Heinrich Zschokke 1771-1848

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FLUCHT NACH SCHWERIN

Am 22. Januar 1788 reiste Zschokke von Magdeburg ab, um sein Glück anderswo zu suchen.1 Er täuschte die Mitmenschen über seine Pläne, da er wohl zu Recht annahm, man hätte sie missbilligt und ihn nicht ziehen lassen. Als er am Tag zuvor von Christiana Faucher Abschied nahm, behauptete er, zu einer Hochzeit eingeladen zu sein. Und dann, fuhr seine Lieblingsschwester fort, als sie im Oktober 1826 ihrem Neffen Theodor Zschokke davon erzählte, sei er in die weite Welt gezogen und man habe nichts mehr von ihm gehört, bis er zur Universität gegangen sei.2

Vielleicht verabschiedete Zschokke sich noch von anderen Verwandten, womöglich meldete er sich von der Schule ab; auf jeden Fall besorgte er sich einen Reisepass, um nicht von der Torwache abgewiesen oder einer Patrouille aufgegriffen zu werden. Man befand sich in Preussen, in einem gut organisierten und überwachten Staat, wo immer Jagd auf jemanden gemacht wurde: auf Landstreicher, Bettler, steckbrieflich gesuchte Verbrecher und vor allem auf Deserteure.

In den «Avertissements» der Magdeburgischen Zeitung wurden im Januar und Februar 1788 als verloren, entlaufen oder vermisst gemeldet: zwei Hunde, ein Pferd, ein Spazierstock, eine Uhr, ein Arbeitsbeutel und ein Achselband. Ein Jüngling gehörte nicht dazu. Das bedeutet nicht, dass man sich seinetwegen keine Sorgen machte. Aber, so dachte man wohl, wenn es ihm schlecht ergehe, werde er von selber heimkommen.

Wenn Zschokke beifügte, seine Abreise habe an einem «neblichten, kalten, doch schneelosen Wintermorgen» stattgefunden, so evozierte er eine Stimmung, die er in «Eine Selbstschau» noch verdichtete: «Die Geburtsstadt, mit ihrem schwerfälligen Wall- und Mauergürtel und darüber ragenden vielen Thürmen und Giebeln, verschwamm, Grau in Grau, hinter seinem Rücken. Unbekannte Landschaften, unbekannte Dörfer, Baumgruppen und Wandersleute, alle vom Reif versilbert, tauchten eins ums andre freundlich vor ihm auf im falben Duft.»3 Es war der erste Akt der Befreiung, die Lösung der Fesseln der Kindheit, die er von langer Hand vorbereitet hatte.

Er mietete ein Pferd und ritt durch das Krökentor aus Magdeburg hinaus, im Gepäck einige wenige Kleidungsstücke, sicherlich auch Bücher und Manuskripte und etwas Bargeld: ein kleines Darlehen von einer seiner Schwestern – vermutlich Christiana Faucher – und erspartes Taschengeld.4 Er fühlte sich «licht und frei, wie der Singvogel, dem Käfig entflattert», es war ihm zum Singen und Jauchzen zumute, «er hätte das weite Weltall mit den Augen eintrinken, jeden Bauer umarmen mögen».5 So jedenfalls deutete er in den Lebenserinnerungen die Erleichterung, als Magdeburg im Nebel verschwand. Hinter sich gelassen hatte er ein Leben, das andere für ihn bestimmten und das ihn zu ersticken drohte, zahllose Sticheleien und Kabbeleien, aber auch finanzielle Nöte und Hunger.

In seinem ersten Bericht nach Hause, den er, nach fast anderthalbjährigem Umherziehen, im Juni 1789 nicht an seine Angehörigen, sondern an Freund Behrendsen richtete, rechtfertigte er seine damalige Flucht: «Ich verlies Magdeburg sowol aus Mangel an guten Fortkommen und Bedürfnissen, als auch aus einer Art hypochondrischer Laune, welche mich noch izt zuweilen anwandelt. [...] Unbesonnenheit war mein Schritt nicht, mein wolüberlegter Plan der armen, sinkenden Tugend und des innern Stolzes, des Bewußtseins: sieh Unglüklicher, so mußt du immer elender werden, Herz und Geist verderben sehn, da du doch glüklicher sein könntest!»6

