Heinrich Zschokke 1771-1848

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Im ersten Heft der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» liest man den «Brief eines mecklenburgischen Bauersmannes an den Verfaßer der Mecklenburgischen Kalender, besonders des sogenannten Schillingskalenders»47 von einem Friedlieb Ehrlich, Bauer zu Pampow. Das war, allein schon dem sprechenden Namen nach, ein fingiertes Schreiben. Ehrlich (vermutlich Zschokke) kritisierte den neuen Volkskalender und erläuterte, wie er seiner Meinung nach aussehen sollte: ohne die obligaten (tausendjährigen) Wetterprognosen und die Fahrpläne der Postkutschen, in die sowieso kein Bauer steigen würde, dafür mit Wirtschaftsregeln, «so eine Art von Garten- und Ackerkalender», mit unterhaltenden und belehrenden Beiträgen, um die «jämmerliche Unwissenheit unter uns Leuten» zu bekämpfen. «Mit großem Nutzen lasen wir auch, was 1777 von dem Kometen gesagt ward, vor dem wir uns sonst so sehr fürchteten.»

Der Autor dieses Briefes schlüpfte in das Kostüm eines einfachen, aber redlichen Bauern, versetzte sich in seine Welt, seine Bedürfnisse und Sorgen, und bediente sich einer einfachen, aber durchaus humorvollen Sprache, zeigt sich lernfähig, dem Neuen gegenüber aufgeschlossen, ausgerüstet mit einem wachen, gesunden Menschenverstand. Er wusste allerdings mehr, als er eigentlich wissen durfte, denn er bezog sich auf Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein», das zu jener Zeit noch gar nicht ausgeliefert war. Zu Becker meinte er nämlich, dass nicht alle seine Ratschläge probat (brauchbar) seien oder stimmten.48 Falls der Beitrag von Zschokke stammt – und vieles spricht dafür –,49 wäre es der früheste Hinweis seines Interesses am Wohl der Landbevölkerung und seiner lebenslangen Tätigkeit als Volksbildner, stünde in einer Kontinuität mit dem Schweizerboten (1798–1836), dem «Schweizerboten-Kalender» (1805–1808) und dem «Goldmacherdorf» (1817) und wäre bereits erstaunlich klarsichtig.

Auch bei einem Gedicht, dem «Lied der Mecklenburgischen Truppen, als sie nach Holland marschirten», das im Septemberheft erschien,50 ist Zschokkes Autorenschaft wahrscheinlich. Bärensprungs Sohn Justus schrieb, ohne dafür Belege zu bringen, von Zschokke seien einige Gedichte in der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» abgedruckt worden.51 Das «Lied der Mecklenburgischen Truppen» ist jenes, das am ehesten in Frage kommt.

Für Zschokkes schriftstellerische Tätigkeit in Schwerin finden sich weitere Beispiele. Als er die beiden Schüler seines Arbeitgebers in mecklenburgischer Geografie und Geschichte unterweisen sollte, stellte er fest, dass ein populäres Lehrbuch dazu fehlte und machte sich daran, selber eins zu schreiben. Als er von Schwerin abreiste, überliess er Bärensprung ein Manuskript von 114 Seiten mit dem Titel «Joh. Heinr. Zschokke’s Handbuch der Geographie von Mecklenburg, nebst einem Abriß der Geschichte dieses Landes. Für Schulen und Privatleser entworfen.»52 Zwei Ausschnitte daraus wurden von Justus Bärensprung 1830 in seinem «Freimüthigen Abendblatt» veröffentlicht:53 die Vorrede, in der Zschokke auch eine Literaturgeschichte Mecklenburgs versprach, falls sein Buch günstig aufgenommen werde, und der Abschnitt «Von Mecklenburg überhaupt». Zum Volkscharakter der Mecklenburger, schrieb er darin, könne er nichts anderes sagen, «als was schon in dem Journale von und für Mecklenburg (1stes Stück, 1788) gesagt wurde».54 Ein solcher Aufsatz findet sich aber nicht in dieser Monatsschrift, so dass man annehmen muss, dass es sich um einen unterdrückten Beitrag handelt, die Schale ohne Kern eines brausenden Jünglings, wie Wehnert gerügt hatte. Es gehörte tatsächlich einige Unverfrorenheit dazu, nach knapp vierteljährigem Aufenthalt seine Meinung über die Bevölkerung abzugeben und es ihr als Frucht ausgiebiger Beobachtung zu präsentieren.

