in seinem Buch über die Lage der Wandertheater: «Vom Theaterfrauenzimmer will ich gar nichts erwähnen, wer kennt sie nicht? – Wie selten findet man eine Ausnahme? [...] Liederlicher Lebenswandel, Ausgelaßenheit ist das gewöhnlichste.»107

Klagen über die frivole Lebensweise von Schauspielern finden sich in jener Zeit allenthalben. Reck führte das Übel darauf zurück, dass sich hier unter schlechten Arbeitsbedingungen «Barbiergesellen, Perükenmacher, Musketirs, von der Universität geloffene verführte Studenten und dergleichen Volk mehr» versammelten, die sich, der Verachtung der Öffentlichkeit preisgegeben, dadurch schadlos und über Wasser hielten, indem sie schmeichlerisch, betrügerisch und niederträchtig seien.108 Reck riet, solche Gesellschaften staatlich zu kontrollieren, den Schauspielern ihren Lebensunterhalt zu garantieren und sie so in das bürgerliche Wertesystem einzugliedern.

Ob gerade dieses Ungezähmte, Ungebärdige und leicht Verruchte Zschokke an seiner Truppe lockte, ist zweifelhaft; er konnte es sich nicht aussuchen. Einer nach dem Vorbild Recks regulierten Gesellschaft hätte er sich vielleicht lieber angeschlossen, aber die hätte ihn gar nicht in Dienst genommen. Das halbe Jahr in der fahrenden Gesellschaft war für Zschokkes Persönlichkeitsentwicklung aber von enormer Bedeutung. Er wurde selbstbewusster, verlor wenigstens zum Teil sein linkisches, schüchternes Benehmen und lernte sich im Umgang mit unterschiedlichen Menschen behaupten. Seine idealistische Vorstellung von Schauspielern als Trägern von Idealen verflüchtigte sich rasch,109 dafür eignete er sich Schlagfertigkeit, Wortwitz und eine ironisch gebrochene, rhetorisch überhöhte Redeweise an. Seine Vitalität, die bisher durch Bevormundung und Regeln gehemmt wurde, konnte sich hier freier entfalten. Er reifte vom Jüngling zum Mann, jedoch kaum in sexueller Beziehung; daran hinderte ihn seine Prüderie und Unbeholfenheit im Umgang mit Frauen. Was ihm aus dem Leben der Schauspieler relevant schien, schilderte er in «Eine Selbstschau»,110 in mehreren Zeitschriftenaufsätzen und in einem satirischen Roman über das Leben einer wandernden Theatertruppe.

Zschokkes Aufgabe bestand in Sekretariatsarbeiten und im Verfassen von Prologen und Epilogen. Er habe ausserdem, schrieb er, «ein Paar Saus- und Grausstücke» verfasst und andere Dramen bearbeitet oder gekürzt.111 Von solchen «Saus- und Grausstücken» ist, bis auf «Graf Monaldeschi», das aber schon früher entstanden war, nichts bekannt. «Graf Monaldeschi» ist auch das einzige Stück, von dem wir wissen, dass es aufgeführt wurde. Auch von Pro- und Epilogen ist keine Spur mehr vorhanden.

Die Prologe – der berühmteste der deutschen Literaturgeschichte ist zweifellos jener, den Goethe seinem «Faust» voranstellt – wurden beim ersten Auftritt der Gesellschaft in einer Stadt oder zu Anfang einer Aufführung vorgelesen oder deklamiert, um das Publikum anzuheizen, es auf das einzustimmen, was es zu erwarten hatte, und um anwesender Prominenz oder Gönnern zu schmeicheln. In gereimter Form war dies besonders effektiv. Hier lernte Zschokke schnelles Dichten für verschiedene Gelegenheiten, was ihm später zugute kam. Mit Genugtuung und Stolz wird er in der Nähe der Bühne gestanden und zugehört haben, wenn der Direktor oder ein ausgesuchter Schauspieler seinen Text rezitierte und die witzigen Redewendungen belacht und applaudiert wurden. Auch das Ausbuhen seiner Truppe blieb ihm nicht erspart, und so lernte er, wie eng im Theaterberuf Triumph und Misserfolg nebeneinander liegen.112