Sich nach Halle an die Universität zu begeben, war für den 16-Jährigen nicht ratsam. Es gab zwar keine Altersbeschränkung und ein Schulzeugnis war auch nicht erforderlich; es hätte aber einer schriftlichen Erlaubnis seines gesetzlichen Beistands bedurft, und die hatte er ihm ja versagt. Also wandte er sich nach Norden, nach Schwerin. Die Hauptstadt des Herzogtums Mecklenburg-Schwerin lag knapp 25 deutsche Meilen (rund 180 km) von Magdeburg entfernt und unterstand nicht der Jurisdiktion Preussens, so dass Zschokke vor Häschern, die von Verwandten oder Gläubigern allenfalls gegen ihn in Bewegung gesetzt wurden, einigermassen sicher war, sobald er die Staatsgrenze überschritten hatte. Am zweiten Tag, als er bei Schnackenburg7 die Elbe passieren wollte, die hier von Ost nach West verlief, eine knappe Reitstunde vor der Grenze des Kurfürstentums Brandenburg, bildete er sich ein, aus vier oder fünf heiseren Kehlen seinen Namen rufen zu hören, und meinte endlich auch, «die garstigen Kerls» zu erblicken.8 Aber es waren nur seine überreizten Nerven.

Noch am selben Abend, endlich im Ausland, als er in Grabow in einem Gasthof einkehren wollte, ereignete sich ein sonderbarer Vorfall. Die Wirtin empfing ihn bei hereinbrechender Nacht mit Umarmungen und Küssen, als ob er ihr lange vermisster Sohn sei, und als sie sich bei Licht ihres Irrtums gewahr wurde, überhäufte sie ihn weiterhin mit mütterlicher Zuwendung und Leckereien, ohne dafür am Schluss eine Rechnung zu stellen. Zschokke, seelisch ausgehungert, da ihn seit dem Tod des Vaters, «niemand mit Zärtlichkeit ans Herz gezogen hatte», erfüllte diese Begebenheit mit einem süssem Schauer. Er habe, schrieb er, in dieser Begegnung den Glauben an die Menschheit wieder gefunden.9

Anderntags traf er in Schwerin ein und ging unverzüglich zu Wachsmann, einem ehemaligen Mitschüler, der Schauspieler geworden war. Wachsmann hatte ihm eine Perspektive eröffnet, der Misere, dem Stumpfsinn seines bisherigen Lebens zu entrinnen, indem er ihm brieflich das schöne Leben eines Schauspielers geschildert hatte. Wachsmann hielt sich von 1788 bis 1791 in Schwerin auf und wurde in zweiten Rollen am Theater eingesetzt, während seine junge Frau als erste Liebhaberin in Opernstücken tätig war.10 Zschokke traf die beiden gerade beim Frühstück.

Wachsmann habe ihn zunächst herzlich empfangen, erzählte Zschokke, aber auf sein Anliegen, Schauspieler zu werden, bestürzt reagiert. Er habe ihn seines unbesonnenen Knabenstreichs wegen gescholten und aufgefordert, nach Magdeburg zurückzukehren, weil er sich seinetwegen keine Scherereien einhandeln wolle. «Du, ein Hofschauspieler!», habe er gehöhnt: «Was für eine Figur soll man denn aus dem kleinen Mann auf dem Theater schnitzeln? Einen Zettelträger, Lampenputzer, Statisten? Du bist für das Alles zu jung!» Zschokke verhielt sich wie in der Fledermausgeschichte: Er reagierte mit verletztem Stolz. Er habe Wachsmann einige sarkastische Bemerkungen zurückgegeben, sich verbeugt und sei weggegangen, ohne ihn jemals wiederzusehen.11

Es gab einen triftigen Grund für Wachsmann, nervös zu werden und auf Zschokkes Wunsch nicht einzugehen: Die Existenz des Schweriner Theaters und die Anstellung des Ehepaars Wachsmann waren zu jener Zeit gefährdet. Nach dem Tod des kinderlosen Friedrich I. (1717–1785), genannt der Fromme, der das Theaterspielen untersagt hatte, war sein lebenslustiger Neffe Friedrich Franz I. (1756–1837) als Herzog von Mecklenburg-Schwerin nachgerückt. Gleich nach dem Wechsel wandten sich die Direktoren verschiedener Theatergesellschaften an den Magistrat von Schwerin mit der Bitte, sich in der Stadt installieren zu dürfen. Die Bevölkerung war theaterbegeistert, doch die Behörde verzögerte den Entscheid, bis Friedrich Franz bekundete, dass er gegen das Theaterspiel nichts einzuwenden habe. Im November 1787 erhielt Gottfried Friedrich Lorenz, der sich schon einige Zeit in der Stadt aufhielt, die Konzession zur Eröffnung seiner Bühne.12 Lorenz spielte den Winter durch fünfmal wöchentlich und füllte jedesmal den Rathaussaal. Das sprach sich herum, und von allen Seiten trafen Schauspieler ein, die Lorenz anwarb oder von sich aus kamen, weil sie mit ihrer bisherigen Anstellung unzufrieden waren. Man befand sich mitten in der Saison; der Zustrom zu Lorenz und der Abgang von anderen Truppen führten zu Reibereien. Der Direktrice Marianne Köppi, die in Ratzeburg gastierte, liefen bis auf eine Ausnahme alle Schauspieler weg, so dass sie beim Schweriner Magistrat Klage auf Entschädigung einreichte. Sie drang nicht durch und kam ihrerseits nach Schwerin, um sich Lorenz anzuschliessen.