Auch andere Bemerkungen strotzen vor Verallgemeinerungen, selbst wenn Zschokke ein Stück weit recht haben mochte, wenn er «das Steife, das kleinstädtische Komplimentirwesen, das Gezwungene, welches in Mecklenburg zuweilen noch in Gesellschaften herrscht», monierte. Das war ja auch anderen Fremden aufgefallen. Abgesehen von dem «unreifen Urtheil eines unbärtigen Jünglings» und einer gewissen Unbeholfenheit in Darstellung und Argumentation erstaunt die sprachliche Sicherheit, die Leichtigkeit der Formulierung, die das Schreibvermögen eines durchschnittlichen 17-jährigen Gymnasiasten übertrifft, auch wenn die stilistische Eleganz von später hier noch fehlt.

GEISTERSEHER UND BLUTRÜNSTIGE DRAMEN

Zschokke schrieb im Juni 1789 an Andreas Gottfried Behrendsen, er sei in Schwerin zum Scherz κατ ’εξοχην, der Dichter, genannt worden.55 Das bezog sich natürlich nicht auf sein «Handbuch der Geographie von Mecklenburg», sondern auf andere literarische Arbeiten und Projekte. Sich selber betitelte er damals als Gelehrter und unterschrieb den ersten Brief, den wir überhaupt von ihm kennen, als «J. H. Zschokke, Homme des Lettres, wohnhaft beim Hofbuchdrukker Hl. Bärensprung».56

Von diesem Brief mit der aufschlussreichen Unterschrift ist noch mehr zu sagen. Im Juni 1788 wandte sich Zschokke an den Hamburger Verleger Benjamin Gottlob Hoffmann (1748–1818), um sich zu erkundigen, ob er ein «Werkchen» mit dem Titel «Raritäten und Albertäten vom Einsiedler Karmela» bei ihm herausgeben dürfe.57 Die beiden Schreiben an Hoffmann sind das einzige private Zeugnis Zschokkes aus Schwerin, das uns Auskunft gibt, womit er sich im Sommer 1788 neben Schulegeben, Korrekturen und dem «Handbuch» sonst noch befasste. Das angebotene «Werkchen» sollte 18 Bogen (288 Seiten) stark sein, drei Fortsetzungen bekommen und in allem den «Charlatanerien» von Cranz gleichen, ausgenommen, dass es auf dessen Religionsspöttereien und Angriffe auf Männer von Verdienst verzichte, es sei denn auf solche, die, «mögt ich sagen, notorisch berüchtigt sind».

August Friedrich Cranz (1737–1801), ein ehemaliger preussischer Kriegsund Steuerrat, der seit 1781 als Schriftsteller in Berlin lebte, hatte sich mit seiner fünfteiligen «Gallerie der Teufel», die Zschokke in seinem Brief ebenfalls erwähnte, Geltung als Satiriker verschafft.58 Es war eine humorvoll-satirische, lustvoll fabulierende, pseudo-gelehrte Schilderung von Abenteuern und Streichen verschiedener Teufel in Politik und Hofleben, die zeigten, wo überall die Teufel oder Laster, die sie vertraten, Einfluss besassen. Als eine Art Fortsetzung lieferte Cranz «Charlatanerien in alphabetischer Ordnung»,59 worin er lexikonartig politische, theologische, gelehrte und künstlerische Begriffe und Berufe wie Arzt, Bibel, Justiz, Literatur, Lobreden, Militär, Nutzen, Orthodoxie, Rang, Urteil und Recht durchleuchtete, um den Anteil an Scharlatanerie zu messen, die er so definierte: «Gaukelspiele die wie lauter Wichtigkeiten aussehen und wo nichts dahinter ist».60 Mit besonderer Freude widmete sich der weltgewandte Aufklärer den Schwächen der Kirche, ihrer Diener und ihren Lehren.

Die Art, wie es Cranz gelang, in scherzhaftem Ton Wahrheiten auszusprechen und eine grosse Leserschaft zu gewinnen, ohne von der preussischen Zensur behelligt zu werden,61 hatte Zschokke beeindruckt. Seit dem vergangenen Sommer, schrieb er Hoffmann – also schon in Magdeburg –, habe er an diesem «Werkchen» gearbeitet, von dem er überzeugt sei, dass es «nach einer so langen Pause, welche unsre launigsten Schriftsteller machten, kein so ganz unwillkommenes Gericht sein soll und wird». Gegen ein mässiges Honorar von vier Reichstalern pro Bogen verspreche er, alle Folgebände «in der muntern Laune, mit den satyrischen Zügen und dem treffenden Wizze geschrieben zu liefern» wie den ersten Band. Falls Hoffmann einen Kupferstich beifügen wolle, werde er ihm einen sinnigen Vorschlag mit einer Zeichnung schicken. Er bat, der Antwort einen Verlagskatalog beizulegen.