 

Zschokkes Haupttätigkeit für Burgheim lag in dem, was er «dramatische Schneiderkunst» nannte: Er hatte alte Dramen aufzufrischen, zu kürzen und anzupassen, bis sie dem Publikumsgeschmack und den Möglichkeiten der Truppe entsprachen. Ein Theaterdirektor war gut damit beraten, seinem Publikum Erfolgsstücke anzubieten, auch wenn sie sein Personal überforderten. Man brauchte auf den Handzetteln, die vor der Aufführung verteilt wurden, nicht zu verraten, dass Shakespeares «Hamlet» nicht in seiner integralen Fassung gezeigt wurde. Fehlte es an Schauspielern, um alle Rollen zu besetzen, war jemand ausgefallen und hatte der Ersatz nicht genügend Zeit, seinen Text zu studieren, oder war er nicht imstande, einen längeren Monolog zu sprechen oder in einem der damals beliebten Singspiele einen Gesangsteil zu übernehmen, dann hatte der Theaterdichter einzuspringen und ihm den Text nach dem Mund zu präparieren.113

Zschokkes Erscheinen in der Theaterwelt wurde zweimal poetisch nachgestellt: von Eduard Boas (1815–1853) in seinem Roman «Des Kriegscommissär Pipitz Reise nach Italien»,114 und von Paul Dahms im Aufsatz «Mit bunter Fuhre. Episoden aus Zschokkes Jugendzeit in einer Ostmarkstadt».115 Paul Dahms bediente sich diskret, aber ausgiebig der «Selbstschau» und Carl Günthers Zschokke-Biografie, während Eduard Boas, dessen Roman ein Jahr vor der «Selbstschau» erschien, seiner Schilderung die «Lebensgeschichtlichen Umrisse» von 1825 zu Grunde legte. Da die Darstellung von Boas zeitlich näher an den Ereignissen liegt und von einem Augenzeugen seiner Bühnenauftritte stammt, sei sie hier wiedergegeben. In einem Brief an einen Freund gerät Kriegskommissär Pipitz unversehens in Reminiszenzen an seine Kindheit in Landsberg an der Warthe:

«Es war zu Ausgang des Winters 1790 und ich zählte etwa dreizehn Jahre, als eine reisende Schauspielertruppe in dem Wohnort meiner Eltern anlangte. Wir Knaben waren sehr vergnügt und freuten uns mächtig auf die bunten Ritter-Tragödien, die unserer harrten.

Die Directoren der Truppe schlugen ihr Theater im alten Rathhause, in dem großen, öden Hausflur des oberen Geschosses auf, und wir konnten die Zeit gar nicht erwarten, wo die Zettel endlich an Straßenecken und Brunnenröhre geklebt wurden. Am ersten Abend saß ich oben in der dunkelbraunen, durch Talglichter erhellten Halle, vor dem bunten Vorhang, und sechs Trompeter von den Dragonern, rothe Federbüschel auf den breitkrämpigen Filzhüten tragend, spielten ein lustiges Stücklein. Dann klingelte es im Souffleurkasten, die Gardine rollte auf, und eine mit Flor und Flittern ausgeputzte, roth geschminkte Actrice trat hervor, einen Prolog, ‹gedichtet von Zschokke› zu sprechen. Dieser Zschokke wurde für uns Buben ein Gegenstand des Neides. Wir sahen ihn oft auf der Straße; er mochte um die 18 Jahr alt seyn, und begleitete die Theatergesellschaft als Theaterdichter. Er sagt selbst, seine Arbeit sey gewesen, ‹den Briefwechsel der lockeren Thespisvögel zu führen, Prologe und Epiloge zu reimen, oder an den Werken der deutschen Bühnendichter Prokrustes-Arbeit zu treiben.› Solch ein freies, ungebundenes Leben mitten unter den hübschen Schauspielerinnen mit den kecken schwarzen Augen, dünkte uns ein Götterdaseyn, und als wir hörten, er hätte, ohne Erlaubniß seiner Vormünder, sich von der Schule zu Magdeburg entfernt, um sich einige Zeit unabhängig in der Welt umherzutummeln, da fehlte nicht viel, daß wir Knaben alle seinem Beispiele gefolgt wären.