Als Zschokke in Schwerin eintraf, rumorte es am Theater gewaltig: Die Inhaber der Abonnemente fühlten sich durch Lorenz geprellt, weil er sie für die Aufführung des «Hamlet» extra bezahlen liess, und auch einige Schauspieler lehnten sich gegen ihn auf, so dass er die Direktion Anfang Februar 1788 niederlegen musste. Im fliegenden Wechsel übernahmen zwei angesehene Schweriner Beamte, Kammerherr Graf von Bassewitz und Justizrat Wachenhausen, die Leitung über die mittlerweile zwölf Schauspielerinnen, vierzehn Schauspieler und acht weiteren Angestellten. Rollen für Jünglinge gab es wenige oder keine; Zschokke hätte weder als Kind noch als jugendlicher Liebhaber eine Chance gehabt. Zu letzterem war er eingestandenermassen zu klein.

Es war übrigens keine Seltenheit, dass Jünglinge aus bürgerlicher Familie von zu Hause davonliefen, um sich einer Schauspielertruppe anzuschliessen, angezogen von Glanz, Glamour und leichter Lebensweise. In Magdeburg hatten der Schriftsteller Joachim Christoph Friedrich Schulz, der Pädagoge Johann Gottlieb Schummel und der Bäckergeselle Carl Ludwig Costenoble (1769–1837) mit einer Theaterlaufbahn geliebäugelt. Costenoble, der in Magdeburg die Domschule und zur gleichen Zeit wie Zschokke die Friedrichsschule besuchte, war aber der einzige, der den Beruf tatsächlich ergriff.13 Die anderen (aber auch Costenoble) hatten Abenteuerlust, Unrast und die Aussicht auf ein angenehmes Leben mit viel Prestige in die Arme wandernder Theatertrupps getrieben.

 

Zschokke hatte seine ganze Hoffnung auf Wachsmann und seine Karriere als Schauspieler oder Schauspieldichter gesetzt; er kannte in Schwerin sonst keinen Menschen. Was sollte er jetzt tun? Ein glücklicher Zufall kam ihm zu Hilfe. Ein Kanzlist namens Fahrenheim hatte seinen Auftritt bei Wachsmann miterlebt und sich darüber amüsiert; er sprach ihn auf der Strasse an, bot ihm bei sich eine Unterkunft an und führte ihn bei Hofbuchdrucker Bärensprung ein.14

HAUSLEHRER BEI BUCHDRUCKER BÄRENSPRUNG

Schwerin war ganz anders als Magdeburg: weniger puritanisch und martialisch, mit einem Hang zu Vergnügungen und Luxus und altmodisch verzopft. Eingebettet zwischen zwölf Seen öffnete sich die Stadt dem Umland, verzichtete auf Haupt- und Nebenwälle, Bastionen und eine schwer befestigte Zitadelle, besass dafür ein verlottertes Schloss, damals unbewohnt, so dass sich das Volk im Park vergnügen konnte. Die Stadt zählte, Schelf- und Vorstadt einbezogen, rund 7000 Einwohner.15 Industriell betriebenes Handwerk gab es kaum; der Handel war bescheiden und wurde vor allem durch Juden besorgt. Es gab 91 Schuhmacher, 19 Perückenmacher und Friseure, 8 Goldschmiede, aber nur 2 Tuchmacher.16 Eine der Haupteinnahmequellen war die Landwirtschaft.