Auf diese Antwort wartete Zschokke fast zwei Monate vergebens, dann schrieb er erneut.62 Er habe mit einigen durch ihre schriftstellerischen Arbeiten berühmten Männern ein Buch mit dem Titel «Narren-Kronik!» von 23 Bogen (368 Seiten in Oktav) verfasst, das sie an der kommenden Leipziger Messe veröffentlicht sehen möchten. Zu jeder Leipziger Messe (also im Frühling und Herbst) werde ein weiterer Band folgen. «Ich hoffe daß es Sensazion im Publikum erregen, und mit Vergnügen gelesen wird, eben so wol als Wekhrlins graues Ungeheuer oder die Chronologen.»

Die «Charlatanerien», mit denen sein Buch ursprünglich in allem Ähnlichkeit haben sollte, erwähnte Zschokke diesmal nur nebenbei. Der süddeutsche Publizist Wilhelm Ludwig Wekhrlin (1739–1792) mit seinen beiden erfolgreichen Zeitschriften «Die Chronologen»63 und «Das Graue Ungeheuer»,64 die Zschokke in seinem zweiten Brief ansprach, war ein anderes Kaliber als Cranz. Er war ein noch streitbarerer Publizist, ein unabhängiger Denker, politisch engagiert und hatte in seinem «Almanach der Philosophie aufs Jahr 1783» Voltaire gerühmt und eine Bibliografie der Philosophie, das heisst des Unglaubens, aufgestellt.65

Zschokkes literarischen Projekte hatten in den zwei Monaten vom ersten zum zweiten Brief bedeutend an Ausdehnung und Umfang gewonnen. Die Anzahl Bände, halbjährlich geplant, sollte jetzt nicht mehr begrenzt sein. Aus den «Raritäten und Albertäten vom Einsiedler Karmela» waren «Raritäten und Albertäten meiner Zeitgenossen[,] ein alphabetisches Bruchstük von M. Paskwin» geworden, eine Anspielung auf Pasquino, jene antike Statue in Rom, an die früher Spottverse geheftet wurden, woraus sich der Begriff Pasquill ableitet.66

In seinen «Charlatanerien» hatte Cranz 1781 angekündigt, er werde, nachdem er in der «Gallerie der Teufel» die Laster der Mächtigen und in den «Charlatanerien» die Windbeuteleien der Prominenz zur Zielscheibe seines Spotts gemacht hatte, sich jetzt den Narren zuwenden. Das von Cranz vorgesehene «Narrenhospital»,67 in dem er Jesus Sirach als Arzt auftreten lassen wollte, nach dem Motto: «Die Ruthe auf den Rücken der Narren», kam nicht zustande, und jetzt wollte Zschokke offenbar die Lücke schliessen. Er traute sich zu, die menschlichen Schwächen und Dummheiten genauso beredt und witzig wie Cranz anzuprangern. Weil es so leicht daherkam, dachte er wohl, es sei auch leicht zu schreiben. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs hätte er dann wie Cranz weitere Bücher mit dem Vermerk auf das Erstlingsbuch erscheinen lassen, also «vom Autor der Narren-Kronik». Vorerst scheiterte der Plan allerdings an der Suche nach einem Verlag. Aber noch war nichts verloren, auch Cranz hatte seine wichtigsten Satiren im Eigenverlag veröffentlicht.

 

Acht Beiträge hatte Zschokke für seine «Narren-Kronik» vorgesehen, einige wohl als laufende Titel für eine ganze Serie: «Fragmente aus dem Taschenbuche des weisen Kadmorsurigand», «Raritäten und Albertäten meiner Zeitgenossen», «Mondlieder und Anecdoten» und «litterarisch kritischer Narrenprangen nebst Auszügen aus dem Buche v[om] Stein des Weisen». Man spürt allenthalben eine Anspielung auf Bekanntes. So hatte der jung verstorbene Ludwig Heinrich Christoph Hölty (1748–1776), Mitglied des Göttinger Hainbunds, viel beachtete Mondlieder gedichtet. Der Titel «Skizze einer Geschichte der Astrologie nebst ein[em] Abris der astrologischen Litteratur» nahm Bezug auf Zschokkes Tätigkeit für Reichards «Beiträge zur Beförderung einer nähern Einsicht in das gesamte Geisterreich». Es ist anzunehmen, dass die meisten Manuskripte schon vorlagen, denn Zschokke wartete nur auf die Zustimmung Hoffmanns, um sie ihm zuzusenden. Anders wäre es gar nicht möglich gewesen, den ersten Band noch zur Michaelismesse erscheinen zu lassen.