Er war ein junger, schlanker Mensch mit schwärmerischen Augen und einem angenehmen, blassen Gesichte, doch lag in demselben jene unbeholfene Blödigkeit, und in allen seinen Bewegungen jenes eckige schlotternde Wesen, welches Jünglinge jenes Alters characterisirt. Sein Anzug war eben nicht elegant und bestand unabänderlich aus Schnallenschuhen, kurzen Hosen, einem grünen Überrocke, dessen Fadengewebe schon ins Weißliche spielte, und aus einem kleinen Dreimaster. Er trug auch immer einen langen Zopf. Zschokke, der Theaterdichter, unser Ideal, betrat zuweilen selbst die Bretter, jedoch nur in Nebenrollen, denn sein jugendlich täppisches Wesen, verbunden mit einem scharfen, schneidend unsichern Organ, ließen ihn wenig zum Bühnenkünstler taugen. Doch einmal, entsinne ich mich, als er in dem damals ganz neuen Kotzebueschen Drama ‹Menschenhaß und Reue› den einfältigen Bedienten Peter mit drastischer Komik spielte, wurde ihm lauter Beifall zu Theil.»116

Zu diesem letzten Satz meinte Zschokkes Freund Theodor Heinrich Otto Burchardt (1771–1853), der aus Landsberg an der Warthe stammte und beim Erscheinen von Boas’ Roman dort Justizkommissär war, das könne nicht stimmen; Zschokke sei nie Schauspieler gewesen und habe nur «aus Gefälligkeit zwei oder dreimal kleine Rollen übernommen».117

Kennzeichen einer Theatergesellschaft war es damals, neben den neusten und erfolgreichsten Lustspielen auch Schiller und Shakespeare im Programm zu führen. Die Hubersche oder Burgheimsche Gesellschaft machte hier keine Ausnahme. Ihre Aufführung des «Hamlet» aber wurde in Prenzlau zum Tiefpunkt ihrer Spielzeit. Ein Zuschauer machte in der «Theater-Zeitung für Deutschland» seinem Ärger Luft. Es sei unklug vom Direktor gewesen, mit einer so kleinen Truppe dieses Stück auf die Bühne zu bringen. Den König von Dänemark habe ein Schauspieler gegeben, der von seiner Figur einem Sancho Pansa geglichen habe und von seiner Kleidung «ein wahrer zusammengeflickter Lumpenkönig» gewesen sei. Der Hamlet von Herrn Burgheim (Hr. B—g—m), der als bester Schauspieler der Truppe gelte, sei schlecht gespielt worden, «die übrigen Personen, Laertes und die Ophelia ausgenommen», noch viel schlechter.118 Einen Monat später schrieb ein anderer Theatergänger aus Prenzlau, man sehe einer besseren Truppe mit Sehnsucht entgegen.119 Die geballte Unzufriedenheit des Prenzlauer Publikums muss für die Schauspieler Franz Huber und Wilhelm Burgheim und für Zschokke sehr unerfreulich gewesen sein.