Die Beamten, Hofleute und der Adel gaben den Ton an. Man schätzte sie auf 1500 Personen. Reisende stellten eine «scharfe Absonderung der Stände bis ins Kleinste, ja Komische und Widersinnige» fest. «Besonders der Adel schloß sich gänzlich von der bürgerlichen Gesellschaft, den Kaufleuten und Gelehrten, ab.»17 Es wimmelte von Juristen: Um die Jahrhundertwende zählte Schwerin 37 Advokaten und 19 Notare.18

Wilhelm Bärensprung (1737–1801) besass eine Buchdruckerei an der Bergstrasse 164, mitten in der Schelfstadt, einer bevölkerungsmässig aufstrebenden, aber ruhigen Gegend Schwerins, in der Nachbarschaft von Fischern und hohen Beamten. Er führte einen traditionellen Provinzverlag mit juristischen, kameralistischen, ökonomischen, theologischen und Gelegenheitsschriften, die meist nur regionale Beachtung fanden und weder hohe Auflagen erzielten, noch viel Gewinn abwarfen. Den attraktiven Markt mit Unterhaltungsliteratur und klingenden Namen überliess man den Preussen oder Sachsen, und in den Wissenschaften hatte die Universitätsstadt Rostock die Nase vorn.

Mit der üblichen mecklenburgischen Verzögerung hatte auch hier die Aufklärung Einzug gehalten; sie war in der typischen Ausprägung der Volks- und Bauernaufklärung in voller Blüte, als Zschokke nach Schwerin kam. Die Landwirtschaft war geprägt von einer Gutsherrschaft mit leibeigenen Bauern. Die Alphabetisierungsrate war erschreckend tief,19 die Prügelstrafe weit verbreitet und fest im Justizsystem verankert, in den Varianten Knotenpeitsche (für Arbeiter, Knechte und Gesellen) und Rute (für harmlose Vergehen und Kinder).20 Frauen wurden nicht durch Auspeitschen bestraft, sondern mit einem Halseisen an den Schandpfahl gebunden.21 Die Strafrechtsund Agrarreformer hatten noch einen weiten Weg vor sich. Das Thema Reform lag in der Luft, aber man war in dieser Ecke Deutschlands am Vorabend der Französischen Revolution meilenweit davon entfernt, die Frage des Naturrechts und der allgemeinen Menschenrechte philosophisch anzugehen. Bärensprung liess einige vorsichtig aufklärerische Werke in seinem Verlag erscheinen, die sogleich auf heftige Kritik stiessen. Es ist zu vermuten, dass Zschokke, der durch seine Beschäftigung für Bärensprung in die Auseinandersetzung einbezogen wurde, hier eine erste Anregung für sein späteres Engagement in Bauernfragen empfing. Nachdrücklicher auf ihn wirkte wohl ein Druckauftrag, den Bärensprung zwischen Herbst 1787 und Sommer 1788 ausführte.

Der Publizist und Pädagoge Rudolph Zacharias Becker (1752–1822) und sein Verleger Georg Joachim liessen nach vierjähriger Vorbereitung und intensiver Werbung 1788 ihr «Noth- und Hülfs-Büchlein oder lehrreiche Freuden- und Trauer-Geschichte des Dorfs Mildheim. Für Junge und Alte beschrieben» (Gotha und Leipzig) in Grossauflage erscheinen.22 Um die Herausgabe zu beschleunigen und die Transportkosten zu verringern – das Werk sollte trotz eines Umfangs von 476 Seiten und 49 Holzschnitten nur vier Groschen kosten –, arbeitete man mit vier über Deutschland verstreuten Druckereien zusammen, darunter Bärensprung in Schwerin, der 5000 der 30 000 Exemplare der Erstauflage übernahm.23 Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein» wurde zu einem Standardwerk der Volksaufklärung, wobei man unter dem Volk hier die Bauern verstand. Becker wollte sie in ihrem Alltag unterstützen, zu einer effizienteren Produktionsweise und einem sittlich-frommen Leben erziehen.

Wilhelm Bärensprung war gesundheitlich angeschlagen, als er den für seine Verhältnisse grossen Druckauftrag erhielt, und erst recht, als er Ende Januar 1788 Zschokke in seine Dienste nahm. Er brauchte einen Hauslehrer für seine Söhne und in der Druckerei eine Hilfskraft. Für beides war Zschokke geeignet, und er nahm die Stelle bereitwillig an, wenn sie ihm auch nur ein bescheidenes Gehalt mit Familienanschluss im Haus seines Arbeitgebers einbrachte. Jetzt war er finanziell unabhängig, und er benachrichtigte seinen Vormund, er werde sich die nächsten beiden Jahre aus eigener Kraft durchschlagen und danach an die Hochschule gehen. Bis dahin solle er ihm die Zinsen seines väterlichen Erbes zurücklegen.24