Er erhielt aber auch auf diesen zweiten Brief von Hoffmann keine Antwort. Die von ihm verschmähte «Narren-Kronik» brachte Zschokke auf einem anderen Weg doch noch in die Öffentlichkeit: «Über Ahndungen» wurde überarbeitet und als «An Rosais. Über Ahndungsvermögen und Schuzgeister» 1791 im ersten Band von «Schwärmerey und Traum in Fragmenten, Romanen und Dialogen von Johann von Magdeburg» veröffentlicht. In vier Briefen beruhigt darin Johann von Magdeburg – ein Pseudonym Zschokkes – die Angst einer jungen Frau vor dem Eintreten böser Vorahnungen, vor Einbildungen und Wunderglauben.

«Der Hang zum Wunderbaren in unsern Tagen ist beinahe noch eben derselbe, der er in vorigen Jahrhunderten war, und hat zu seinem Ursprunge eben die Ursachen, als damals. Diese sind vorzüglich Mangel an tiefern Einsichten in die Mysterien der Natur [...].»68

Man merkt an den teils gelehrten Ausführungen und literarischen Verweisen, dass Zschokke sich theoretisch mit einem Thema auseinandersetzte, das ihn persönlich betraf, hatte er doch selber einmal an Magie, Dämonen und Geister geglaubt oder auf sie gehofft. Von den vier Dramen und sieben Romanen, den ungezählten Essays und Gedichten, die während Zschokkes Aufenthalt in Deutschland (bis August 1795) entstanden, ist «An Rosais. Über Ahndungsvermögen und Schuzgeister» die einzige Arbeit, welche in seine gesammelten Schriften Eingang gefunden hat.

Noch persönlicher wird Zschokke in einem Roman, den er im Brief an Hoffmann als «Wilhelm Walter, oder befriedigter Hang zur Magie, eine wahre iesuitisch-freimaürer[ische] Geschichte» bezeichnete. Es entstand daraus seine erste selbständige Veröffentlichung, «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten. Eine warnende Anekdote unserer Zeit von J. H. Zsch***», die 1789 im Verlag Oehmigke in Küstrin herauskam.69

Obwohl diese Erzählung erst im Folgejahr erschien, muss sie hier erwähnt und etwas ausführlicher dargestellt werden, da sie in Schwerin (in Teilen wahrscheinlich bereits in Magdeburg) entstand und autobiografische Züge trägt. Gegen den Schluss wird in einer Fussnote auf Zschokkes «Narren-Kronik» verwiesen.70 Damit sind alle Zweifel ausgeräumt, dass dieser Kurzroman von 92 Seiten, den Adrian Braunbehrens vor zwanzig Jahren entdeckte und Heinrich Zschokke zuschrieb, tatsächlich von ihm stammt.71

Der erste Teil dieses Textes folgt zunächst Zschokkes eigenem Werdegang. Wilhelm Walter, in einer mittelgrossen deutschen Stadt geboren, verliert früh seinen Vater. Ihn faszinieren Märchen und Erzählungen in der Art von 1001 Nacht, wo dienstbare Geister vorkommen, und er wünscht sich eine Wunderlampe wie die von Aladin. Er liest, was ihm gerade in die Hände kommt, und als er in H* (Halle) sein Studium aufnimmt – hier trennen sich die Wege von Zschokke und Wilhelm –, vertieft er sich intensiv in magische Literatur. Als er die Nachricht erhält, dass seine Mutter im Sterben liegt, will er sogleich nach Hause fahren, wird aber unterwegs von einem buckligen Männchen in einem grauen Rock aufgehalten, das Interesse für seine magischen Studien bekundet. Es schnallt den als Buckel getarnten Rucksack ab, holt Geld heraus und gibt es Wilhelm. Zu Hause findet er die Mutter bereits tot. Überraschend wird er vom Magistrat seiner Vaterstadt als Sekretär angestellt und erhält regelmässig Besuche vom geheimnisvollen Fremden, der ihn in den Geheimnissen der Magie unterweist.