Aus der «Selbstschau» bekommt man den Eindruck, als habe Zschokke die Blamage gar nicht mitbekommen oder sich von der Truppe innerlich so weit distanziert, dass er die Kritik nicht auf sich beziehen musste. Er habe sich, schrieb er, «nach und nach von diesem Gemengsel arbeitscheuer Gesellen, entlaufener Weiber, ungerathner Söhne, gefallsüchtiger Mädchen, verdorbner Studenten u. s. w.» abgesetzt und nur noch mit Burgheim zusammengelebt. Die Anzüglichkeiten, Frivolitäten, Eifersüchteleien und Streitereien des Theatervolks gingen ihm gegen den Strich. In seinen freien Stunden habe er seiner «angeborenen Lesesucht» gefrönt und verschiedene Bibliotheken durchstöbert, darunter eine, die sich im morschen, verwitterten Chor einer Kirche befand, von hundertjährigem Staub bedeckt.120 Mit dieser abschätzigen Bewertung der Schauspieler, die der Beschreibung des deutschen Theaters von Reck entnommen zu sein scheint, brauchte er sich den Misserfolgen, an denen er mitbeteiligt war, nicht mehr zu stellen.

Unmittelbar nach Abschluss seines Engagements als Theaterdichter schrieb er den Aufsatz «Schuzrede für wandernde Truppen», worin er die Bedeutung des Theaters für Aufklärung, Sittenverfeinerung und Volksbildung noch einmal hervorhob und den Wunsch äusserte, auch kleinere Städte und Provinzen möchten Zugang zu gutem Theater erhalten. «Auserlesenen kleinern Truppen» solle ein fester Bezirk zugewiesen werden, den sie, ohne finanzielle Einbussen zu erleiden, privilegiert bereisen dürften, um den Bürgern Amüsement und «die geläuterten Freuden des Geschmacks zu verschaffen».121 Diese idealistische Vorstellung stand in einem gespannten Verhältnis zu dem, was Zschokke im Wandertheater an Einblicken gewonnen hatte, aber es änderte nichts daran, dass er dem Theater eine kathartische Wirkung auf die Besucher zubilligte, wie sie bei einer weitgehend illiteraten Bevölkerung sonst kein Medium haben konnte. Voraussetzung sei allerdings – und hier schloss sich Zschokke wieder Reck an –, dass die Schauspieler finanziell besser gestellt seien und sich auch ihr Ruf verbessere: «An vielen Orten Deutschlands fällt es dem gemeinen Mann noch immer schwer, den Komödianten vom Marktschreier zu unterscheiden. O, gute Thalia, wie demüthigt dich dieses bei all deinen Triumphen!»122

Zschokke befreundete sich in Prenzlau mit einem preussischen Offizier, einem «bescheidnen, wissenschaftlich gebildeten» Mann. Der aus Schlesien stammende Karl Andreas von Boguslawski (1759–1817) war einer der nicht ganz seltenen Adligen, die im Militär Karriere und sich auch als Schriftsteller einen Namen machten. In seiner Freizeit übersetzte er Homer, Vergil und Metastasio. Er «arbeitete damals an einer metrischen Übersetzung der horazischen Oden» und lud Zschokke zu einem Wettstreit ein.123

Natürlich konnte Zschokke mit Boguslawski bei Übersetzungen aus dem Latein nicht mithalten, aber er bekam durch ihn einen neuen Zugang zur lateinischen Sprache und Literatur, ein Gefühl für ihre Schönheit und Würde. Die Bekanntschaft mit Boguslawski bildete einen Gegenpol zur lärmigen, oberflächlichen Welt des Theaters. Sie liess ihn erkennen, dass man sich mit Enthusiasmus einer Sache widmen konnte, ohne gleich an den Nutzen zu denken, und dazu noch in einem Fach, das er bisher mit Schule und Zwang verband. Er realisierte, dass es dabei auf die innere Einstellung ankam, der Gegenstand dagegen unerheblich war. Vielleicht fasste Zschokke damals den Vorsatz, mehr aus seinem Leben zu machen, statt mit Gelegenheitsdichtungen auf den grossen Erfolg zu warten und dabei zu riskieren, als brotloser Künstler unterzugehen.