Andreas Schocke erhielt von Vormund und Verwandten den Auftrag, den entlaufenen Bruder einzufangen. Da weder bittende noch drohende Briefe fruchteten, erschien er persönlich in Schwerin, und es gelang ihm, Heinrich «mit den süssesten Lokkungen» zu überreden, ihn nach Magdeburg zu begleiten. Unvorsichtigerweise verriet er ihm unterwegs seine Absichten, und so entwich Heinrich in Lenzen, einem Städtchen am Nordufer der Elbe unweit von Schnackenburg, und kehrte nach Schwerin zurück.25 «Man überließ endlich den ‹halsstarrigen Taugenichts› seinem Verhängniß.»26

Die Hofbuchdruckerei von Wilhelm Bärensprung, wo Zschokke 1788 als Hauslehrer und Mitarbeiter im Verlag tätig war und wohnte, befand sich an der Bergstrasse 164 (später 38) in der Neustadt. Das hier gezeigte Nachbarhaus Bergstrasse 40, das bei dieser Aufnahme (2007) abbruchreif war, ein dreistöckiges Fachwerkhaus mit Walmdach und einer grossen Toreinfahrt, dürfte Bärensprungs Druckerei geglichen haben, wenn diese auch etwas schmaler und niedriger war.

Zschokkes Zöglinge, die er «in den Anfängen der lateinischen Sprache, Geschichte, Geographie u. s. w. unterrichtete»,27 waren Christian Johann Wilhelm (1772–1803) und Georg Diedrich Christian Franz Bärensprung (1775–1796). Wilhelm junior sollte demnächst bei seinem Vater eine Buchdruckerlehre absolvieren, sich dann auf Wanderschaft begeben, um in anderen Druckereien zu arbeiten. Bevor er den väterlichen Betrieb übernehmen konnte, sollte er sich noch etwas bilden, wofür ihm sein Vater aber die öffentlichen Schulen nicht zumutete. Sein Bruder Georg brauchte noch Basiswissen, das ihm ebenfalls Zschokke beibrachte.

Zschokke erwähnte nur diese zwei Knaben, Wilhelm und Georg, obwohl noch vier Schwestern und ein kleiner Bruder da waren.28 Die beiden Schüler hingen mit grosser Liebe an ihrem Lehrer und weinten, Zschokke mit ihnen, als er im November fortzog. Dass er mehr als nur Schulstoff vermittelte, zeigt eine Widmung, die Georg ihm 1796 von seinem Sterbebett aus in die Schweiz schickte: ein Porträt mit dem Text «Hir blüht Dein Staub noch!», das Zschokke als Reliquie aus ferner Vergangenheit aufbewahrte.29 Der jüngste, damals noch nicht geborene Bruder Justus Christoph Heinrich (1789–1832) besuchte Zschokke 1811 in Aarau. Als er ihn auf seinen Aufenthalt in Schwerin ansprach, erfuhr er, dass Zschokke «aus diesem Zeitraume seines Jugendlebens manches aus dem Gedächtnisse entschwunden sei».30 Man kommt zum Schluss, liest man die «Selbstschau», nicht nur manches, sondern fast alles hatte er von Schwerin vergessen, abgesehen von der Landschaft, die er schwärmerisch besang.31

Auch zu dieser Phase in Zschokkes Leben sind die Informationen spärlich, und es ist nicht gesagt, dass wir hinreichende Kenntnisse haben, um wichtige Ereignisse und Entwicklungen nachzuvollziehen. So schrieb Zschokke, dass er sich in der Druckerei als Korrektor betätigt habe.32 Er könnte dabei mit Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein» in Berührung gekommen sein. Die gedruckten Bogen kamen einzeln, unmittelbar nach ihrer Fertigstellung, aus der Druckerei in Gotha nach Schwerin und mussten nach der Vorlage neu gesetzt, korrigiert und gedruckt werden. Dabei erhielten die regionalen Ausgaben eine eigentümliche Ausprägung;33 Bezeichnungen und Namen wurden moderat dem jeweiligen Idiom angepasst: Sauerkraut wurde in Mecklenburg zu Sauerkohl, Schlozer zu Büdeltitt, der Pfarrer zum Pastor und die Bauern Görge und Nickel zu Jürgen und Niclas. Es gibt in «Eine Selbstschau» an dieser Stelle keinen Hinweis auf Beckers «Noth- und Hülfsbüchlein». Da Zschokke seiner Tätigkeit als Volkslehrer – so der Titel des fünften Kapitels im vierten Buch – besondere Aufmerksamkeit schenkte und Becker anderswo zweimal erwähnte, wäre dies aber zu erwarten gewesen. Wahrscheinlicher aber ist, dass er andere Dinge korrigierte und man das «Nothund Hülfsbüchlein» einem bewährten einheimischen Korrektor überliess, der wusste, wie eine beliebte Mehlspeise in Mecklenburg hiess, nämlich Klümpen statt Klösse.34