Da sein nächtliches Studium seine Gesundheit unterminiert, erkrankt Wilhelm schwer. Freunde und Bekannte versuchen, ihn von seiner verhängnisvollen Sucht zur Magie zu befreien und in die Wirklichkeit zurück zu holen. Tatsächlich scheint es ihnen zu gelingen, bis Wilhelm wieder dem Fremden begegnet, der ihn zu einer Zeremonie des Geheimordens der Dreifaltigkeit mitnimmt. Um aufgenommen zu werden und einen höheren Grad zu erreichen, muss er ein Schweigegelübde ablegen und Prüfungen bestehen. Man schickt ihn mit einer Botschaft zur Schwesterorganisation nach W*. Ein Mädchen macht sich an ihn heran, um ihm sein Geheimnis zu entlocken. Er widersteht zwar ihren Schmeicheleien, aber nicht ihren Reizen, und schläft mit ihr.

Anderntags erwacht er im Gefängnis, wo er einer strengen Befragung unterzogen wird. Einen Monat lang wird er unter den härtesten Bedingungen festgehalten und immer wieder verhört, gibt sein Wissen aber nicht preis. Seine Inquisitoren, so stellt sich heraus, sind Brüder des Ordens und haben seine Standfestigkeit und Verschwiegenheit zu prüfen. Zu diesem Zweck wurde ihm auch eine Dirne zugeführt. Wilhelm hat mit Bravour bestanden; er soll für den Orden jetzt schwierigere Aufgaben übernehmen, erhält reichlich Geld und wird in die beste Gesellschaft eingeführt. Aber seine Gesundheit ist durch die Kerkerhaft völlig zerrüttet, und er stirbt im Alter von 31 Jahren. Ein Ungenannter findet seine Aufzeichnungen und beschreibt das Schicksal des bedauernswerten Schwärmers, zur Warnung für Leute, die wie er Adepten der Magie werden möchten.

Der schmale Roman «Geister und Geisterseher oder Leben und frühes Ende eines Nekromantisten», der 1788 in Schwerin entstand, ist Zschokkes erstes selbständiges Werk. Es enthält autobiografische Anteile.

Die Erzählung steht im Umfeld von Zschokkes Tätigkeit für Elias Caspar Reichard mit dem Aber- und Wunderglauben seiner Zeit und fügt Elemente des damals noch jungen Genres des Geheimbundromans ein,72 eines Vehikels, dem sich ebenso viel aufladen liess wie dem Kriminalroman im nächsten Jahrhundert. Zschokke schrieb weitere Romane dieser Art; der vorliegende ist der unpolitischste und lehnt sich an die Andichtungen oder tatsächlichen Machenschaften des Grafen Cagliostro, der soeben von der päpstlichen Inquisition verhaftet worden war, der Rosenkreuzer, der Jesuiten und der Illuminaten an.

Zschokke gehörte mit den fast gleichaltrigen Ludwig Tieck (1773–1853) und E. T. A. Hoffmann (1776–1822) zu jenen Dichtern, die trotz Widerstand der Verwandten und der Schule und ungeachtet knapper finanzieller Mittel eifrig phantastische Literatur lasen und bald dazu neigten, selber solche Romane zu verfassen.73 In England besass diese Art von Literatur als «gothic novels» bereits eine Tradition.74 Marianne Thalmann spricht von einer literarischen Revolution, da diese jungen Menschen sich nicht mehr an literarischen Klassikern, sondern an Trivialliteratur orientierten.75 Der dort vorgefundene Stoff und die Motive liessen sich beliebig variieren und anreichern, um Spannungseffekte zu erzeugen. Der beliebteste deutsche Geheimbundroman, «von der jungen Generation bis zur Tollheit gelesen»,76 wurde «Der Genius», ein Vierteiler von Zschokkes Magdeburger Mitschüler Carl Grosse, der aber erst nach Zschokkes «Geister und Geisterseher» erschien, diesen Roman also nicht mehr beeinflussen konnte.77

Zschokke gab dem Verleger Hoffmann aus seiner «Narren-Kronik» vorderhand nichts zu lesen; stattdessen legte er das Manuskript eines Trauerspiels bei, mit der Erklärung, dass es an guten Trauer- und Lustspielen mangle, und Schauspieler ihm versprochen hätten, sein Stück in Schwerin aufzuführen. Nun stimmte es zwar, dass Hoffmann hin und wieder Dramen verlegte; die Aussicht auf eine Aufführung in Mecklenburg war aber sicher kein schlagendes Argument für ihn. Es scheint, dass Zschokke auch nicht unbedingt mit einer Zusage rechnete, aber von der Qualität seines im Sommer 1788 fertig gestellten Dramas überzeugt war und dem Brief mehr Gewicht verleihen wollte – auch im wörtlichen Sinn. Er scheue die Rezensenten nicht, von denen sich einige schon dazu geäussert hätten, schrieb er Hoffmann, deshalb sei er bereit, seinen Namen darunter zu setzen.