Neben Horaz und Vergil arbeitete Boguslawski an einer Übersetzung der «Ilias», deren ersten Gesang er 1787 «travestiert» herausgegeben hatte.124 Das bedeutete, dass er sich weniger um eine wörtliche Übersetzung bemühte, sondern darum, den Kerngehalt in die eigene Sprache zu bringen. Begeistert nahm Zschokke diesen Gedanken auf. Eine Übersetzung sollte nicht eine originalgetreue Übertragung, sondern eine Eindeutschung sein, die den Text dem heutigen Leser verständlich mache. Man müsse sich zwar bei einem klassischen Text die Toga anziehen und das veredelte Altertum wieder auferstehen lassen, aber eines, das glaubhaft sei, indem man die Verfeinerungen der Kultur und die Eigenarten des deutschen Publikums mitberücksichtige. So ungefähr äusserte sich Zschokke im Januar 1795 in Berlin vor einer gelehrten Gesellschaft in einem Vortrag über poetische Verdeutschungen aus dem Latein.125

Besonders lobenswert fand Zschokke die Übersetzungen des Martial durch Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), und er griff die Kontroverse auf, ob die Übertragung aus anderen Sprachen und Zeiten, wie in der Schule oder von Philologen praktiziert, Wort für Wort und Satz für Satz erfolgen oder sich der eigenen Sprache anpassen müsse. Zschokke entschied sich für den zweiten Weg, auch als er 1805 die Komödien von Molière und 1837 die Erzählungen des Genfers Rodolphe Töpffer übertrug, was dieser einmal «eine Travestie ohne Treue» nannte. Eine Travestie schien Zschokke aber der einzig gangbare Weg, den Empfindungen und der Mentalität der Deutschen gerecht zu werden und Literatur lebendig werden zu lassen. Der Übersetzer wurde so zum Nachdichter, deshalb war das Einfühlungsvermögen und die stilsichere Beherrschung des Deutschen wichtiger als eine gute Kenntnis des Französischen oder Lateinischen.

Statt sich mit Boguslawski auf einen Übersetzerwettstreit einzulassen, hatte Zschokke die Idee, selber ein Epos in Hexametern zu verfassen. Er nahm sein früheres Motiv von der Eroberung Magdeburgs wieder auf und erweiterte es zum Plan einer grossen Dichtung über den Dreissigjährigen Krieg. Soweit es sich aus den Fragmenten und wenigen Angaben beurteilen lässt, sollte es ein Panorama von Krieg und Zerstörung, Heldentum und Verrat, Leid und Leidenschaften werden. Eine grosse Liebe kam auch darin vor: zwischen dem evangelischen Administrator Magdeburgs Christian Wilhelm (dem offiziellen Landesfürsten) und der Katholikin Sidonia. Zschokke nannte sein episches Gedicht «Der heilige Krieg», und es besteht kein Zweifel, dass er damit nicht nur den Krieg des schwedischen Königs gegen den Habsburger Kaiser meinte, sondern den Krieg der Protestanten für die Religionsfreiheit und gegen das usurpatorische Papsttum. Den ersten Gesang mit 450 Hexametern, der während der Belagerung Magdeburgs spielt, veröffentlichte er 1794 im zweiten Teil seiner Sammlung «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen von Johann von Magdeburg». In einer kurzen Vorrede notierte er, er habe das Projekt im 18. Lebensjahr (also in Prenzlau) angefangen, dabei aber die Schwierigkeiten der Ausführung unterschätzt.126 Der Anfang ist stark an die «Ilias» angelehnt und das ganze Werk weniger eine ernstzunehmende Dichtung als der Versuch, ein für ihn neues Stilmittel zu erproben.