Zschokkes wichtigste Arbeit bei Bärensprung war die Gründung der «Monatsschrift von und für Mecklenburg», die ihn unter anderem dazu veranlasste, sich mit Land und Leuten auseinanderzusetzen.

MONATSSCHRIFT VON UND FÜR MECKLENBURG

Mit kaum 17 Jahren projektierte Zschokke seine erste Zeitschrift und setzte bei Bärensprung die grösste Innovation der vergangenen zwanzig Jahre in Gang. In «Eine Selbstschau» wird dies fast nur beiläufig angemerkt: «Ich [...] entwarf [...] die Herausgabe einer ‹Monatschrift von und für Mecklenburg›, welche wirklich nachher, unter Leitung eines Professors Wehnert, ans Licht trat.» In welchem Ausmass Zschokke daran beteiligt war, kann dank einigen bisher nicht bekannten Dokumenten präziser beantwortet werden, als die Mecklenburgische Pressegeschichte dies tut35 und es Carl Günther möglich war.36

Ankündigung der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» in der «Schwerinschen Zeitung, von den merkwürdigsten Staats-Geschichten» vom 17. April 1788 durch Zschokke und Wilhelm Bärensprung. Hier die Vorderseite des Prospekts.

Mitte April 1788 erschien in der «Schwerinschen Zeitung» ein Prospekt, der vom eigentümlichen Stil Zschokkes geprägt ist:37

«Ankündigung eines Journals von und für Meklenburg.

Oft überdenken wir in einsamen Feierstunden die Geschichte unsrer und der Vorzeiten; überdenken ernsthaft was wir izt sind und was wir einst waren; sehn, wie von Stufe zu Stufe der menschliche Geist allmälig sich und andre um ihn vorhandene Gegenstände, erhöhte und polizirte; werfen dann einen, wiewohl nur matten Blik in die verschleierte Zukunft und stille Ahndungen steigen alsdann in unsrer Seele auf. – Solche Stunden sind oft die süssesten des ganzen Tags. Dann sezzen wir uns zu einem kleinen, freundschaftlichen Kreise und ergiessen unsre Empfindungen. Warme Vaterlandsliebe belebt unsern Geist, und Feuer des Patriotismus giebt unsern Worten Kraft und Energie. –

Aber warum erwerben wir uns solcher Stunden nicht mehr? – warum fachen wir den glimmenden Funken der Liebe fürs Vaterland nicht mehr in uns an, ihr Meklenburger! wessen ist die Schuld? –

Schon vieles wurde über die Mittel, Vaterlandsliebe zu erwekken, geschrieben, aber immer bleibt doch das bewährteste folgendes: daß man ein Volk mit sich selber bekannter machen, ihm Vorzüge und Fehler seiner selbst offenbaren und Gefühl und Geschmak für das wahre Schöne in ihm ausbreiten mus.

Wir haben uns vorgenommen diesem Ziele entgegen zu arbeiten; Liebe für Fürsten, Obrigkeit und unsern väterlichen Heerd zu befördern; unsre Mitbürger mit Kenntnissen, die auf Geist und Karakter gleichen Einflus haben, zu bereichern, mit Kenntnissen, die theils aus der Vaterlandsgeschichte, theils aus der Natur desselben hergenommen sind. – Damit wir aber allgemeiner und nuzbarer werden, wollen wir unsrer Schrift die Gestalt eines Journals, einer Monatsschrift geben, weil diese Art Schriften in unserm Decennio die beliebteste und gewöhnlichste ist.