«Graf Monaldeschi» heisst das Drama, mit dem Nebentitel «oder Männerbund und Weiberwuth».78 Den Stoff hatte er einem Lexikon des Basler Professors Jakob Christoph Iselin (1681–1737) entnommen.79 Es ging darin um Königin Christina von Schweden (1626–1689), die gemäss Iselin wegen ihres italienischen Günstlings Monaldeschi auf ihren Thron und den protestantischen Glauben verzichtet hatte und 1656 mit ihm nach Frankreich reiste, wo sie aus kompromittierenden Briefen von seinem Verhältnis zu einer anderen Frau und seiner Verachtung für die Königin erfuhr. Darauf liess sie ihn auf Schloss Fontainebleau töten, was zu einer diplomatischen Verstimmung mit Frankreich führte. – Noch Jahrhunderte später wurden den Besuchern von Schloss Fontainebleau die Galerie gezeigt, wo diese Exekution stattfand, und das durchlöcherte Kettenhemd, das Monaldeschi dabei angeblich getragen hatte.80 Unter Weglassung der politischen Zusammenhänge, die auch bei Iselin nur angetönt sind,81 schrieb Zschokke ein bürgerliches Trauerspiel um Intrigen, Betrug und Verrat und konzentrierte sich auf Graf Monaldeschi, den er als Opfer von Machenschaften des Adels hinstellte. Monaldeschi verliebt sich in ein bürgerliches Mädchens, die Malerstochter Theresa, und will mit ihr eine Ehe eingehen, wird aber von der geballten Eifersucht der Königin und zweier Schurken, der Gräfin Kassandra de Karignan und des Marquis de Sida, zur Strecke gebracht. Kassandra vergiftet Theresa mit einem Glas Limonade, worauf deren Vater die Gräfin erdolcht. Zuvor aber hat die wahnsinnig gewordene Kassandra ihren Mord und die Fälschung der verräterischen Briefe Monaldeschis gestanden. Zu spät erfährt die Königin von ihrem Irrtum.

Die Literaturkritiker nahmen das Drama ungnädig auf. Man bemängelte, dass Zschokke Motive von Shakespeare, Schiller, Lessing und Meissner verwende, aber offenbar die Geschichte des Grafen Essex nicht kenne, dem unter der englischen Königin Elisabeth I. ein ähnliches Schicksal widerfahren war.82 Vor allem aber wurde beanstandet, es herrsche «ein unerträgliches Chaos von Verwirrung, und Lerm und Unordnung und eine äußerst verschrobne Kraftsprache darinn. Banditen treten auf; es wird entsetzlich gemordet, gerast; Geister erscheinen und die Sterbenden wälzen sich in ihrem Blute, welches gar fürchterlich auf dem Theater anzusehen seyn muß».83

Tatsächlich lauern bereits in der ersten Szene Meuchelmörder Monaldeschi auf, und es vergeht kein Akt, in dem nicht jemand seinen Dolch zückt, mit seiner Pistole auf einen anderen zielt, je nach Geisteszustand auf Freund oder Feind. Dabei überbieten sich die Frauen in ihrer rasenden Eifersucht und der abgefeimte Marquis de Sida an Schlechtigkeit. Grässliche Flüche werden ausgestossen, Himmel und Hölle angerufen und der Jüngste Tag heraufbeschworen. Durch blutrünstige Handlungen, schreiende und brüllende Personen, mit weit jenseits der Grenzen zum Wahnsinn angelegten Gefühlsausbrüchen wird das Publikum aufgeschreckt und in dauernder Anspannung gehalten.

 

Zschokkes «Monaldeschi» war eine Anklage gegen den korrumpierten Adel, der sich durch Geburtsrechte und Titel Ungerechtigkeiten und Übergriffe auf unschuldige Menschen erlaubte. Das Drama machte das Böse sichtbar und zwang die Zuschauer, aus einer Erschütterung heraus Stellung zu beziehen. Dabei ging es Zschokke gar nicht so sehr um eine Sozialkritik der gegenwärtigen Verhältnisse, denn das Stück ist ja in der Vergangenheit und in einem anderen Land verortet. Vielmehr war «Monaldeschi» ein Experiment, in dem er sein Theaterkonzept und die Zurschaustellung seelischer Ausnahmezustände erprobte. Zschokke griff tief in die Psyche der Personen ein: Er setzte sie extremen Situationen aus, in denen sie ihre Beherrschung verloren; das Publikum sollte dadurch in heftige Schwingung versetzt werden.