 

SCHRIFTSTELLERTEUFEL

Beim «ersten Frühlingshauch» des Jahrs 1789 packten Burgheim und Zschokke ihre Sachen und zogen mit ihrer Künstlerschar nach Landsberg an der Warthe, um dort ihre Bühne zu eröffnen. Im Frühsommer löste sich die Truppe auf: Christian Friedrich Runge ging mit einem Teil der Truppe weg,127 Burgheim entliess nach und nach die übrigen Schauspieler und blieb in der Stadt, um seine geschwächte Gesundheit zu pflegen.128

Ansicht von Landsberg (dem heute polnischen Gorzów Wielkopolski) von Süden, mit der Warthe im Vordergrund, wo sich auch ein Bootshafen befand. Dieser Anblick dürfte sich Zschokke geboten haben, als er im Frühling 1789 mit der Theatertruppe Wilhelm Burgheims über die Brücke in die Stadt einzog. Hier verbrachte er ein Jahr, dichtete und bereitete sich auf die Universität vor.

Die Krönung von Zschokkes theatralischer Sendung war es, als in Landsberg sein «Monaldeschi» aufgeführt wurde. Dieser Erfolg war Grund genug, gegenüber seinen Verwandten sein anderthalbjähriges Schweigen zu brechen. Er sei in der Stadt allseits bekannt und geliebt, schrieb er an Andreas Gottfried Behrendsen. «Was kann ich mir mehr also noch wünschen?»129 Trotz dieses Triumphs rührte er einige Jahre lang kein Theaterstück mehr an, sondern verarbeitete seine Erfahrungen und Erlebnisse mit dem Theater in Aufsätzen und im satirischen Roman «Der Schriftstellerteufel», der Anfang 1791 in Berlin erschien.130 Es ist ein aberwitziges Buch, sicher etwas vom Humorvollsten, was Zschokke je verfasste, eine Art Studentenulk, der noch heute vergnüglich zu lesen ist.

Zschokke hatte ein Gebiet gefunden, das er in Cranzscher Manier satirisch bearbeiten konnte. Er bereicherte die «Gallerie der Teufel» um ein weiteres, nicht unsympathisches Mitglied, den Satan Merimatha, «König, Apoll und Gesezgeber aller elenden Autoren und Autorinnen, Wochenblätter und Pamfletenschmierer etc. etc.»131 Merimatha ist Herr über die Hölle für Schriftsteller, die mit der Makulatur der deutschen Belletristik geheizt wird, und von da steigt er zur Erde hinauf, da ihm das Heizmaterial ausgeht und die Höllenfeuer zu erlöschen drohen.

Merimatha will den schlechten Büchern zu ihrem Recht verhelfen und die Lage seiner Schutzbefohlenen, der deutschen Poeten, verbessern. Zu diesem Zweck reist er selber als Poet durch Deutschland, angetan mit den Requisiten, die ihn als verkanntes Kraftgenie ausweisen: verwahrloste Kleidung, ungepflegte Haare, tintenbekleckste Finger, eine Lorgnette, die er alle Augenblicke an die Nase hält, und eine verworrene Sprache. «Das ist der feinste sinnlichste Autorkniff, um das Volk zu täuschen, es glauben zu machen, du habest durch nächtliches Studieren deinen schönsten Sinn verloren», rät ihm Machiavelli, den er um Rat gebeten hat.132

In Purlenburg, das man sich als irgendeine deutsche Provinzstadt denken kann, wird Merimatha von der «bekannten Kümmelschen Schauspielergesellschaft» für eine mickrige Gage als Theaterdichter engagiert: «Über anderthalb Thaler wöchentlich kann ich Ihnen nicht geben; mein erster Liebhaber bekömmt nur drei!», sagt Kümmel.133 Als Einstieg verfasst Merimatha einen Prolog, der von der Direktrice rezitiert werden soll:

«Der Vorhang ging auf; mir schlug das Herz gewaltig; ich zitterte ungeduldig, meinen schönen Prolog aus dem Munde der Madame Kümmel zu vernehmen. Sie kam – knixte – stotterte – schwankte und sank beinahe in Ohnmacht. Mir vergingen alle fünf Sinne; ich sah nicht; ich hörte nicht. Mühsam radebrechte sie dies Meisterstük eines Prologs zu Ende, und empfahl sich. Hierauf folgte der Graf von Essex, in welchem der kleine Herr Kümmel in seinem weißen Sonntagskleide, mit einer papiernen Feder auf dem Hut, den großen Essex martialisch herdeklamirte. –

Das Stück schlief sich glüklich aus.»134

Um den Misserfolg auszubügeln, entwirft Merimatha den Plan «zu einem fürchterlichen Originaltrauerspiele: die Eroberung und Zerstörung von Purlenburg, in fünf Akten». Der Inhalt erinnert nicht zufällig an «Monaldeschi», da sich Zschokke hier und an anderen Stellen im Roman selber persifliert:

«Ich will nicht erwähnen, daß mein Stük gräslicher flucht, als ein Schillerscher Libertin; unsinniger rast, als Klingers Guelfo; daß im vierten Akt schon Weib und Kind, wie Rüben, auf dem Theater herumgemäht liegen, und alles erstochen, erschossen, ersäuft, erhängt, erschlagen, vergiftet ist, was in den vorigen Aufzügen Odem saugt; nicht erwähnen, daß der fünfte aus lauter Geisterszenen, schauerlich und grauerlich, zusammengesponnen ist, – denn man hat seine Noth von den übrigen vagabundirenden Truppen, welche nur nach derlei Grausspielen lechzen [...].»135

Zschokkes satirischer Roman «Der Schriftstellerteufel» mit den Abenteuern von Satan Merimatha, der nach Deutschland kommt, um die armen Poeten vor dem Hungertod zu retten. Im Anhang ein Ausfall gegen Johann Georg Zimmermann, den Leibarzt von Friedrich dem Grossen.

Die Kümmelsche Gesellschaft reist von einer Stadt zur andern. Das Trauerspiel «Die Eroberung und Zerstörung von Purlenburg» findet «gellenden Beifall», wobei Merimatha die geniale Idee hat, den Namen Purlenburg auf dem Theaterzettel auszuwechseln, um das Stück für jeden Aufführungsort passend zu machen, auch wenn man dort seit der Stadtgründung noch nie einen Feind gesehen hat.136

«Meine blühendste Theaterepoche war ietzt. Von allen Seiten erhielt ich Trauer- Graus- Schau- Familien- Lust- Possen- und Singspiele eingeschickt, um mein Urtheil und Gutachten darüber zu geben, und sie auf dem Kümmelschen Theater aufführen, oder den Verfassern zurükkommen zu lassen.»137

In der Stadt Teterow geht Herrn Kümmel das Geld aus; die Schauspieler laufen ihm davon, er gibt sein Unternehmen auf und ruft Merimatha zu sich, um ihm zu kündigen.

«Ich. Ist das Ihr Ernst, Herr Kümmel? – und Sie wollen auch meine wichtige Person verlieren?

Kümmel. Wichtig! Ha, ha, ha! Sie waren iust das unnüzzeste Möbel in meiner Direkzion.

Ich (aufspringend). Undankbarer – also hat mein großes Trauerspiel, die Eroberung und Zerstöru – –

Kümmel. Mir Nachtheil mehr, als Nuzzen geschaft – Sollte der Himmel so gnädig sein, und mich noch einmal zum Führer einer Schauspielergesellschaft erhöhen: so sollen alle Prunkspiele aus derselben verbannt sein; sie sind der Ruin meiner Börse und – –

Ich. Herr, davon verstehen Sie – –

Kümmel. Mein Herr, da ist die Thür – –»138

Darauf lässt Merimatha sich als Turmwächter anstellen und mietet sich in einem Poeten-Dachstübchen ein, wie er es sich erträumt hat, «wo du die Harmonie der Sphären belauschen und alle Herrlichkeiten der Welt unter deinen Füßen sehen kannst».139