 

Wir werden hierinn die Geschichte Meklenburgs angenem und im erzälenden Tone fragmentarisch vortragen; dies für den edlen, patriotischen Meklenburger, der lüstern nach der Kronik seines Vaterlands ist. Ein Gedanke, ein Wunsch, der schon einmal in der Monatsschrift für Kinder und ihre Freunde (2ten Jahrgangs 2tes Stück pag. 100) geäussert wurde. Ferner sollen politische Aufsäzze mit statistischen, litterarische mit philosophischen, biographische mit moralischen abwechseln, so, daß der einsame Denker und Weise eben so wohl, als der Geschäftsmann, Bürger und die Dame an ihrer Toilette, Stoff zum Nachdenken und Vergnügen für sich finde. Auch werden wir Poesien in unser Werk aufnemen, doch müssen sie Produkte eines Meklenburgischen Dichtergenies sein und sich durch Wiz und Eleganz empfelen. Aber dies soll uns nicht fesseln ausländische Meisterstükke, welche mittel- oder unmittelbaren Bezug auf unser Vaterland haben können, mit einzurükken.

Vorzüglich ersuchen wir Meklenburgs Adel, Ämter und Städte uns mit Urkunden, Diplomen, Mortalitätstabellen, und andern, für Vaterlandsgeschichte, Polizei, Statistik und Topographie interessante Nachrichten mitzutheilen. Dankbar werden wir uns bestreben, sowohl für das Intresse der Einsender, als für unser eigenes, den besten Gebrauch davon zu machen. Manchem Amte, mancher Stadt mangelte vielleicht Gelegenheit auf eine gute Art alte Gerechtsame, Vortheile und Vermächtnisse durch öffentliche Bekanntmachung gegen Untergang und Vergessenheit desto besser zu schüzzen – hier zeigt sie sich!

Überhaupt jeder eingesandte Aufsaz soll uns willkommen sein, sobald er uns unserm Zwekke näher leitet – der wärmste Dank sei dem edeln, patriotischen Verfasser und Unvergeslichkeit seines Namens! –

Doch genug! – wir scheiden, lieben[!] Leser; schlägt ein Herz für Meklenburg und Meklenburgs Söhne in euch, so seid uns günstig! –

Herausgeber.»

Das erste Heft werde nach Ablauf der Subskriptionsfrist in der zweiten Hälfte Mai in einem Umfang von fünf bis sechs Bogen (80 bis 96 Seiten) herauskommen, erklärte der Verleger. Bärensprung wollte mit der neuen Zeitschrift nicht zu viel riskieren; Zschokkes Plan schien ihm Gewähr zu bieten, sowohl Leser als auch Mitarbeiter dafür zu gewinnen. Die Zeit war knapp bemessen; deshalb ist anzunehmen, dass das Organisatorische bereits geregelt war und erste Beiträge vorlagen, als die Ankündigung erschien. Für die Redaktion war eine nicht genannte Schweriner Gesellschaft zuständig, von der zunächst nichts weiter bekannt ist, als dass Zschokke ihr angehörte. Vermutlich waren es vorwiegend junge, kulturell interessierte Männer.

Kaum war der Prospekt veröffentlicht, meldete sich aus dem vierzig Kilometer entfernten Parchim der Rektor der Stadtschule Johann Christian Martin Wehnert (1756–1825). Er habe seit längerer Zeit ebenfalls eine vaterländische Zeitschrift geplant und Mitarbeiter um sich geschart, ja er sei gerade daran, das Publikum darüber zu orientieren.38 Da die beiden projektierten Zeitschriften sich wie Zwillingsschwestern glichen, schlage er vor, sie zusammenzulegen. Auch wenn es den Zeitplan verzögerte, entschloss sich Bärensprung, mit Wehnert zusammenzuarbeiten.39 Er traf mit ihm eine Vereinbarung, wonach er die Redaktion übernehmen und alle Beiträge begutachten sollte. Die erste Ausgabe der «Monatsschrift von und für Mecklenburg» sollte Ende Juli erscheinen. Wehnert erhielt die von Zschokke geschriebenen oder redigierten Artikel zu den ersten beiden Heften zugestellt, entwarf einen neuen Plan für die Zeitschrift, der ihm zweckmässiger schien als der alte, wandte sich an die Regierung mit der Bitte um Portofreiheit und um Mitteilung aller Verordnungen, durch deren Abdruck er seinem Blatt einen besonderen praktischen Wert beizulegen gedachte,40 schloss die Aufsätze aus Schwerin in seinem Schreibtisch ein und verreiste mit seiner jung angetrauten Frau zur Erholung nach Bad Pyrmont.