In seinem Aufsatz «Brief, aus dem Meklenburgischen», der Anfang Juli 1788 entstand, als «Monaldeschi» gerade fertig wurde, legte Zschokke seine dramaturgische Absicht offen. Das Wichtigste im Theater sei sein moralischer Nutzen. «Es scheucht mit Donnerstimme, mit Dolch und Gift, mit Fluch und verzweifelnder Wuth von der schwarzen Lasterthat zurück; malt die Tugend in süsser, liebenswürdiger Grazie vor, wie sie immer das Herz des unbefangnen Gefühlvollen am mehrsten bezauberte, und zeigt uns unsre Fehler und Schwächen in der lächerlichsten Gestalt.»84 Der Zuschauer soll sich wie in einem Spiegel selber erkennen und auf der Bühne mit den eigenen Schwächen konfrontiert werden:

«Wie oft hat nicht der Knauser im Parterr

Den Knauser auf der Bühne laut belacht.»

Zschokke zielte darauf ab, bei den Zuschauern Entsetzen und Rührung auszulösen, als Mittel zur moralischen Besserung. Nicht nur die Gebildeten erreiche diese Art der Erschütterung, sondern auch einfache Menschen, die keine Bücher läsen, «bis in die äussersten Glieder der menschlichen Gesellschaft, [...] bis zur Werkstelle des Handwerkers».85 Gutes Theater habe dieselbe Wirkung wie echte Religion: Es veredle und läutere die Menschen aller Klassen, mache den Tyrannen zum Fürsten und den Fürsten zum Vater. Daher solle man die dramatische Kunst genauso pflegen und schützen wie die Kirche. «Als mein Freund einst aus der Vorstellung von Kabale und Liebe zurückkam, und ich ihn fragte, woher er so spät käme? gab er mir zur Antwort: Aus der Kirche!»86 Eigentlich müssten Schauspieler genauso geachtet und besoldet werden wie Pfarrer, meinte er, «weil beyde Tugend predigen und heut zu Tage jene es öfters sogar mit glücklicherm Erfolge thun».87

Es lässt sich kaum verhehlen: «Monaldeschi» ist ein misslungenes Stück, was die Absicht und die Zschokke zur Verfügung stehenden Mittel betrifft. Zschokke kannte zwar die Dramen von Schiller und das eine oder andere von Lessing, hatte aber den Wandel zum bürgerlichen Trauerspiel, den Lessing mit «Miss Sara Sampson» (1755) und seinen theoretischen Schriften begründet hatte, noch nicht vollzogen, sondern war stark vom deutschen Barockdrama beeinflusst. In einem Versuch, den Dichter Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683) zu rehabilitieren, rühmte er die «Urschönheit des Trauerspieles, auf ihre geheimnißvollen Mittel, Thränen der Wehmut zu erwecken, oder tiefes Grausen zu erregen».88 Zwei während Neros Gewaltherrschaft spielende Stücke von Lohenstein bezeichnete er als seine besten Dramen und zitierte daraus eine Folterszene und die Verführung Neros zur Blutschande durch seine Mutter Agrippina. Martin Schulz, der sich als bisher einziger Forscher mit Zschokkes Dramen und seiner Dramentheorie auseinandersetzte, findet diesen Aufsatz «ohne Wert» und meint, er werfe «ein wenig günstiges Licht auf das ästhetische Empfinden seines Verfassers». Und weiter: «Wieweit diese Ansicht in seinen eigenen Dramen zum Vorschein kommt, wird deren Untersuchung erweisen.»89

Zschokke zog aus Lohenstein die falschen Schlussfolgerungen und überschätzte dessen dramatische Wirkung. Statt die Zuschauer pflegsam zu behandeln und ihr Mitleid zu wecken, wie Lessing es vorschlug,90 putschte er ihre Gefühle auf und stiess sie ab.91 Eine Katharsis war so nicht mehr zu erreichen, und für den Kunstgenuss des gebildeten Publikums im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden Verstand und ästhetisches Empfinden sowieso zu wenig einbezogen. Dennoch: Im wenig aufregenden bürgerlichen Theater jener Zeit verschaffte sich Zschokke, der noch echte Bösewichte auf die Bühne brachte, den Ruf eines Kraftgenies.

Auch wenn die Personen im «Monaldeschi» noch weitgehend aneinander vorbeireden, weil Zschokke die Kunst der Dialoge nicht richtig beherrschte, gab er den Schauspielern reichlich Gelegenheit, in unterschiedlichen Stimmungslagen zu agieren und sich exklamatorisch zu entfalten. Er schrieb ein aussergewöhnlich expressives Stück, für Zuschauer mit starken Nerven sicherlich ein Riesenspektakel. Schiller wohnte Anfang Januar 1791 einer Liebhaberaufführung in Erfurt bei; es wäre interessant zu erfahren, wie er das Stück empfand. Er habe, hiess es, den Gegenstand für eine künftige Bearbeitung in seinem Verzeichnis notiert.92

Bedauerlicherweise lernte Zschokke in dieser Hinsicht nicht viel dazu und variierte Themen und Mittel zu wenig, um das Potential seines Theaterschaffens in den elf Stücken, die er bis 1804 schrieb, auszuloten. Immerhin gelang ihm einige Jahre später mit seinem «Abällino» ein grosser Wurf, wobei er dem Versuch, das Publikum zu schockieren, eine neue Dimension gab.

IM TROSS EINES WANDERTHEATERS

Ob Zschokke das Theater in Schwerin häufig besuchte, wissen wir nicht. In dieser Zeit wurden «Emilia Galotti» und «König Lear» aufgeführt (beide zweimal), hintereinander drei verschiedene Versionen von «Figaros Hochzeit», «Romeo und Julie» als Singspiel von Gotter mit Musik von Georg Benda, Goethes «Clavigo» und «Der Graf von Essex oder die Gunst der Fürsten» von Johann Gottfried Dyk nach dem Englischen von John Banks. Beliebt waren Lustspiele mit publikumswirksamen Titeln wie «Der Eheprokurator oder Liebe nach der Mode» und «Die Wirthschafterin oder der Tambour bezahlt alles», Erfolgsstücke, die der Zerstreuung und Unterhaltung dienten, Vorstellungen die ein Ehepaar gemeinsam besuchen konnte, ohne Ungebührliches zu befürchten. Dieses Theater war weit von der moralischen Besserungsanstalt entfernt, die Zschokke und andere forderten.

Falls Zschokke also in Schwerin ins Theater ging, dann wohl selektiv und in der Absicht des Dichters, das für ihn erforderliche Rüstzeug zu erlernen, sein kritisches Urteil zu schärfen und sich mit schauspielerischen Möglichkeiten vertraut zu machen. Es gibt aber keinen Hinweis, dass er Theaterrezensionen für die «Monatsschrift von und für Mecklenburg» verfasste. Dagegen befreundete er sich mit dem Schauspieler Wilhelm Burgheim, Vater mehrerer Kinder, der ein angenehmes Äusseres mit einer schnarrenden Stimme verband.93 In Schwerin spielte er bevorzugt Offiziere und alte Geizige, seine Gattin (oder die Dame, die er dafür ausgab) Hilfsrollen.94 Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute Burgheim Zschokke an, er heisse eigentlich von Schlabrendorf, sei Baron und von seiner Familie verstossen worden, weil er eine nichtadelige Geliebte aus dem Kloster entführt habe. Nun werde er mit unversöhnlichem Hass verfolgt und müsse sich inkognito und als Schauspieler durchs Leben schlagen.95 Diese romantische Geschichte rührte Zschokke; vielleicht erinnerte sie ihn an Graf Monaldeschi und seine Theresa – oder hatte Burgheim für Monaldeschi und die Liebe zu einer Bürgerlichen gar Modell gesessen? Dass Zschokke Burgheims Geschichte für bare Münze nahm, kommt uns naiv und überspannt vor, aber man muss seine Jugend, den Mangel an Lebenserfahrung und Burgheims selbstbewusstes Auftreten in Rechnung stellen. Trotz seiner Vorliebe für Rangprädikate und Titel, mit denen Zschokke, bei aller demokratischen Gesinnung, ein Leben lang kokettierte, war es nicht in erster Linie die Baronie, die ihn zu Burgheim hinzog. Burgheim war vielleicht der erste Mensch, der Zschokke ernst nahm, ihn als ebenbürtig, nicht wie ein Kind oder einen Schüler behandelte. Die beiden steckten ihre Köpfe zusammen und planten eine gemeinsame Zukunft: Burgheim als Theaterdirektor und Zschokke als sein Dichter und Sekretär.96 Offenbar vergassen sie über ihren Plänen, dass Burgheim ein einfacher Schauspieler war und nicht einmal über Macht und Mittel verfügte, Zschokkes «Monaldeschi» auf die Bühne zu bringen.