Bärensprung war nicht gewillt, den Beginn der Zeitschrift noch weiter zu verschieben, also wandte er sich an seinen Nachbarn, Hofrat Ernst Friedrich Bouchholtz (1718–1790), «der die Gefälligkeit für ihn hatte, aus den wenigen bey im vorräthigen Aufsätzen das erste Stück zu arrangiren».41 Das nahm Wehnert Bärensprung sehr übel. Auf die Vorhaltungen, er habe sich ja nicht um die Zeitschrift gekümmert, rechtfertigte sich Wehnert, das ihm Zugeschickte habe nicht getaugt:

«Die mehrsten Aufsätze waren von einem brausenden Jüngling – waren Schaale ohne Kern; und die wenigen andern brauchbarern von einem oder dem andern Verfasser, waren schon von diesem jungen Menschen mit einer leidigen Censur, – (wenn man anders das höchst unreife Urtheil eines unbärtigen Jünglings Censur nennen kann:) – gestempelt, mithin der Aufnahme und Erscheinung im Publikum nicht ganz würdig erklärt.»42

Abschiedsgruss von Georg Bärensprung, Zschokkes Schüler, der im Alter von 21 Jahren starb. Der Sinnspruch deutet auf eine gemeinsame Erinnerung; Zschokke verwendete «Staub» als Metapher für Vergänglichkeit häufig in seinen Gedichten.

Auch wenn Zschokke diese kränkende Einschätzung seiner Person, seiner publizistischen Leistung und seines Urteilsvermögens nicht oder erst später las, konnte er schon daraus entnehmen, wie geringschätzig Wehnert von ihm dachte, dass er kaum einen Beitrag von ihm aufnahm. Weil Wehnert sich die alleinige Entscheidung ausbedungen hatte, was erscheinen sollte und was nicht, war Zschokke ausgebootet, kaum hatte er die Zeitschrift lanciert und in die Wege geleitet. Den weiteren Verlauf konnte er nicht mehr beeinflussen.

Wehnert wird stets als eigentlicher Gründer und erster Redakteur, ja als «die leitende Seele des Ganzen»43 angegeben – das stimmt nicht. Angestossen und vorbereitet wurde die Zeitschrift von Zschokke und Bärensprung. Wehnert stiess später dazu, übernahm nach Anfangsschwierigkeiten für ein Jahr die Schriftleitung, vermochte die Vereinbarung, «für hinlänglichen Vorrath an Manuscripten zu sorgen», aber nicht zu erfüllen. Bärensprung musste mit eigenem Material und Beiträgen aushelfen, um die Zeitschrift jedes Monatsende im vorgesehenen Umfang herauszugeben. Er stützte sich weiterhin auf die «Schweriner Gesellschaft», die sich aber Wehnerts Rotstift nicht unterziehen wollte und wohl mit Recht befürchtete, ihre Aufsätze könnten seiner rigiden Haltung zum Opfer fallen. Dadurch bekam Wehnert eben doch nicht alle Beiträge zu Gesicht. Ein Grund für Koordinationsschwierigkeiten war bestimmt auch die räumliche Distanz zwischen Druckort und Redaktion.

Es ist nicht ganz einfach festzustellen, ob und welche Beiträge von Zschokke stammten. Carl Günther ist geneigt, ihm die «mit ‹– – z› gezeichneten, unreifen Rezensionen und ‹Briefe über die Aufklärung›» zuzuschreiben.44 Deren Autor war aber der Güstrower Lehrer Johann Christian Friedrich Dietz (1765–1834), der schon als 15-Jähriger «Aufsätze eines Jünglings» (Rostock 1780) und als 18-Jähriger «Vermischte Bemerkungen über die Sitten. Litteratur und Aufklärung Mecklenburgs» in Winkopps «Bibliothek für Denker und Männer von Geschmack» veröffentlicht hatte.45 1786 gab er in Güstrow die Zeitschrift «Mecklenburgisches Museum» auf eigene Kosten heraus, deren erstes Heft er unter das Motto stellte: «Jeder deutsche Mann, der seine Fesseln fühlt, rassele damit dem Bösewicht um’s Ohr, und zerschlage sie, wenn’s möglich ist, an seiner Stirne.» Die Widmung lautete: «Allen Deutschen, vorzüglich Mecklenburgern, welchen Aufklärung, Tugend und Glückseligkeit der Menschen am Herzen lieget, gewidmet.»46

Um Zschokkes Beiträge zu identifizieren, müssen Inhalt und Stil untersucht und Bezüge zur Magdeburger Zeit oder zu seinen späteren Publikationen hergestellt werden. Man darf auch sein Alter nicht ausser Acht lassen, jene jugendliche Unbekümmertheit und Frische, die seine frühen Arbeiten auszeichnen, die Denkart, den Erfahrungshintergrund, die Interessen und den soziokulturellen Kontext.